Inhaltsverzeichnis
Vorurteile zur Zeit der Wiedervereinigung
Nach dem Mauerfall 1989 trafen zwei gegensätzliche Systeme aufeinander. Es wurde nicht nur die Wirtschaft eines ganzen Landes in kürzester Zeit transformiert, sondern ebenso Sozialgefüge oder Lebenspläne verändert. Grundlegende Dinge wie Rollenbilder in der Gesellschaft oder Werte wurden entweder gänzlich abgeschafft oder durch andere Faktoren stark beeinflusst. Dies begünstigte bestimmte Vorbehalte gegenüber der unbekannten Sozialisierung und verursachte – zusammen mit einigen anderen Faktoren – eine Teilung der Gesellschaft, obwohl das Land augenscheinlich wieder geeint war.
Diese Arbeit gibt ein Überblick über das Zusammenspiel zwischen sozialen Prozessen und ökonomischem Gegenpart. Sie fokussiert dabei hauptsächlich die Zeit der Wiedervereinigung, auch wenn ein Blick in die Zukunft für ein Gesamtbild unvermeidbar ist.
Eben wie jene Rollenbilder und Vorurteile – und die deutsche Gesellschaft insgesamt – müsste sich dieser Überblick stets wandeln. Es wurde dennoch ein bestmöglicher Überblick über die aktuellen Wissensstände angestrebt.
Musikalischer Einstieg
Ein geeintes Land – ein geeintes Volk?
Von der Unter- und Überschichtung einer Gesellschaft
Das Gefühl der Euphorie bei ostdeutschen Bürgern nach dem Mauerfall war mehr als nachvollziehbar, bedenkt man die Freiheit, die sie praktisch über Nacht glaubten, erlangt zu haben. Oft spricht man von einer Aufbruchsstimmung, die auf politischer Ebene Gestalt in den Runden Tischen nach der Wende angenommen haben, um dem neuen politische Bewusstsein, welches sich zunächst eingestellt hat, Ausdruck zu verleihen. Anhaltend war jene Aufbruchsstimmung jedoch nicht, da viele Vorstellungen auf östlicher Seite nicht realistisch waren und Versprechungen auf westlicher Seite nicht eingehalten wurden. (Mau, 2019: 135-137)
Die Transformation wurde nach dem „ready-made-state“-Verfahren von Richard Rose vollzogen, welches eine 1:1 Übernahme des westdeutschen Systems für den östlichen Teil Deutschlands beschreibt und sich in verschiedene Stufen der Verwirklichung unterteilen lässt: Systemtransformation von Planwirtschaft zu Marktwirtschaft, die eine Privatisierung der Firmen auf neoliberaler Basis mit sich brachte und somit auch gleichzeitig eine große Zahl an Arbeitslosen. Ebenso entsprach der Wiederaufbau Ostdeutschlands zu einem kapitalistischen Staat einer Grunderneuerung in innerstruktureller Hinsicht, von Sanierungen wurde jedoch weitestgehend abgesehen. 1) Somit galt jenes Verfahren nicht nur als Freiheitsgewinn, sondern ebenso als Sicherheitsverlust. 2) All jene Aktionen begründeten damit, aufgrund ihrer zwar durchdachten aber nicht überdachten Ausführung, das Misstrauen gegenüber Staat und Autorität auf östlicher Seite, von dem in dieser Arbeit öfter die Rede sein wird. (Mau, 2019: 135ff.)
Mit der von Steffen Mau beschriebenen Über- und Unterschichtung 3), beginnt ein Prozess, der die wiedervereinte Gesellschaft intern spalten soll. Dabei ist nicht von Vorbehalten persönlicher Art oder emischen Sichtweisen die Rede, sondern auch eine empirische Sichtweise gemeint. Nach der Wende wurden westliche Botschafter in östliche Gebiete gesandt, um die verbleibenden Firmen in den höheren Positionen zu vertreten und nach dem Vorbild des kapitalistischen Wirtschaftsbilds zu formieren. Östliche Bürger*innen bekleideten meist niedrigere Positionen. 4) Generell bestand die Problematik der niedrigen Jobangebote für ehemalige DDR-Bürger*innen auf Grund ihrer Ausbildungen oder Erfahrungen, die im Westen als minderwertig eingeschätzt wurden. Bis heute gibt es nur wenige Repräsentant*innen aus Ostdeutschland in Führungspositionen in Politik und Wirtschaft, was zu einer chronischen Unterrepräsentation von Stimmen ostdeutscher Bürger*innen führt und eine „Klassifizierung“ (Schochow, 2013: 11-12) bedeutet.
Diese Art von Klassenunterschieden, die die Politik der Wende begleitet hat, hatte allerdings auch einen praktischen Grund. Werden Klassen auf diese bestimmte Art und Weise herausgebildet, so scheinen sie normal oder natürlich geformt. Die soziale Differenz, welche aus der „Wessifzierung“ hervorging, wird hierarchisiert. (Schochow, 2013: 12)
Hierbei muss man jedoch beachten, dass die soziale Umwelt immer ein Umfeld ist, das auf Interaktion und Wandel angewiesen ist. Veränderungen in der sozialen Umwelt, in Form von neuen Klassifizierungen innerhalb einer Gesellschaft, können zu neuen Lebensweisen führen oder aber zu einem neuen Selbstverständnis betroffener Personen, wer sie in dieser Gesellschaft sein sollten und wo sie sich befinden. Es entsteht ein neues Empfinden, das konkret als neue Norm verstanden werden kann. (Schochow, 2013: 9-10) Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass jene Beeinflussung auch andersherum wirken kann. Die Personen, die bestimmte neue Klassifizierungen betreffen und somit eine neue Stellung einnehmen, können ebenso Einfluss nehmen, wie die Klassifizierung selbst. (Hacking, 1995: 351-382)
Demnach ist es also wichtig, die Deutsch-Deutsche Vergangenheit dualistisch zu betrachten, um wirklich zu verstehen, was hinter so manchen Eigenarten der deutschen Gesellschaft steckt. 5)
Man darf nicht vergessen, dass die Wende dennoch von den meisten Bürgen als Erfolg angesehen wird. 6) Ebenso darf man nicht vergessen, wie man auch heute in bestimmten Themenbereichen merkt (siehe Interview Frage 6), dass eine andere Einstellung gegenüber der westlichen „Erhabenheit“ nicht nur zu einem vermutlich reibungsloseren Einigungsprozess geführt, sondern auch die Angleichungserwartungen aus dem Ostens auf einen rationaleren Platz gerückt. Das Land war geeint, was allerdings mehr geeint war als das Land, waren die zwei unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in sich, welche Wende, Enttäuschung und Vorurteile hervorgebracht haben.
„Ossi“, „Wessi“ oder deutsch?
Auch in der heutigen Zeit sind die Bezeichnungen „Ossi“ und „Wessi“ gängig. Wer früher im Osten gelebt hat, sieht sich auch heute noch zum größten Teil als Ostdeutscher, unabhängig davon, wo er im Laufe seines Lebens gewohnt hat oder in welchen Teilen Deutschlands er gearbeitet hat (siehe Anhang). Auch wenn diese Bezeichnungen heute eher nur als geografische Lagebeschreibung dienen und vermutlich ohne jeglichen Hintergedanken verwendet werden, so beinhalten die Beschreibungen der eigenen Person oder anderer mehr als nur die Lage des jeweiligen Wohnorts.
Wie die Unter- und Überschichtung einer Gesellschaft bereits skizziert hat, ist der Prozess der Vereinigung aus mehr als einer Perspektive zu verstehen. Fest steht aber, dass der Osten Deutschlands in kürzester Zeit einen Transformationsprozess durchlaufen hat, der viele Bürger in einer für sie fremden Welt zurückließ. Demnach könnte man eben auch beschreiben, dass die ostdeutsche Gesellschaft eine „kollektive Einwanderung“ (Mau: 2019, 133) vollzogen hat, ohne den geografischen Standort zu wechseln. (Mau, 2019: 133-135) Zudem bildet die Gruppe der Ostdeutschen eine Minderheit in Deutschland7). Ostdeutsche seien in diesem Sinne ebenso Migranten wie türkisch migrierte Personen/Muslime. (Schochow, 2013: 8) 8) Menschen aus Ostdeutschland haben somit einen Sonderstatus, der außerhalb der eigenen Nationalität gesehen werden kann, während der Westen die Norm repräsentiert.
Somit ist bei dem Begriff des „Ossis“ von einer gesamten Bevölkerungsgruppe die Rede, mit konkreten Eigenschaften und einer gemeinsame Prägung bezüglich wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Erfahrungen. Der „Wessi“ hingegen beschreibt ein Individuum mit individuellen Merkmalen. (Schochow, 2013: 9-10) Eine Teilung, die eine Reflektion der Attribute jener Sozialgesellschaft ist, in welcher die betreffende Person sozialisiert wurde.
Somit sind „Ossi“ und „Wessi“ ein gegensätzliches Paar von Synonymen. „Ossis“ als von der Norm abweichend, unabhängig davon, wo sie sich aufhalten und „Wessis“, die nur als solche identifiziert werden können, wenn sie sich außerhalb ihres Herkunftsortes befinden. (Schochow, 2013: 9) Damit gilt diese Bezeichnung vorwiegend im Osten. Im Umkehrschluss bedeutet es also, dass die deutsche Gesellschaft selbst eine Trennlinie gezogen hat, die aus einer unterschiedlichen Sozialisierung geboren wurde und durch eine unzureichende Aufarbeitung der Nachwendezeit genährt wird. Eine Unterscheidung zwischen Deutsch und Deutsch ist von einer Außenperspektive nicht zu erkennen, doch mit einer emischen Sichtweise auf Stichprobenbasis, sind auch immer noch Trennlinien zu vermerken (siehe Anhang).
Vorurteile Ost und West – die populärsten Annahmen
Menschen aus dem Osten sind faul und meckern immerzu. Menschen aus dem Westen lieben ihr Geld mehr als die Menschen und denken, sie wüssten alles besser.
Solche Art von Überzeugungen waren und sind auch immer noch keine untypischen Vorstellungen für einen ganzen Bevölkerungsteil. Doch wie kamen diese sehr spezifischen Annahmen zustande?
Der Osten wurde während der Wende sehr stark von dem westlichen Partner geführt. Sonst selbstverständliche Karrierewege waren nicht mehr gegeben. Die so hochgeschätzte Solidarität wurde zu Gunsten des leistungsorientierten Westkonzeptes zurückgestellt, frühere Arbeitsstellen wurden aufgelöst, was zu einer erhöhten Arbeitslosigkeit führte und Führungspositionen wurden von westlichen Abgesandten übernommen und die in der DDR so selbstverständliche soziale Sicherheit war von einen Tag auf den anderen nicht mehr gegeben. 10) Bis heute verdient der östliche Teil Deutschlands rund 14% weniger als der westliche. 11)
Auch aus heutiger Sicht ist noch verständlich, warum in einer solchen Situation der Eindruck einer Über- und Unterschichtung zweier unterschiedlicher Gesellschaftsklassen statt. Mehr noch ist es logisch, dass eine Gesellschaft, die keinen Konkurrenzkampf im ökonomischen oder sozialen Sektor kannte, eine Gesellschaft mit kapitalistischen Prinzipien als Ellenbogengesellschaft wahrnimmt. Auch das häufige Vorurteil der Arroganz ist daraus zu erklären, dass westlich sozialisierte Personen mehr Erfahrung mit diesen Prinzipien hatten.
Vorurteile „Besserwessis“
- Geldgier steht über Solidarität (Zwischenmenschlichkeit)
- überheblich/arrogant gegenüber allem, was anders ist als sie
- Oberflächlichkeit
Auch aus westlicher Sicht sind bestimmte Vorurteile logisch. Bei einem neuen Bevölkerungsanteil, welcher nur wenig Erfahrung mit Prinzipien und Praktiken hat, mit denen man selbst sehr gut vertraut ist, erscheinen oft bestimmte Verhaltensmuster naiv. Misstrauen und Undankbarkeit sind unmittelbar mit dem „Preis der Einheit“ (Mau, 2019: 135) verknüpft. Auf westlicher Seite ist es aber schwer, die Ursache des Misstrauens nicht als allgemeinen Wesenszug zu sehen, sondern vielmehr als eine Reaktion auf vorhergehende Erfahrungen bezüglich Autoritäten und Vorgehensweisen der Wiedervereinigung. Ebenso ist die Undankbarkeit ein Resultat aus fehlender Perspektive bestimmter Klagen bezüglich der Situation der Ostbevölkerung, da ja grundsätzlich eine erhebliche Verbesserung der Lebensqualität stattgefunden hat.
Vorurteile „Jammerossis“
- Undankbarkeit
- Misstrauen gegenüber allem Neuen
- Beschwerden/Jammern
- Leistungsschwäche/Arbeitsscheu
- Rechtsextremismus
- Naivität/Dummheit
Ein Grund für die Unterschiede, ausgehend von der allgemeinen Verbreitung bestimmter Vorurteile, können an dem immer noch nicht erfüllten Gerechtigkeitsgefühl von ehemaligem DDR-Bürger*innen liegen. Oftmals kann der Wunsch aufkommen, dass eben jene Bürger*innen als Hauptträger der Strapazen der Wiedervereinigung erkannt werden und auch jene Opfer und Umstellungen, die damit einhergingen. Sei es der bis heute anhaltende Gehaltsunterschied zwischen den neuen und alten Bundesländern oder ein bestimmtes Verhalten. Dies wirkt bis heute und in die gegenwärtige Generation, die eigentlich keine Berührungspunkte mehr mit der Nachwendezeit haben (siehe Anhang). Doch eben jener Unmut, der nun eher passiv unterstützt wird durch Ungleichheit im ökonomischen Bereich und der Infrastruktur, können dazu führen, dass eine Kollektivität der Sichtweise entsteht, die auf Erfahrungen der Nachwendegenerationen basiert.
Jene Vorurteile erwachsen also grundsätzlich nicht aus einer ursprünglichen Abneigung gegenüber der jeweils anderen Teilbevölkerung, sondern wurzeln zum Teil in der unterschiedlichen Sozialisation. (Mau,2019: 137)14) Bestimmte Verhaltensweisen und Gewohnheiten unterscheiden sich unwiderruflich. Der für den jeweiligen Betrachter ungewohnte Verhaltensweise wird mit Verständnislosigkeit begegnet, anstatt über eigene Gewohnheiten hinweg zu schauen und so die Essenz jener Verhaltensweisen zu verstehen. Bekräftigt durch Ausgrenzung in alltäglichen Situationen und mediale Überzeichnung der gegeben Sozialtypen, bildet sich eine „scheinbare Repräsentativität“ 15), welche beide Gruppen auf ein bestimmtes Schema und Verhaltensweise reduzieren. (Mau: 2019: 137)
Doch nicht nur die Sozialisierung hat ihren Teil zu einer groben Misskommunikation beigetragen. Ein Großteil ist im Prozess und Umgang mit der Wiedervereinigung selbst entstanden. Mit der Eingliederung des Ostens in einen westlichen kapitalistischen Staat kamen nicht nur ökonomischer Wohlstand und die Sanierung der Infrastruktur. Mit der Bezeichnung „Preis der Einheit“ (Mau, 2019: 135) lässt sich ein Phänomen zusammenfassen, welches die Vorgehensweise jener Wiedervereinigung beschreibt, die für den Osten nur wenig Raum ließ, sich in diesem Vorgang selbst zu Verwalten oder eine Fusion von Vorteilen beider Teile Deutschlands zu nutzen (bis auf den grünen Rechtsabbiegerpfeil). Diese Art von „Kopiervorgang“ (Mau, 2019: 134) führte später dazu, dass Vorwürfe laut wurden, dass eine komplette Teilgesellschaft überhört und unterbuttert wurde. (Mau,2019: 135-137) Unabhängig davon, dass jenes Vorgehen und die Art der Wiedervereinigung mehrmals durch Wahlen bestätigt wurden.16) Es ist ein Geflecht aus enttäuschten Hoffnungen der Bürger des Ostens über das Wunderland des Westens und seine Möglichkeiten. Dazu das neu erwachte Misstrauen gegenüber Institutionen und Funktionseliten, da einige paternale Vorgehensweisen nur zu sehr an den früheren vormundschaftlichen Staat erinnerten (Mau, 2019: 135) sowie die erschwerten Bedingungen zur ökonomischen Behauptung. Auf der anderen Seite der fehlende Einblick in bestimmte Verhaltensweisen und die daraus resultierende Annahme, dass es an Bereitschaft zur Umstellung mangelt und Undankbarkeit herrscht. (Mau, 2019: 136-137)
Erzählungen aus dem Osten
G ist 1966 geboren und im Osten Deutschlands innerhalb einer gläubigen Familie aufgewachsen. Der sozialistische Staat, stand kirchlichen Einrichtungen kritisch gegenüber, weswegen einige Erinnerungen von dieser Andersheit in einem sonst so auf Einheit bedachten Staat geprägt sind. Nach der Wende hat sich G mit Partner und Kind wie so viele auf in den Westen gemacht, in der Hoffnung nach neuen Möglichkeiten. Heute lebt G bereits seit über 20 Jahren wieder im Osten Deutschlands.
Um meine Arbeit zu unterstützen, habe ich G um persönliche Eindrücke bezüglich der Schwerpunkte Vorurteile und Rollenbilder gebeten, die wir in Form eines Interviews festgehalten haben.
Eine solche Herangehensweise ist eine andere und wichtige ergänzende Sicht zu wissenschaftlichen Studien, in denen persönliche Erfahrungen häufig nicht vorkommen. Somit bietet dieses Kapitel eine andere und persönlichere Sicht auf die zuvor wissenschaftlich erarbeiteten Themenbereiche und Diskurse.
1 Welche Rollenbilder haben deine Kindheit geprägt?
Hauptsächlich war es mein Vater oder mehr seine Arbeit als Pfarrer, der unseren Tagesablauf geprägt hat und eben auch den Hauptanteil des Geldes verdient hat. Dann meine Mutter die primär Haushalt, Kindergarten, Kindererziehung gemacht hat und eben stundenweise dann auch Zuverdienst hatte. Wenn ich an meinen Vater denke, dann eben neben dem, dass seine Arbeit hier bei uns im Haus auch nebenbei ablief […] war er auch für uns als der Planer, der Urlaube geplant hat der Freizeitaktivitäten geplant hat, so ein bisschen Unterhalter war. Ich kann mich erinnern wie gern er für uns Kasperletheater gespielt hat oder er uns eben auch bei schulischen Dingen unterstützt hat. […] und meine Mutter eben wirklich Erziehung ganz viel also von daher eher klassischen Rollen.
2 Vorurteile Lebensstil Ost aber nicht Ost genug. Wie geht das?
Vorurteile gegen unseren Lebensstil, klar gab es die. Zum einen, dass wir natürlich mit der Kirche nicht in das DDR System so wirklich gepasst haben und auch so nicht gewünscht waren. Zum anderen, dass wir was Erziehung usw. betraf, vielleicht unsere andere Richtung hatten. Das ging so weit, dass meine Eltern praktisch von der Bürgermeisterin angesprochen worden sind, zu dem Thema Erziehung und wir möchten doch unsere Kinder in die Pioniere schicken, sie würden sonst Außenseiter werden und würden keine Freunde haben. Und in dem Dorf in dem ich groß geworden bin, war es sogar so schlimm, dass Lehrer gekommen sind und haben zu Freunden unserer Kinder gesagt: „seht zu dass ihr nicht mit den Pastoren Kindern spielt sonst habt ihr Nachteile in der Berufswahl.“ Also wie gesagt, von daher waren wir dann schon nicht so die klassischen DDR Bürger und auch nicht die klassische DDR Familie bis dahin, dass wir nicht bei den Pionieren, nicht in der FDJ waren, dass wir Kinder nicht groß in die Krippe oder Kindergarten geschickt haben, sondern wirklich viel auch bis zur Schule zu Hause. […] Normalerweise waren die Kinder doch recht früh in der Krippe und dann eher Kindergarten. Möglich war sogar schon die Kinder ab 8 Wochen nach der Entbindung in eine Krippe zu geben. es gab Frauen, die das durchaus gemacht haben. Bei uns hat man die Kinder eben nicht in die Krippe gegeben und nicht mal so richtig in den Kindergarten. Das stinkt dem Staat da es eben gewünscht war, Kinder so früh wie möglich in eine staatliche Einrichtung zu geben. Zum einen damit die Mütter wieder arbeiten gehen können und zum anderen vermutlich, um so früh wie möglich die Kinder nach gewünschten Regeln zu sozialisieren, aber da waren wir eben anders und dafür mussten wir eben mit Vorurteilen rechnen.
3 Aber eure Sozialisierung war doch DDR, richtig?
Ja auf Jedenfall. Also ich habe festgestellt, dass es den klassischen DDR Bürger nicht gibt. Es ist eher, dass man sich einer Gruppe zugehörig gefühlt hat oder einem Ort. Man hat eher die Unterschiede gemacht bei der ländlichen Bevölkerung, ob du nun auf dem Dorf warst in Mecklenburg-Vorpommern oder ob du dann in Berlin in der Stadt gelebt hast ob im Neubau wohnst oder ein eigenes kleines Häuschen, das spielt eine Rolle oder ob du in Thüringen mit viel Industrie warst oder ob du in Mecklenburg-Vorpommern gelebt hast mit viel LPg. Und da gibt es natürlich auch Menschen, mit denen man sich da auch wieder verglichen hat und auch dort war so wie wir gelebt haben, schon eher die Regel. Es gab auch Familien, wo die Frauen Vollzeit gearbeitet haben und die Kinder bei den Pionieren waren, aber es war eher unüblich. Aber alles andere an sozialistischer Prägung ist eben auch nicht an uns vorbei gegangen.
4 War Gesellschaftlicher Zusammenhalt vor und nach der Wende zu vergleichen?
Ja, der hat sich schon verändert. Vor der Wende waren wir eher wie so eine Art Notgemeinschaft. Da war es wichtig, dass man jemanden kannte der helfen konnte bei wichtigen Dingen, wie einen Maurer oder einen Elektriker. Kurzgesagt war es wichtig Beziehungen zu solchen Menschen und generell Beziehungen zu haben […] doch auch generell mit dem Mangel, den wir hatten, musste man sehr kreativ sein, so dass man die grundlegenden Dinge wie Kleidung, Gemüse etc. einfach getauscht hat. Es war eine gelebte Gemeinschaft. Das beste Beispiel dafür ist zum Beispiel die Subbotnik. Da hat der ganze Aufgang im Neubau oder der Block den Aufgang sauber gemacht und da gab es richtig Vorgaben, dass man dieses oder jenes machen muss und so war es dann auch auf der Arbeit. Wenn man ein gutes Kollektiv hatte, dann konnte es sein, dass wenn in dem Kollektiv eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind war und man ihr die Probleme ansah, weil zum Beispiel das Kind ständig krank war, dann hat sich das ganze Arbeitskollektiv darüber beraten: wie kann man der Frau helfen? Sie haben dafür ihre eigenen Beziehungen angezapft um zu gucken wie man der betroffenen Person helfen kann. Also das ging tief ins persönliche Leben hinein. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. […] Man war sich allerdings auch immer dessen bewusst, dass in diesem sehr engen Kollektiv immer einer sein konnte der bei „horch und guck“, also im Ministerium für Inneres tätig war, was politische Äußerungen und vor allem bei unserem Fall jegliche Äußerungen schwierig gemacht haben und auch die Gemeinschaft immer mit etwas mistrauen durchzogen hat. Abgesehen davon, waren bestimmte Gemeinschaftsausübungen in der Arbeit oder ähnliches eine Verordnung. Das heißt dieses Gemeinschaftswesen war auch etwas geplantes und nichts, was nebenbei lief. […] und nach der Wende war es wirklich so dieser sehr rasante Zerfall dieser Lebensart der nachwirkte. Jetzt konnte man individuelle Lebenswege gehen was man vorher nicht hatte. Plötzlich konntest man reisen, man konnte plötzlich einen Arbeitsplatz suchen wo man wollte, also war dieses Korsett aber eben auch gleichzeitig diese enge Art der Gemeinschaft verschwunden.
5 Das heißt, du vermisst diese Art des Zusammenhalts?
Ja, ich weiß wir haben es alle zuerst sehr vermisst, vor allem im Bereich der Kirche war es sehr stark zu merken. Es wurde oft eine Mauer gebildet zwischen zum Beispiel Katecheten und Pfarrern. das lag einfach daran, dass viele Sektoren nun klar getrennt waren und jeder nun seine eigene Suppe gebraut hat und das war auch so gewünscht. Vor allem im Bereich der Arbeit hat man es gemerkt, da in der DDR oft die Leute, die zusammengearbeitet haben auch befreundet waren. Das war nach der Wende nicht mehr zwingend der Fall. Man konnte jetzt zur Arbeit gehen und außerhalb nichts mehr miteinander zu tun haben. Also wenn ich es beurteilen würde, dann war auch vor allem Freundschaften schließen nach der Wende um einiges schwieriger.
6 Hattet ihr das Gefühl, ihr wurdet zu Bürgern 2. Klasse?
Nein, so drastisch würde ich das jetzt nicht sagen. Wenn man auf den Gehaltsunterschied guckt dann natürlich, ja wäre es schön, wenn wir mehr verdienen würden aber das würde glaube ich jeder sagen. Ich denke der Unterschied liegt darin, dass wenn man bei uns im Osten auf die Lebenserhaltungskosten schaut, das nochmals ein großer Unterschied ist wenn man zu Städten in den Westen schaut, weswegen sich der Gehaltssatz und die Lebenserhaltungskosten vermutlich auf wiegen würden, an dem was an Unterschied besteht. Ich glaube da wo wir wirklich verloren haben, ist der Punkt, dass einige Einrichtungen und Systeme so schnell und leichtfertig zerschlagen wurden und der Aufbauprozess eher von Ökonomen erledigt wurde, anstatt von Leuten die hinter die Kulissen geschaut haben und verstehen was vor Ort bereits vorhanden war. Eines der besten Beispiele dafür, sind zum Beispiel die Polikliniken, die wir schon immer in der DDR hatten und jetzt erst wieder neu aufgewickelt werden, nachdem die Aufbauhelfer diese Konzepte mit der Weststruktur übergangen haben.
Diese Aufbruchstimmung, die alle am Anfang hatten, hat eben in der Mitte der 90er Jahre stark nachgelassen und sich eher in eine Depression gewandelt. Das hing damit zusammen, dass viele Versprechungen die gemacht wurden, nicht eingehalten wurden, viel an Industrie kaputt ging und das eben zu einer Frustration in der Gesellschaft geführt hat. Der Westen hat uns einfach vieles übergestülpt und da waren natürlich viele Leute einfach enttäuscht und demotiviert was den Wiederaufbau anging.
7 Was hat sich für dich als Frau nach der Wende verändert?
Das Erste, was sich für mich geändert hat nach der Wende war, dass mein Arbeitsplatz abgewickelt wurde. Das heißt alle Leute, die in meiner Klinik gearbeitet haben, haben sich im Land verstreut, weil der Platz geschlossen wurde. Das heißt viele hat man nie wieder gesehen, manche sind komplett in der Versenkung verschwunden weil sie einfach arbeitslos waren und auch blieben. wir hatten das Glück sehr jung zu sein, weswegen wir wie viele andere auch, dann später in die alten Bundesländer gegangen sind aber eben auch nur für die Arbeit. Des weiteren, wo ich mich auch wirklich als egalitär Ost definieren würde, ist eben, dass ich immer den Wunsch hatte zu arbeiten. also man geht zur Schule, man beendet seine Ausbildung und geht eben arbeiten und das war wirklich grundlegend anders als wir in den neuen Bundesländern gelebt haben. Ich kann mich noch erinnern, als ich mit meinem Sohn in der Krabbelgruppe war und die Frauen dort mich als Erstes gefragt haben, was wir für ein Auto wir fahren, was mein Mann arbeitet und sie dann erzählt haben was sie studiert haben aber nie irgendwann gearbeitet haben, sondern dann sich um Haus, Kinder, Kindererziehung gekümmert haben und das waren eben ganz viele Gesprächsthemen die sich um Dinge wie: wo finde ich günstig irgendwelche tollen Marken, wo kann man als nächstes günstig in den Urlaub. Also die haben über ganz andere Dinge gesprochen, als das was für mich interessant war und auch fast etwas oberflächlich. Eben deswegen, war es für mich in den neuen Bundesländern auch schwierig einen Arbeitsplatz zu bekommen. Hauptsächlich aus dem Grund, dass die Kinderbetreuung nicht auf Vollzeit arbeitende Mütter ausgelegt waren und ich nur arbeiten gehen konnte, weil wir eine nette Untermieterin hatten, die sich um meinen Sohn gekümmert hat, während ich arbeiten war. Mit diesem Willen arbeiten zu gehen und trotzdem mit Kind, war ich glaube ich etwas Besonderes.
8 In welches Geschlechter-Rollenbild würdest du dich einordnen?/ Gibt es geschlechterspezifische Stereotype, die du mit Familie/ als Paar erfüllt hast
Also ich glaube schon, so wie es zum Anfang gesagt hab, ich glaub ich bin schon in einer gewissen Weise eine klassische Frauengeschlechterrolle. zum einen, weil ich nur wenig Vollzeit gearbeitet habe sondern wirklich auch Teilzeit zu Gunsten meiner Kindererziehung und Familie und ich hatte praktisch immer einen Partner, also ein Mann der genug Geld verdient hat, dass ich das so machen konnte. Das hab ich eigentlich selber eher als Privileg empfunden, dass ich nicht voll arbeiten musste. […] dennoch eben dieser klassische DDR-Frau touch, dass ich trotzdem arbeiten gehen wollte, unabhängig sein wollte, der ist dominant.
Ansonsten war bezüglich der Kindererziehung, auch eher ich stark beteiligt. Das lag aber eben wie gesagt hauptsächlich an dem Beruf meines Partners. Trotzdem was etwas ungewöhnlicher war, ist das am Wochenende, wenn Zeit war mein Mann sehr viel von der Kinderbetreuung übernommen hat. Das Baden, das Kochen usw. Das war vielleicht für diese Zeit etwas ungewöhnlicher. Ansonsten doch sehr traditionell geprägt.
9 Wurdest du mit Vorurteilen konfrontiert?
Ja. Also es gab einmal eine Situation, da sind wir mit dem Chor nach Frankreich gefahren und wir sind bei einer Familie untergekommen die ganz freundlich waren und super zugewandt, bis sie erfahren haben, dass wir aus dem Osten kommen und da fiel sowas von blitzartig die Jalousie. Der Mann der Franzose war, der hat als Monteur zum Teil in den Ostdeutschen also auch in der DDR gearbeitet und hatte ganz schlechte Erfahrungen gemacht und fand das ganz schlimm, wie die Ossis dort wirtschaften, die Einstellungen die Leute bei der Arbeit haben. Die restliche Zeit dort zu wohnen war unangenehm. Der hatte wirklich definitiv ganz schlechte Erfahrungen und auch Vorurteile gegen ostdeutsche Leute und das haben wir ziemlich unangenehm dort auch mal so erfahren. Wo wir auch immer wieder erfahren haben, dass wir eben Ostdeutsche sind das war, wenn wir ganz normal auch schon selbst zu DDR-Zeiten in den Urlaub gefahren sind. Einfach weil wir kein Westgeld hatten, sondern nur unser weniges Geld die D-Mark. Demnach, wenn wir in den Urlaub gefahren sind, nach Ungarn oder in die CSSR oder sowas oder Polen da sind wir wie Menschen zweiter Klasse behandelt worden und das haben wir auch sehr sehr stark zu spüren bekommen, dass wir Ossis sind und keine Westdeutschen. Doch ich denke, auf beiden deutschen Seiten haben auf der einen wie der anderen Seite Vorurteile geherrscht, das war nie einseitig.
10 Welche Rolle spielt die Herkunft als Ossi für dich heute noch und identifizierst du dich selbst als Ossi?
Also grundsätzlich dadurch, dass ich noch nie in diese Ossi Rolle so stark gedrängt worden bin, fühle ich mich eigentlich nicht als Ossi, also kann ich jetzt eigentlich so nicht sagen. ich merke schon auch ein bisschen, dass ich anders ticke als Frauen die aus dem Westen kommen, das glaube ich schon. Insbesondere wenn ich mir meine Arbeitsmoral anschaue. Es ist ganz lustig, dass wenn man heute noch zum Beispiel in Krankenhäusern ist, sich Frauen aus dem Osten erkennen, egal ob von der Sprache her oder der Arbeitsmoral her. Die Art wie Dinge angegangen werden. Man erkennt sich einfach immer noch. Ich glaube auch viel hängt damit zusammen, wenn wir jetzt bei dem Beispiel Krankenschwester bleiben, dass man in der DDR um Krankenschwester zu werden, einen Durchschnitt von mindestens 1,5 brauchte. In den alten Bundesländern, lag der Durchschnitt bei 3,0. Ich glaube das merkt man heute immer noch, dass Personen aus dem Osten die eine Ausbildung gemacht haben, einen anderen Background haben als Personen aus dem Westen die eine Ausbildung gemacht haben. Ganz einfach, weil bei uns erstens, ein Studium nicht möglich war und einer Ausbildung gleichzeitig mehr Wert war als im Westen. Also denke ich, dass die Herkunft im Alltag nicht mehr groß eine Rolle spielt oder spielen sollte, allerdings, ist sie in manchen Teilbereichen immer noch unterschwellig präsent und das nicht immer im negativen Sinne. Trotzdem kann ich immer noch sagen, dass ich mich nicht als Ost Frau sehe. Ich sehe mich als Deutsch und nicht als Ost.
Literatur
Ahbe, Thomas. (2004): Die Konstruktion der Ostdeutschen. Diskursive Spannungen, Stereotype
und Identitäten seit 1989. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) B41-42/2004:
12-22.
Hacking, Ian. (1995b): The Looping Effect of Human Kinds. In: Sperber, D. et al. [Hrsg]
Causal Cognition: An Interdisciplinary Debate. Oxford: Oxford University Press:
351-383.
Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der Ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Bonn: Suhrkamp Verlag.
Schochow, Maximilian (Hrsg.) (2013): Der “Ossi”. Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer. Wiesbaden: Springer VS.