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Inhaltsverzeichnis
Sarah Schnitzler | 4735193
Wie positionieren sich Ärzt_innen in der medialen Öffentlichkeit zu Schwangerschaftsabbrüchen, im Bezug auf ihre individuelle Praxis?
Forschungsvorhaben
Im Jahr 2017 wurde die Ärztin Kristina Hänel anhand des §219a zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt1), da sie auf ihrer Internetpräsenz verschiedene Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs aufzeigte. In Folge einer breiten medialen Berichterstattung und zahlreichen Solidaritätskampagnen2), ist die Debatte um Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland, nach 1974 3) wieder stärker auf die politische Tagesordnung und in die gesellschaftliche Auseinandersetzung gerückt. Gleichzeitig wurden auch die Möglichkeiten und Schwierigkeiten der aktuellen Gesetzgebung diskutiert. In der BRD sind Ärzt_innen4) nicht zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen verpflichtet. Vielmehr unterliegt es ihrer individuellen, bzw. der Entscheidung ihres Arbeitgebers, ob Abbrüche vorgenommen werden. Diese Entscheidungen sind abhängig von verschiedenen sozialen, rechtlichen und ökonomischen Faktoren. Von 392.400 Ärzt_innen5) in der BRD führen ca. 1.2006) bundesweit Schwangerschaftsabbrüche durch.
Anhand öffentlicher Interviews zum Thema Schwangerschaftsabbruch, sowie zum §218 und §219a sollen die verschiedenen Positionen von Ärzt_innen zur Thematik analysiert werden. Dabei werden sowohl Schwangerschaftsabbruch durchführende, als auch diejenigen Ärzt_innen in den Fokus genommen, welche sich gegen die Durchführung des Eingriffs entscheiden. Ins Zentrum gerückt werden sollen die verschiedenen Faktoren, die die jeweilige Entscheidung der praktizierenden Ärzt_innen beeinflussen und welche öffentliche Argumentation der individuellen Entscheidung zugrunde liegt. Das verwendete Datenmaterial besteht aus Onlineveröffentlichungen von verschiedenen Zeitschriften. Wichtiges Kriterium ist die direkte Zitation, um einer interpretierten Veränderung des Inhalts vorzubeugen.
Die zentrale Frage der Untersuchung lautet demnach: Welche Positionen zum Schwangerschaftsabbruch vertreten Ärzt_innen in der medialen Öffentlichkeit, im Bezug auf ihre individuelle Praxis?
Diskurs-Maps nach Adele Clarke
Zur Übersicht aller am speziellen Diskurs beteiligten Akteur_innen und Aktanten schlägt Adele Clark vor, verschiedene Formen von Maps anzufertigen. Die Maps Sozialer Welten dient im Hintergrund dieser Arbeit dazu, die Einflüsse und Beziehungen der Beteiligten, sowie deren jeweiligen Überschneidungen aufzuzeigen7).
Geordnete Map Sozialer Welten
- Krankenhäuser: Durchführende Ärzt_innen, Nicht Durchführende Ärzt_innen, Staatliche Krankenhäuser, Kirchliche Krankenhäuser, Krankenhauspersonal, Krankenhausverwaltung, Gynäkologie, Chirurgie
- Privatpraxen: Durchführende Ärzt_innen, Nicht Durchführende Ärzt_innen
- Ausbildung: Ausbildende Ärzt_innen, Universitäten, Praktische Ausbildungen, Papaya-Workshop
- Gesamtgesellschaft: Abtreibungsgegner_innen, Abtreibungsbefürworter_innen, Öffentlicher Diskurs, Moral
- Medien: Zeitschriften, Fernsehen, Internet
- Bürokratie: Krankenkassen, Beratungsstellen, Gesetze, Gerichte, Regierung
- Studierendenverbände: Kritische Mediziner_innen, Medical Students for Choice
- Ärzt_innenverbände: Bundesärztekammer, Landesärztekammern der Länder, Marburger Bund, Kritische Mediziner_innen, Medical Students for Choice, Demokratischer Verein Ärztinnen und Ärzte, Ärzte für das Leben e.V.
- Soziales Umfeld: Familie, Freund_innen, Kolleg_innen
Geordnete Situationsmap
Die Situationsmap geht über die Map Sozialer Welten hinaus und soll hier alle relevanten beteiligten Akteur_innen, sowie darüber hinaus gehenden Faktoren sammeln und eine Übersicht über den Diskurs schaffen. Hierbei können dann Beziehungsnetzwerke und theoretische Erkenntnisse zwischen den einzelnen Posten verknüpft werden, um die Zusammenhänge der Faktoren im Diskurs besser nachvollziehen zu können 8).
- Individuelle menschliche Akteure: Öffentlich positionierende Ärzt_innen (Durchführend, Nicht Durchführend), Ärzt_innen im Ausland
- Kollektive menschliche Akteure: Studierendenverbände (Kritische Mediziner_inne, Medical Students for Choice), Kirche, Krankenhausverwaltungen (staatlich, kirchlich), Beratungsstellen (Pro Familia), Landesärztekammern, Abtreibungsgegner_innen, Abtreibungsbefürworter_innen, Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, Soziales Umfeld (Familie, Freund_innen)
- Nichtmenschliche Elemente/Akteure: § 218, § 219a StGb, §12 SchKG, Moralische Normen, Informationen, Gynäkologische Facharztausbildung, Internet, Audio(-visuelle)-/Printmedien, Websites von Abtreibungsgegner_innen, Geldstrafen, Abtreibungspille Mifegyne, Verhütungsmethoden für den Mann, Ultraschall, Gründe für Schwangerschaftsabbruch, Papaya-Workshop, Keine offiziellen Listen über durchführende Ärzt_innen
- Stumme Akteure: Schwangere, Ärzt_innen (beinahe alle Interviews anonymisiert), Erzeuger
- (Historische) politische Elemente: Monarchie, Faschistische Gesetzgebung 1933, Familienpolitik, Frauenbewegung 68er, Feminismus
- Ökonomische Elemente: Anfahrtswege/-kosten für Schwangere, Generationenvertrag, Familienpolitik, Neutralität in Beratung
- Diskursive Konstruktion individueller/kollektiver Akteure: Hartz 4 Empfänger_innen, Frauen, junge Frauen, Kinder
- Diskursive Konstruktionen nicht-menschlicher Aktanten: Pille Danach, Werbung
- Sozio-kulturelle/symbolische Elemente: Aufklärung, Werdendes Leben, Gleichberechtigung, Massenmord, Lebensschutz, Trauma, Mutterrolle, weiblicher Körper, Embryo, Hilfe
- Strafrechtliche Elemente: Tötung, Mord, Werbung
- Zeitliche Elemente: Fall Hänel, 2017 / 2018, 1933
- Verwandte Diskurse: Pränataldiagnostik, Sterbehilfe, Sexuelle / Körperliche Selbstbestimmung
- Hauptthemen/Debatten: Moralische Vereinbarkeit / Gewissenskonflikte, Selbstbestimmungsrecht / Recht der Frau, Lebensschutz, Frauen helfen, Bedrohung durch Abtreibungsgegner_innen,Rechtliche Situation (Illegalisierung, Straffreiheit), Mangelnde praktische und theoretische Ausbildung
Erstellung Datenkorpus
Materialsuche
Bei der Erstellung eines Datenkorpus‘ und der konkreten Selektion des Materials habe ich mich an den Leitfragen Reiner Kellers 9)orientiert. Sowohl aus pragmatischen Gründen, als auch aufgrund der starken Veränderung der Mediennutzung habe ich mich anstatt für Print- bzw. Offlinemedien, für die Analyse von Onlinemedien entschieden. Die Suche der Artikel erfolgte über die google Suchmaschine. Schlagwörter waren unteranderem Arzt, Ärztin, Schwangerschaftsabbruch, Abtreibung, Paragraph 218, Paragraph 219a. Folgend wurden zudem über die Suchfunktionen der einzelnen Onlinezeitungen, in denen zuvor schon Veröffentlichungen gefunden wurden, sowie darüber hinaus bei Onlinezeitungen mit sehr hoher Reichweite, gesucht. Selektiert wurde in erster Instanz nach der wörtlichen Zitation, da die konkrete Wortwahl der Ärzt_innen zur individuellen Argumentation und die Analyse innerhalb des gesamten Artikelkontextes eine wichtige Rolle spielt. Anschließend wurden aus dem vorhandenen Material vier Artikel nach den Kriterien, der Kontrastierung in den Positionen der Ärzt_innen, des ausführlichen Narrativs in Form eines Artikels oder Interviews, sowie die zeitliche Beschränkung auf das Jahr 2018, in dem die Kompetenzen von Ärzt_innen im Themenkomplex des Schwangerschaftsabbruchs öffentlich stark diskutiert wurde, selektiert.
Fallbeschreibungen
Übersicht gesamte Artikel
Um einen Gesamteindruck zu erhalten wurden alle Artikel auf kontrastierende Variable durchsucht. Für die Forschungsfrage ausschlaggebend ist dabei, ob die sich äußernden Expert_innen selbst Schwangerschaftsabbrüche durchführen, oder sich dagegen entschieden haben, welche Position sie zu Schwangerschaftsabbrüchen auf gesellschaftlicher bzw. politischer Ebene vertreten und ob die veröffentlichten Interviews anonymisiert wurden. Interessanterweise hat sich auf dieser Ebene keine meiner vorherigen Annahmen bestätigt, da die Mehrzahl der sich äußernden Ärzt_innen sowohl Schwangerschaftsabbrüche durchführt, als auch unter Verwendung des Klarnamens auftritt. Zudem positionieren sich alle Expert_innen in den 15 Artikeln diverser Onlinemedien für das grundlegende Recht auf „Selbstbestimmung der Frau“ über ihren Körper, unabhängig davon wie und anhand welcher Argumentation die individuelle Entscheidung Schwangerschaftsabbrüche auszuführen getroffen wurde.
Anzahl Artikel | Anzahl Expert_innen | Durchführend | Nicht-Durchführend | Anonymisiert | Nicht-Anonymisiert | Pro Choice |
---|---|---|---|---|---|---|
15 | 15 | 12 | 3 | 5 | 10 | 15 |
Übersicht Artikel für Analyse
Die ausgewählten Artikel wurden anschließend in einem ersten Schritt inhaltlich aufbereitet. Nach mehrmaligem Lesen der Artikel wurden die inhaltlichen Kernpunkte zu einer fallbeschreibenden Übersicht zusammengefasst, damit festgestellt werden konnte, ob das Datenmaterial für die weitergehende Analyse ausreichend ist. Die Artikel anhand derer die verschiedenen Positionen von Ärzt_innen zum Schwangerschaftsabbruch erarbeitet wurden, sind im folgenden abgebildet.
Artikel 1
Formalia | Variable |
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Titel: „Inakzeptabel, dass Frauen sterben“ Veröffentlichung: 06.03. 2017 Autor_in: Bullwinkel, Ina Onlinemedium: taz.de | Pro Schwangerschaftsabbruch Durchführend: ja Anonymisiert: nein |
Artikel 2
Formalia | Variable |
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Titel: Hier erzählen zwei Frauenärztinnen von ihrer ersten Abtreibung Veröffentlichung: 29.12.2018 Autor_in: Hallet, Leonie Onlinemedium: Bento | Pro Schwangerschaftsabbruch Durchführend / Nicht-Durchführend Anonymisiert: ja |
Artikel 3
Formalia | Variable |
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Titel: Ich kann das nicht Veröffentlichung: 26.02.2018 Autor_in: Jacobs, Luisa Onlinemedium: Zeit Online | Pro Schwangerschaftsabbruch Durchführend (medikamentös) Anonymisiert: ja |
Artikel 4
Formalia | Variable |
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Titel: Wieso entscheiden sich Frauen für eine Abtreibung? Veröffentlichung: 25.02.2018 Autor_in: Rinas, Jutta Onlinemedium: Göttinger Tageblatt | Pro Schwangerschaftsabbruch Nicht-Durchführend Anonymisiert: ja |
Analyse und Auswertung
Im ersten Schritt wurden anhand des Datenmaterials verschiedene induktive Codes erstellt, die dann in interpretativer Vorgehensweise zu Subkategorien subsumiert wurden. Gleichzeitig fand eine Zuordnung zu übergeordneten Kategorien statt, die für die nähere Analyse der Positionen von Ärzt_innen relevant sind. Dieses Vorgehen habe ich aus der Methode der Grounded Theory adaptiert. Auch Keller schlägt vor, die strukturierte Analyse von Daten anhand dieser Methode vorzunehmen und für die tiefergehende Analyse von Deutungszusammenhängen aufzubereiten 10).
Sprecher_innenpositionen der sich äußernden Ärzt_innen
Ärzt_innen befinden sich gesellschaftlich in einer der höchst anerkanntesten beruflichen Milieus und können deshalb als wichtige Akteur_innen innerhalb eines Diskurses betrachtet werden. Diese Berufsgruppe genießt außerdem ein hohes Vertrauen im Bezug auf eine gesundheitliche und körperorientierte Expertise. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Positionen der Sprecher_innen einen relativ hohen Einfluss auf den Verlauf des Gesamtdiskurses haben. Die Sprecher_innen der ausgewählten Artikel, sind Ärzt_innen verschiedenen Geschlechts, Alters und in diversen Anstellungsverhältnissen. Das bedeutet, dass einige von Ihnen als Angestellte in Kliniken, andere wiederum selbstständig in gynäkologischen Praxen arbeiten. Ihre Tätigkeiten als Mediziner_innen implizieren, dass sie einen hohen Bildungsgrad und somit auch privilegierten Zugang zu öffentlichen Diskursen genießen. Die Ärzt_innen sind in ihren Handlungen einerseits an rechtliche und innerdisziplinäre Normen, wie den "Hippokratischen Eid" gebunden und gleichzeitig ökonomisch von ihrer öffentlichen Positionierung in ethischen Fragen abhängig. Im Bezug auf die Frage nach der Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen wird deutlich, dass sie in ihrer Position sowohl für sich und ihre Kolleg_innen im Allgemeinen, als auch für Schwangere, die einen Abbruch potentiell vornehmen lassen, sprechen.
Einordnung der inhaltichen Positionen und Argumente zur Durchführung oder Verweigerung von Schwangerschaftsabbrüchen
Aus dem ausgewerteten Datenmaterial wird deutlich, dass der wirkmächtigste Faktor zur Beeinflussung der persönlichen Beweggründe für oder gegen die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen, die moralische Normierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist. Diejenigen, die sich aktiv für die Durchführung entschieden haben argumentieren insbesondere mit der Verwirklichung der körperlichen Selbstbestimmung von Frauen, was als essentieller politischer und praktischer Beitrag zur Gesellschaft verstanden wird. Zudem wird moralisch im Bezug an die „Aufgaben als Gynäkolog_in“ an die Kolleg_innen apelliert, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen.
Darüber hinaus gibt es unter den Interviewten Ärzt_innen zudem Sprecher_innen, die sich nicht aktiv für die Durchführung entschieden haben, sondern durch ihren Arbeitsalltag in der Chirurgie und oder Gynäkologie, durch ihren Arbeitgeber „gezwungen“11) waren. Die Darstellungen dieser Tatsache, liest sich entweder sehr nüchtern und sachlich, oder als starke Rechtfertigung mit Hinweis auf die Konsequenz den Arbeitgeber zu wechseln. Das lässt sich dahingehend interpretieren, dass die moralische Argumentation insbesondere nach außen gerichtet ist, um die aktive Entscheidung, unabhängig ihres Ausgangs, nach außen zu rechtfertigen.
Die Darstellungen der Beweggründe keine Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen lassen sich auf verschiedene Arten lesen. Die eine spricht die Emotionen der Lesenden an, indem der Abbruch mithilfe einer bildlichen Darstellung, sowie der dabei empfundenen Emotionen beschrieben wird. Zentrale begriffliche Elemente sind im Bezug auf den Fötus „Embryo / Kind / kleiner Mensch“ als etwas „Lebendes / Lebendiges / sich in Entwicklung Befindendes“, sowie die aktive Handlung des „Absaugens“. Gleichzeitig beziehen sich die Ärzt_innen auf ihre individuelle Entscheidungsfreiheit durch den Bezug auf „ihr Gewissen“, sowie die Wahrung der eigenen „Grenzen“. Die Sprechenden betonen zudem, dass dieser Eingriff für niemanden „leicht“ ist, oder nehmen sogar auf ein „schlechtes Gewissen“ gegenüber den durchführenden Kolleg_innen Bezug und positionieren sich ebenfalls positiv gegenüber der freien Wahl von Schwangeren für einen Schwangerschaftsabbruch. Die nicht-durchführenden Ärzt_innen wirken emotional zerrissen und spielen auf das eigene Gewissen an. Ihr innerer Widerspruch wird sehr deutlich in der Art und Weise wie der Text aufgebaut und wie stark emotional argumentiert wird. Es scheint, als hätten sie ein schlechtes Gewissen den Schwangeren und ihren Kolleg_innen gegenüber, weil sie Abtreibungen einerseits politisch befürworten, die nicht-durchführung jedoch nur anhand der eigenen „emotionalen Schwäche“ begründen können.
Innerhalb des Diskurses von Ärzt_innen zum Thema Schwangerschaftsabbruch scheinen die adressierten Subjekte vorwiegend Ärzt_innen selbst zu sein. Einerseits findet eine moralische und emotionale Rechtfertigung der nicht-durchführenden Ärzt_innen gegenüber ihren (imaginierten) Kolleg_innen statt, während durchführende Ärzt_innen an die gesellschaftliche Verantwortung der Kolleg_innen apellieren. Deutlich wird auch, dass mit der Entscheidung der Ärzt_innen die Verwirklichung körperlicher Selbstbestimmung von Schwangeren steht und fällt, da die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen auch für sie davon abhängig ist ob und wie kompetent sie gynäkologisch beraten werden, ob Schwangerschaftsabbrüche lokal durchgeführt werden, oder weite Anreisen und daran gebundene Kosten geknüpft sind. Auf der ideelen Ebene scheint das Recht auf Schwangerschaftsabbruch unter vielen Ärzt_innen Konsens zu sein, auf praktischer Ebene ist der Zusammenhang mit moralischen Bewertungen und hintergründigen Diskursen jedoch maßgeblich.
Ein auffälliger Aspekt ist, dass insbesondere die Ärzt_innen, die keine Schwangerschaftsabbrüche durchführen und sich trotzdem „Pro Choice“ äußern, nicht mit ihrem Namen genannt werden wollen. Wohingegen die Mehrzahl der durchführenden Ärzt_innen mit ihrem Namen öffentlich auftreten. In vereinzelten Interviews werden Drohungen, bzw. das verstärkte Vorgehen sogenannter Lebensschützer genannt, auch wenn sich in den Ausführungen und Argumenten nicht näher auf diese bezogen wird. Trotzdem ist es möglich, dass das gesellschaftliche Stigma und die Gefahr, aufgrund der öffentlichen Positionierung, von religiösen Fundamentalist_innen angegriffen zu werden, eine relativ große Rolle für das öffentliche Auftreten spielt.
Diskursive Schwerpunkte in den Positionierungen von Ärzt_innen
In den Positionierungen der befragten Ärzt_innen lassen sich vier elementare Schwerpunktdebatten erkennen, welche einerseits in sich getrennte Diskurse darstellen, hier jedoch unmittelbar zusammenhängen.
- Die moralphilosophische Frage, wann Leben beginnt und in Folge dessen, in wie weit die Durchführung einer Abtreibung moralisch als Mord eingestuft wird / werden kann
- In Anknüpfung an die Frage wann Leben beginnt, entsteht ein diskursiver Widerspruch zwischen dem Leben der Schwangeren, sowohl auf politischer, als auch auf physischer Ebene, sowie dem des Fötus und seines „Rechts“ darauf sich zu einem lebendigen menschlichen Wesen zu entwickeln.
- Damit einhergehend wird auch die Auslegung des ärztlichen Kodex zur individuellen Entscheidung, bzw. danach was die Aufgabe von Ärzt_innen sei und welche Idealbilder- und vorstellungen mit dem Beruf verknüpft sind
- Ein Diskurs der in allen Positionierungen mitschwingt ist die Frage, in wie weit sich der Staat in die „persönlichen“ Belange und das Selbstbestimmungsrecht von Frauen einmischen darf und sollte
1. Wann beginnt das Leben?
Eine der Schwerpunktdebatten, die die Entscheidung von Ärzt_innen zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen stark beeinflusst, ist die Frage nach dem moralischen und ethischen Status des Embryos / Fötus. Die Debatte wird einerseits auf medizinischer Ebene geführt, wo die Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens, anhand seiner biologischen Entwicklung gestellt wird. Andererseits ist sie stark geprägt durch (christlich) religiöse Normierungen, die den Beginn menschlichen Lebens schon zum Zeitpunkt der Zeugung verorten. Rechtswissenschaftliche und philosophische Theoretiker_innen diskutieren die Frage anhand der Entwicklung eines „Ich-Bewusstseins“. Deutlich wird, dass es keineswegs einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, wann menschliches Leben beginnt und ab welchem Zeitpunkt dieses sowohl moralisch, als auch rechtlich als schützenswert gelten soll. So different wie die Positionen in der Debatte, sind auch die Positionen der Ärzt_innen. Deutlich wird allerdings, dass alle nicht-durchführenden Ärzt_innen davon ausgehen, dass sich der abzutreibende Embryo/Fötus im Status „menschlichen Lebens“ befindet und sie während des Schwangerschaftsabbruchs, dieses Leben aktiv beenden und hierdurch zur „Täter_in“ werden. Die Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs wird ausschließlich mit der Saugmethode verbunden und nicht zwangsläufig mit der Vergabe von Medikamenten, die zum Abbruch führen. Das moralische Dilemma durch die Einordnung als „Tötung“ menschlichen Lebens ist demnach explizit an die aktiv ausführende Handlung der Ärzt_innen geknüpft und entgegen meiner Vorannahmen nicht an die Handlung der Abtreibenden.
2. "Kind" vs. Schwangere
Ein starker Widerspruch, der bei den nicht-durchführenden Ärzt_innen vorhanden ist, entsteht durch scheinbar antagonistische Interessensgegensätze, die bei der Schwangeren, als auch dem Fötus liegen. Anknüpfend an die Frage, ab wann ein Organismus als menschliches Leben einzuordnen ist, entsteht die Debatte darüber, wessen Leben als schützenswerter gilt. Die Ursache dieses Widerspruchs liegt einerseits sowohl der moralischen Debatte zu Schwangerschaftsabbrüchen, sowie der aktuellen Rechtssprechung zu Grunde. Die Ärzt_innen der untersuchten Artikel erkennen eine Vielfalt an Gründen an, warum Schwangere sich dazu entscheiden eine Schwangerschaft abzubrechen. Der Hintergrund für diese Entscheidung kann auf sozialer, ökonomischer, oder auch medizinisch/gesundheitlicher Ebene liegen. Es wird jedoch auch deutlich, dass es mehr oder weniger legitime Gründe zu geben scheint, um einen Abbruch durchführen zu lassen. Das wird bspw. sichtbar bei dem Wunsch einiger Ärzt_innen, die Hintergründe des Abbruchs kennen zu wollen, um die Entscheidung der Patentient_in zur Legitimation des eigenen Handelns, nachvollziehen zu können. Die Ärzt_innen unterstützen also einerseits durch ihren öffentlichen Zuspruch die Forderung nach Entscheidungsfreiheit für Schwangere, gleichzeitig wollen sie jedoch ebenfalls eine Instanz sein, von deren moralischer Bewertung, die Entscheidungsfreiheit zum Abbruch abhängt. So gelten bspw. medizinische Gründe für einen Abbruch eher legitim, als soziale Gründe. Was innerhalb der Debatte nur äußerst marginal thematisiert wird ist, dass Personen, die sich für einen Abbruch entscheiden, diesen in der Regel auch durchführen, oder durchführen lassen. Solche unprofessionell durchgeführten und unkontrollierte Abbrüche führen nicht selten zum Tod der Schwangeren.
3. Leben retten als ärztliche Pflicht
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Auslegung der ärztlichen Pflichten. Die durchführenden Ärzt_innen beziehen sich darauf, dass ihr beruflicher Fokus auf der Betreuung und Beratung der Schwangeren liegt. Dies wird vorallem (sozial-)politisch begründet, da sie die Durchsetzung des Willen der Schwangeren als elementaren gesellschaftlichen Beitrag betrachten. Die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen wird hier auch als gynäkologische Pflicht betrachtet, um das Leben von Schwangeren, die ansonsten auf unprofessionellem Wege einen Abbruch durchführen würden zu schützen. Die Argumentation nicht-durchführender Ärzt_innen bezieht sich auf eine idealisierte moralische Vorstellung von medizinischen Berufen. Es wird zwar nicht genauer erläutert, was genau sie unter der Aufgabe von Mediziner_innen verstehen, dass die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen, welche hier als Form der aktiven Tötung verstanden werden, nicht dazu gehört, wird sehr deutlich und bildlich dargestellt. Der Schwangerschaftsabbruch in seiner Ausführung wird hierbei ausschließlich mit dem Embryo/Fötus und nicht mit der Schwangeren in Verbindung gebracht. Das gesellschaftlich normierte Bild von Ärzt_innen ist, dass sie „Leben retten“. Da als Konsequenz aus den vorhergehend beschriebenen Diskursen über den Beginn des Lebens, der Embryo/Fötus von nicht-durchführenden Ärzt_innen als „schützenswertes menschliches Leben“ eingeordnet wird, widerspricht die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs dieser Vorstellung.
4. Reproduktive Rechte von potentiell Gebärenden, eine lange Geschichte
In der Frage um die reproduktiven Rechte von Gebärenden 12) sind sich die befragten Ärzt_innen einig und positionieren sich auch öffentlich dazu: Die betroffene schwangere Person, sollte die volle Entscheidungsfreiheit über den eigenen Körper haben. Die durchführenden Ärzt_innen argumentieren insbesondere auf politischer Ebene, um die langwierige feministische Forderung nach der gesetzlichen Selbstbestimmung über den Schwangerschaftsabbruch zu unterstützen. Dabei wird sich sowohl auf den historischen Verlauf der gesetzlichen Regelungen, insbesondere innerhalb des deutschen Faschismus, als auch auf eine dahinter stehende patriarchale Ideologie bezogen, welche die Grundlage für die staatliche „Bevormundung“ und Einschränkung von reproduktiven Rechten ist. Hierbei werden die Regelungen in Deutschland und Österreich als besonders restriktiv eingeschätzt und positive Gegenbeispiele wie Regelungen in Frankreich oder Kanada benannt. Eine zentrale Frage innerhalb des Diskurses ist dabei, in wie weit sich der Staat mit seinen gesetzlichen Regelungen in die reproduktive Selbstbestimmung von potentiell Gebärenden einmischen sollte, da dies als Form der bevölkerungspolitischen Kontrolle unmittelbar am Individuum gesehen werden kann. In wie weit, dies als kritisches Unterfangen eingeschätzt werden kann, zeigt sich historisch immer dann, wenn über gesetzliche Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen versucht wurde bevölkerungspolitische Maßnahmen 13) durchzusetzen.
Fazit
Es lässt sich feststellen, dass die Entscheidung von Ärzt_innen für oder gegen die Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs enorm davon abhängig ist, durch welche gesellschaftlichen Diskurse sie politisch und beruflich geprägt werden. Die Bilder und Normen, die insbesondere auf den Fötus / Embryo produziert werden und die persönliche Annahme durch die Ärzt_innen sind ausschlaggebend für deren individuelle Entscheidung. Unabhängig davon wie der Komplex des Schwangerschaftsabbruchs politisch eingeschätzt wird, basieren die Argumente der nicht-durchführenden Ärzt_innen in der Öffentlichkeit auf den eigenen Emotionen und der moralischen Vorstellung davon zur Täter_in zu werden, in dem ein „menschliches Leben“ beendet wird. Die Argumentation der durchführenden Ärzt_innen basieren wiederum ausschließlich auf politischer Ebene. Der Diskurs über Schwangerschaftsabbrüche durch in der Gynäkologie tätige Ärzt_innen erscheint nicht als politisches Kampffeld, sondern als grundlegende Auseinandersetzung mit den individuellen Grenzen in der medizinischen Tätigkeit, die durch gesellschaftliche Normierungen und die individuelle und berufliche Sozialisation geprägt ist. Aufgrund der moralischen, philosophischen und politischen Diskurse, die sich im Hintergrund des gesamten Themenkomplexes bewegen, kommt es auch zu massiven Widersprüchen innerhalb der öffentlichen Positionierungen der nicht-durchführenden Ärzt_innen. Die massive Verantwortung und Idealisierung des Berufes, die gesellschaftlich an Ärzt_innen übertragen wird, sowie der Kampf um die Deutungshoheit im Diskurs zu Schwangerschaftsabbrüchen zeigt sich auch an der breiten Anonymisierung der Sprecher_innen. Deutlich wird, dass die Diskurse und deren reale Konsequenzen für Ärzt_innen, die Basis für die individuelle Entscheidung zur Durchführung bilden. Gleichzeitig zeigt sich jedoch auch, dass unabhängig der verschiedensten beteiligten Akteur_innen, die Durchsetzung des momentan eingeschränkten Rechts 14) auf körperliche und reproduktive Selbstbestimmung von potentiell Gebärenden mit der Entscheidung von Ärzt_innen steht und fällt.