Individuelle Positionierung Deutungsmuster:
Erläuterung:
Eine soziale Position wird in der Soziologie definiert als “die durch die Summe ihrer Rechte und Pflichten bezeichnete Stellung einer Person in einer Institution. Rolle. Status.”1). Entgegen der alltäglichen Auffassung einer Position, die ein Individuum vermeintlich selbstbestimmt einnehmen kann, lässt diese soziologische Definition erkennen, dass es bestimmte Faktoren gibt, die die Positionierung eines Individuums bestimmen und daher nie vom Individuum allein getroffen wird.
Individuelle Positionierung als ‘Lebensfrage’
In allen von uns feinanalysierten Artikeln wird die Entscheidung für bzw. auch gegen einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich als ‚Entscheidung fürs Leben‘ dargestellt. So schreibt Kolb (2019) zum Beispiel “Damals wie heute finde ich: Jede Frau hat das Recht zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen kann. Sie muss ja sowohl den Körper als auch das ganze Leben dazugeben!” 2). Die individuelle Positionierung für beziehungsweise gegen den Abbruch, erscheint also als eine grundsätzliche Frage. Eine Ausnahme bildet der Artikel von Dornheim (2018) des feministischen Magazins Edition F, welche die Entscheidung für den Schwangerschaftsabbruch im Nachhinein gerade nicht als lebensentscheidend bewertet, da die Betroffene ihr Leben danach weiterführen kann, wie bisher und sich durch die Entscheidung keine Änderungen ergeben haben.
Individuelle Positionierung aus der ‘Rolle als gute Eltern’ bzw. ‘Rolle als (gute) Mutter*’ heraus
In einigen Artikeln wird diese Lebensentscheidung - besonders im Falle der Entscheidung gegen den Abbruch - mit einer ewigen Verbundenheit zu Kind und Erzeuger verknüpft 3). Diese Beziehung geht mit einem vorgefertigten Bild einer heilen Familie 4) oder „gute(n) Eltern“ 5) 6) einher und ist somit mit dem Zwang verbunden, diese Rollen zu erfüllen. Dieser Zwang drückt sich dann in Zweifeln aus, wie ebenfalls bei Dornheim (2019) „Ich wußte nicht, ob mein damaliger Freund und ich gute Eltern würden.“ 7). In diesem Fall geht die Entscheidung für die Abtreibung einher mit der Positionierung für dieses vorgefertigte Familienbild. Umgekehrt gilt, dass eine Entscheidung gegen die Abtreibung mit der Positionierung gegen dieses Familienbild einhergehen kann.
In einigen Artikeln spielt nicht das Bild der ‚guten Familie‘, sondern vor allem allein das Bild der ‚guten Mutter‘ 8) 9) eine Rolle. Auch hier gibt es bestimmte Rollenerwartungen, die es zu erfüllen gilt und welche Zweifel bezüglich der eigenen Position auslösen können, wie zum Beispiel bei Gala.de (2018) „Wie soll ich mich denn um ein Kind kümmern?“ 10).
Allgemein konnte in allen Artikeln eine feste Positionierung zu einer bestimmten Vorstellung von „Rahmenbedingungen“ 11) gefunden werden. Waren diese Rahmenbedingungen letztendlich nicht ausreichend erfüllt, galt dies als Grund für die Abtreibung. Diese Rahmenbedingungen können neben einer allgemeinen Sicherheit für das Kind aber auch für die Mutter* 12), über eine bestimmte Reife, die die Frau* erreicht haben muss 13) bis hin zur finanziellen Sicherheit 14) reichen. Gerade in dem Artikel von Dornheim (2019) wird eine explizite Beziehung der Erfüllung der Rahmenbedingungen und der Erfüllung der Rolle der guten Eltern hergestellt: „Ich wußte nicht, ob mein damaliger Freund und ich gute Eltern würden. Ich wäre auch zu dem Zeitpunkt schon finanziell in der Lage gewesen, mich und ein Kind zu versorgen und ich hielt mich auch durchaus für reif genug.“ 15). In vielen der Artikel sind diese Bedingung mit der Vorstellung verbunden, dass diese Rahmenbedingungen zu einem bestimmten „Zeitpunkt“ 16) im Leben gegeben sein werden.
Individuelle Positionierung aus der ‘Rolle der (selbstbestimmten) Frau’
Eine weitere Deutungseben stellt die Subjektivierung der Entscheidung als explizite Sache der Schwangeren* dar. Dies ist nicht nur in feministisch geprägten Artikeln der Fall, aber dort wird das Thema der individuellen Positionierung für die Abtreibung implizit mit der Selbstbestimmungs-Debatte von Frauen verknüpft 17)18) 19), die nach wie vor im Zentrum feministischer Arbeit steht. Die Autorin Mareike Gröneweg beschreibt - in einem nicht-feministischen Kontext - eine explizite Distanzierung der porträtierten Person von „einer Frauenrechte-Agenda“ 20), jedoch nicht von der grundsätzlichen Idee der Abtreibung als Gegenstand einer individuellen Entscheidung.
Eine weitere Rolle der individuellen Positionierung zu Abtreibungen spielen die Gefühle von Scham und Reue. Gerade im Kontext der feministischen Magazine werden Scham und Reue bezüglich der Abtreibung abgelehnt 21) 22). Auch hier stehen die Artikel nicht-feministischer Erscheinungsorte dem gegenüber. Diese betonen Reue und Scham explizit als Teil ihrer individuellen Erfahrung der Abtreibung 23)24). So schriebt Gala.de (2018) über die Krasavices Abtreibungserfahrung: „Sie bereue mittlerweile diesen Schritt“ 25). Hier lassen sich, wenn auch nicht explizit ausgedrückt, Rückverweise auf traditionelle oder christliche Werte und Vorstellungen der Frau* wiedererkennen. Auffällig ist, dass gerade jene Frauen*, die die Abtreibung als mit Scham und Reue besetzt wahrnehmen, sich für die legitimieren müssen. So wird die oben genannte Textstelle durch die Legitimierung „auch wenn er aus ihrer Sicht unumgänglich gewesen sei“ 26) ergänzt. In einem Kontext, in dem der Schwangerschaftsabbruch jedoch als positiver Akt der Selbstbestimmtheit gedeutet wird, ist eine legitimierende Position redundant.
Auffällig ist, dass das eigene Leben sowie der eigene Körper - sowohl in den feministischen als auch in den nicht feministisch zu verortenden Artikeln - häufig in den Vordergrund der individuellen Positionierung gerückt werden 27) 28). So schreibt Nadj 2018: „Wenn man mir hätte verbieten können, über meinen eigenen Körper zu entscheiden, und mir damit das Recht abspricht, mein Leben so zu führen, wie ich es für mich und auch meine zukünftigen Kinder vorstelle - das wäre furchtbar gewesen […]“ 29).
Individuelle Position als ‘Vorbild’
In den feministischen Magazinen konnte eine Deutungsebene der individuellen Positionierung gefunden werden, welche in den nicht-feministischen Artikeln nicht wiedergefunden werden konnte. Diese setzt die Erzählung über die eigenen Abtreibungs-Erfahrung in den Kontext von (feministischer) Aufklärungsarbeit, die die selbstbestimmte Entscheidung und Positionierung von Betroffenen in ähnlichen Situationen fördern soll. Exemplarisch ist hierfür der Abschnitt aus Dornheim (2019): „Habe ich es jemals bereut? Definitiv nicht. Ich habe seitdem nicht mehr oft an diese Woche gedacht. Ich habe nie das Bedürfnis verspürt, darüber zu reden. Wenn ich das jetzt tue, dann einzig deshalb, weil ich damit vielleicht anderen Frauen ein paar Informationen zur Verfügung stellen kann. Und sei es nur die Tatsache, dass sie nicht allein sind. Dass es vollkommen ok ist, sich gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden“ 30). Nehmen Betroffene* die Position ein, Aufklärungsarbeit für Andere zu leisten, so kann davon ausgegangen werden, dass diese Betroffenen das Thema der Abtreibung als öffentlich nicht ausreichend gelehrt betrachten.
Individuelle Positionierung gegen politische Diskussionen
Durch gesellschaftspolitische Veränderungen, wie dem demografischen Wandel, wird bei der individuellen Frage des Kinderkriegens von den Befragten eine, von der Gesellschaft auferlegte, Druckkomponente wahrgenommen, dass „die Zukunft der Republik und Europas“ 31) in ihren Händen läge. In dem hier vorliegenden Artikel ist eine Positionierung gegen diese Erwartungen von Gesellschaft und Politik zu erkennen 32).
Individuelle Positionierung gegen Abtreibungsgegner*innen
„Schmerzen hatte ich die ganze Zeit über nur sehr mäßig, vergleichbar mit einer stärkeren Regelblutung. Aber ich wußte natürlich, dass die Blutung, die dann ein paar Stunden später eingesetzt hat, diesmal keine unbeleuchtete sondern eine befruchtete Eizelle, die sich schon ein paar Mal geteilt hatte, aus meinem Körper geschwemmt hat. Ich war in etwa in der achten Woche schwanger, aber so sehr ich mich bemüht habe, ich könnte in dem Blut keinerlei “etwas” ausmachen, nichtmal ein wirkliches Klümpchen. Nur Blut und Schleim. Was weniger eklig ist, als es so vielleicht klingt. Für die allermeisten Frauen gehört das regelmäßige Bluten zum Leben dazu.“ 33).
Die hier geschilderte Suche nach dem “etwas”, spielt auf den Teildiskurs von Abtreibungsgegner*innen an. Diese unterstreichen bei Demonstrationen mit aussagekräftigen Bildern, ihre Auffassung, dass Abtreibung Menschenkörper tötet (siehe Foto)34). Mit der Beschreibung der Betroffenen einer erfolglosen Suche nach „etwas“ und dem Vergleich des Ausflusses bei der Abtreibung mit dem Ausfluss von Menstruationsblut positioniert sich die Autorin gegen Abtreibungsgegner*innen.
Individuelle Positionierung im sozialen Umfeld
Eine weitere Deutungsebene besteht in dem Einfluss, den das soziale Umfeld auf die Positionierung des Individuums haben kann. In dem Artikel von Kolb (2019) wird sowohl die Ablehnung des sozialen Umfelds der Abtreibung (Zitat 1) als auch der Zuspruch der Abtreibung im sozialen Umfeld (Zitat 2) als Bestärkung für die eigene Positionierung dargestellt.
Zitat 1: „Mein Bekannter stand mit seiner Mutter vor meiner Tür: Wir wollen das Kind. Wir? Ich konnte mir nicht vorstellen, für den Rest meines Lebens mit dem 22-Jährigen - und seiner Mutter – verbunden zu sein.“ 35).
Zitat 2: „Der heilsamste Moment kam in einem Gespräch mit meiner Großmutter“ 36).
Eine besondere Rolle spielt die individuelle Positionierung des Erzeugers, welche lediglich in einem der Artikel als ausschlaggebend für die Entscheidung für die Abtreibung dargestellt wird. „Warum hast du mit mir kein Kind bekommen?“ 37). Hier führt die Position des Mannes für die Abtreibung dazu, dass die Frau ihre Position unterordnen muss.