Dokumentation der Schlagzeilenanalyse

Daten

Das Sprechen über Abtreibung als Ereignis

Die Existenz dieser Form von Artikel an sich ist ein Indikator, dass das Erzählen von einer Abtreibungserfahrung sagbar ist und zudem als relevant für die Öffentlichkeit eingeordnet wird, aber auch, dass es nicht selbstverständlich ist, also eigentlich nicht darüber gesprochen wird, jedoch gesagt werden muss. Dass das Sprechen über eine Abtreibung ein besonderes Ereignis darstellt, zeigen vor allem die Berichte zu Medienformaten, wie die Rezension des Podcasts “Paardiologie” der Autorin Charlotte Roche mit Martin Keß (C9) oder die Rückschau auf eine Folge des Fernsehformats “Promi Big Brohter” (C19). Die Verfasser*innen berichten über eine Auswahl an Momenten des porträtierten Formats und wählten das Erzählen einer bekannten Person über den erlebten Schwangerschaftsabbruch für die Schlagzeile aus:

C9: “Charlotte Roche spricht erstmals über ihre Abtreibung” 1)
C19: “Katja Krasavice beichtet Abtreibung” 2)

Im Fall von C9 markiert zudem das Adverb “erstmals” zudem die Besonderheit und Neuheit der Aussage. Anzumerken ist an dieser Stelle auch, dass Äußerungen von bekannten Personen an sich die Relevanz einer Aussage steigern können. Fast alle Artikel enthalten Marker der sprachlichen Äußerung. Diese unterscheiden sich jedoch. In den Schlagzeilen der Artikel C2, C4, C5, C12, C20 und C21 und C15 ist das Sprechen in Form wörtlicher Zitate der dargestellten Person symbolisiert, meist mit dem identischen Element “Ich habe abgetrieben”. Nacherzählende Schlagzeilen enthalten dagegen verschiedene Synonyme für die sprachliche Äußerung: “(eine Geschichte) erzählen” (C6, C7, C8), “sprechen über” (C5, C9) oder “beichten” (C19).

Relation zwischen erzähltem Subjekt und Schwangerschaftsabbruch

Je nach Wahl des Markers für eine sprachliche Äußerung wird die Machtposition der sprechenden Frauen* im Akt des Sprechens, sowie zum Schwangerschaftsabbruch auf unterschiedliche Art und Weise bestimmt. Mit der Wahl eines wörtlichen Zitats spricht der/die Autor*in der erzählten Person eine gewisse Deutungsmacht zu, welche jedoch durch die Selektion eingeschränkt wird und zudem lediglich als journalistisch strategischer Authentizitäts-Beweis funktionieren kann. Das Thema “Abtreibung” wird in diesen Fällen als aktive Handlung mit der zitierten Person als alleinige Täter*in dargestellt beziehungsweise bezeichnet sich diese selbst so, eine denkbare Nennung von Ärzt*innen, Männern oder einer kollektiven Agency etc. findet sich in den vorliegenden Daten nicht. Ist die porträtierte Person als erzählende oder sprechende dargestellt, wird ihnen ebenso eine Definitionsmacht über das Thema “Abtreibung” zugesprochen, beziehungsweise sprechen sie sie sich selbst zu. Der Fokus des Handelns liegt damit nicht bei dem Prozess der Abtreibung, sondern bei dem Erzählen der Geschichte aus einer gewissen Distanz heraus.

C5: “Fiona spricht im Podcast über ihre Abtreibung” 3)
C8: “Abtreibung: Paderbornerin erzählt die Geschichte ihres ungeborenen Kindes” 4)
C13: “Die Geschichte (m)einer Abtreibung” 5)

Eine Geschichte ist etwas, was eine erzählende oder schreibende Person bedarf. Sie ist in der Regel länger als ein Satz und durch die Bezeichnung als Geschichte als erzählenswert markiert. Gleichzeitig beinhalten Geschichten auch fiktive, kreative und dramatisierende Elemente entgegen nüchterner Protokolle beispielsweise. Die Frau* rückt als Erzählende in den Hintergrund und in eine Gewisse Distanz zum Erzählten, welches jedoch durch Possessivpronomina auf sie* bezogen ist: “die Geschichte ihres ungeborenen Kindes” (C5), “(m)einer Abtreibung” (C13), “ihre Abtreibung” (C8, C9). Diese Relation kann zum einen dahingehend gelesen werden, dass die Frauen* über den Gegenstand des Erzählens verfügen (“über ihre Abtreibung” (C9)) und gleichzeitig, dass dieser durch die Besitzanzeige individuell und spezifisch also nicht allgemein ist. Der Schwangerschaftsabbruch ist damit eine konkrete Handlung der Erzählenden, ein abstrakter Gegenstand des Sprechens, des Beichtens oder einer Geschichte aber auch Gegenstand einer Entscheidung “Eine Abtreibung ist deine Entscheidung, deine allein” 6) oder ein Zeitpunkt in der Vergangenheit:

C2: “Ich habe abgetrieben”7)
C20: “Schuldgefühle nach Abtreibung”8)
C21: „Die Krankenschwester warf mir Mord vor“9)

Die zeitlichen Marker verweisen auf ein wesentliches Merkmal der dargestellten Berichte. Es handelt sich immer um Positionierungen zu einem Ereignis beziehungsweise einer Handlung in der Vergangenheit. Dies kann als Indiz dafür gelesen werden, dass das zukünftige Abtreiben nicht Gegenstand einer persönlichen Auseinandersetzung ist, wie beispielsweise Schwanger werden und Kinder bekommen, und in anderen Formaten diskutiert wird. Auch könnte der Erfahrungswert als legitimierender Aspekt einer thematischen Positionierung aus individueller Perspektive in der Öffentlichkeit angesehen werden. Besonders schlüssig erscheint jedoch die Lesart, dass eine Handlung in der Vergangenheit nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Dass es aber dennoch einen gesellschaftlichen Anreiz gibt, dass die Handlung in der Vergangenheit richtiggestellt wird.

Legitimierungsmuster

Die Schlagzeilen enthalten nicht nur Äußerungen zum erfahrenen Schwangerschaftsabbruch, sondern auch damit verbundene Elemente der Legitimation beziehungsweise normative Positionierung:

C2: “Ich habe abgetrieben - und bereue nichts” 10)
C4: “Ich habe abgetrieben und das war richtig - aber ich würde es nie wieder tun” 11)
C5: “Ich fühle mich nicht wie eine Mörderin” 12)
C12: “Ich habe abgetrieben. Ich schäme mich nicht” 13)
C13: “Eine Abtreibung ist deine Entscheidung, deine allein” 14)

Ein typisches Merkmal bei diesen Satzgliedern, ist dass sie von der Selbstbezichtigung durch einen Gedankenstrich oder einen Schlusspunkt getrennt sind (C2, C4, C12). Dies kann einerseits die zeitliche Trennung der vergangenen Handlung und der gegenwärtigen Positionierung markieren. Andererseits kann es auch eine Unabhängigkeit der Angelegenheiten symbolisieren. Bei dem Akt der Abtreibung handelt es sich um eine persönliche Handlung, wohingegen die Positionierung eine Bezugnahme zu einem Anderen, einer Norm, einer gesellschaftlichen Erwartung oder impliziten Frage darstellt und dadurch erst generiert wird. So haben die Schlagzeilen C2, C5 und C12 den Charakter einer Antwort, indem sie einen Gegenstand negieren anstatt ihn zu generieren. So könnte auch anstelle der Negation “Ich schäme mich nicht” die Aussage “Ich fühle mich gut damit” stehen. Ersteres impliziert, dass eine Erwartung der mit Abtreibung einhergehenden Scham oder Reue, ein Vorwurf des Mordes im Raum steht, zu welchen sich das erzählende Subjekt positionieren muss oder will. Diese Legitimierungsstrukturen verweisen also auf eine negative Bewertung der Abtreibung, welche als unmoralisch (“Mord”), als falsch (“richtig”) und als beschämend gilt. Diese impliziten Annahmen und expliziten Aussagen verweisen auf ein normsetzendes Äußeres. So auch das Verb “schämen” - Mensch schämt sich vor jemandem - oder die Besitzanzeige “deine Entscheidung” (C13), deren Anlass darin liegen kann, dass es andere gibt, welche die Entscheidungsmacht beanspruchen, wie beispielsweise der gesetzliche Rahmen des Verbots, die verpflichtende Schwangerschaftskonfliktberatung, die begrenzte Anzahl an legitimen Indikationen oder männliche Politiker. Diese von außen kommenden normativen Erwartungen, zu welchen sich die Frauen* verhalten, finden sich auch in weiteren (Unter)Überschriften:

C21: “Die Krankenschwester warf mir Mord vor” 15)
C20: “Die Entscheidung für eine Abtreibung fiel Nadine, 28, zunächst leicht. Aber dann schlugen die Schuldgefühle mit voller Wucht zu.” 16)
C12: “Gegen gesellschaftlichen Druck geht sie ihren Weg bis zur Abtreibung” 17).

Die Äußerungen zum erlebten Abbruch, einschließlich der Positionierungen, können größtenteils als Akt des emanzipativen Ergreifens von Deutungsmacht hinsichtlich der Legitimität von Schwangerschaftsabbrüchen, sowie der Möglichkeit der alleinigen Entscheidung gedeutet werden. Allerdings kann die Äußerung dieser Legitimierungen auch dahingehend gelesen werden, dass sich Frauen* nicht ohne eine solche zu einem Schwangerschaftsabbruch äußern können.

Enthalten C5, C6, C7, C8 und C9 keine Indikatoren für eine Positionierung, stellen in dieser Hinsicht der feministische Artikel von Laura Dornheimer (C12) sowie C19, C20 und C21 Sonderfälle dar.

C12: “Eine Abtreibung ist deine Entscheidung, deine allein” 18); “Die Geschichte (m)einer Abtreibung” (ebd. 2).
C19: “Katja Krasavice beichtet Abtreibung” 19).
C20: “Schuldgefühle nach Abtreibung” 20).
C21: “Die Krankenschwester warf mir Mord vor” 21).

Die feministische Autorin Dornheimer spricht sich auch eine Deutungsmacht in Bezug auf andere zu (“deine Entscheidung”, “eine Abtreibung”) und äußert damit explizit typische, feministische Argumentationen für das Selbstbestimmungsrecht der Frau über den eigenen Körper. Dagegen wird in C20 und C21 die negative (Aus)Wirkung der gesellschaftlichen Stigmatisierung dargestellt, ohne eine explizite, individuelle Positionierung. Und der Artikel des Boulevardmagazins Gala bestätigt durch das Verb “beichten” die moralische Verwerflichkeit einer Abtreibung. Es ist im Gegensatz zu “sprechen” und “erzählen” ein Pejorativum, welches den Gegenstand des Sprechens negativ wertet. Das Verb “beichten” ist christlichen Ursprungs und stellt einen Bezug zum kirchlichen Abtreibungsdiskurs dar. Es impliziert die Äußerung einer Sünde, einer von Gott als moralisch verwerflichen eingestuften Tat, welche dem hierarchisch übergeordneten Beichtvater gegenüber gebeichtet und eventuell vergeben wird. In diesem Fall geschieht die Beichte gegenüber der Öffentlichkeit, die demnach vermutlich als Entscheiderin über die Verwerflichkeit eingeordnet wird. Die Aussage verweist nach dieser Lesart auf eine gesellschaftliche Abwertung einer Abtreibung als Sünde beziehungsweise eine Deutungshoheit, welche Katja Krasavice von der*dem Autor*in nicht zugesprochen wird. Anzumerken ist schließlich jedoch auch, dass die Wahl eines wertenden Prädikats typisch für Schlagzeilen populär-journalistischer Artikel ist, welche aktiv provokante Thesen aufstellen. Ebenfalls in der Schlagzeile von C8 wird ein Bezug zu einem spezifischen Diskurs hergestellt, welcher eng mit dem Abtreibungsdiskurs verknüpft ist: die Definition des Gegenstandes der Schwangerschaft. Handelt es sich um Leben, ein Kind, ein Fötus oder ist die Schwangerschaft ein Zustand eines Körpers ohne Objekt oder zweites Subjekt.

C8: “Abtreibung: Paderbornerin erzählt die Geschichte ihres ungeborenen Kindes” 22)

Hier rückt die Frau* in den Hintergrund. Im Gegensatz zu anderen Schlagzeilen steht nicht die Aussage der Frau* allein, so wie ihr Verhältnis zum Abstraktum ‚Abtreibung‘ im Vordergrund, sondern auch ein anderes Subjekt beziehungsweise Objekt: das ungeborene Kind. Dieses ist und ist gleichzeitig nicht, durch das Unterlassen oder nicht Zustandekommen des Gebärens (“un-geboren”). Die Verwendung der Bezeichnung “Kind” für das ungeborene Objekt, also ein allgemein als besonders schützenswert geltendes Subjekt, spiegelt ein Argument der Debatte für die moralische Verwerflichkeit von Schwangerschaftsabbrüchen wieder. In diesem Zusammenhang sind auch C4 und C20 zu nennen:

C4: “Ich habe abgetrieben und das war richtig - aber ich würde es nie wieder tun” 23)
C20: “Schuldgefühle nach Abtreibung” 24).

Der Ausschluss einer Wiederholung, sowie das Bekenntnis zu Schuldgefühlen können auch eine bestehende Notwendigkeit darstellen, nicht von einer Abtreibung sprechen zu können, ohne sich dem Vorwurf der Verwerflichkeit zu beugen und diese indirekt zu bestätigen.

Sonstige Merkmale

Abschließend ist anzumerken, dass die zentralen Subjekte der Schlagzeilen als aktiv handelnde und für sich sprechende Personen dargestellt werden und nur in drei Fällen (C8, C13, C21) ein drittes Subjekt in den Mittelpunkt rückt. In wenigen Schlagzeilen dagegen werden die Berichtenden als fühlende Subjekt erzählt:

C5: “Ich fühle mich nicht wie eine Mörderin” 25)
C7: “Fünf Frauen erzählen von ihren Erfahrungen vor und nach einer Abtreibung” 26).
C20: “Schuldgefühle nach Abtreibung” 27)
1)
Heidböhmer, Carsten (2019): Charlotte Roche spricht erstmals über ihre Abtreibung, [online] https://www.stern.de/lifestyle/leute/charlotte-roche-spricht-erstmals-ueber-ihre-abtreibung-8774348.html [18.07.2019]
3) , 12)
Jan Karon/Tassilo Hummel (2019): „Ich fühle mich nicht wie eine Mörderin“: Fiona spricht im Podcast über ihre Abtreibung, [online] https://www.stern.de/kultur/mono-podcast/abtreibung--fiona-spricht-im-mono-podcast-ueber-ihre-schwangerschaftsabbrueche-8742918.html [16.07.2019]
4) , 22)
Gröneweg Mareike (2019): Abtreibung: Paderbornerin erzählt die Geschichte ihres ungeborenen Kindes, [online] https://www.nw.de/lokal/kreis_paderborn/paderborn/22396459_Abtreibung-Paderbornerin-erzaehlt-die-Geschichte-ihres-ungeborenen-Kindes.htmll [16.07.2019]
5) , 6) , 14) , 18)
Dornheim, Laura (2018): Eine Abtreibung ist deine Entscheidung, deine ganz allein, [online] https://editionf.com/ich-habe-abgetrieben-1/ [18.07.2019]
7) , 10)
Grünwald, Viktoria (2018): Ich habe abgetrieben und ich bereue nichts [online] https://www.vice.com/de/article/8xp7zv/paragraph-219a-ich-habe-abgetrieben-und-bereue-nichts [16.07.2019]
8)
Kolb, Christiane (2019): Schuldgefühle nach Abtreibung: „Ich verachtete meinen Körper“ [online] https://www.brigitte.de/familie/mitfuehlen/schuldgefuehle-nach-abtreibung---ich-verachtete-meinen-koerper—11531324.html[16.07.2019]
9) , 15)
Tlusty, Ann-Kristin u. Julia Meyer (2019): „Die Krankenschwester warf mir Mord vor“ [online] https://www.zeit.de/wissen/2019-03/schwangerschaftsabbrueche-erfahrungen-psychische-folgen-jens-spahn-studie [16.07.2019]
11) , 23) , 25)
Haase, Ivy (2019): Ich habe abgetrieben und das war richtig – aber ich würde es nie wieder tun [online] https://www.stern.de/neon/herz/psyche-gesundheit/ich-habe-abgetrieben-und-das-war-richtig---aber-ich-wuerde-es-nie-wieder-tun-8774362.html [16.07.2019]
13) , 17)
u.A. (2018): „Ich habe abgetrieben. Ich schäme mich nicht“ [online] https://www.spiegel.de/gesundheit/schwangerschaft/ungewollt-schwanger-ich-habe-abgetrieben-ich-schaeme-mich-nicht-a-1217452.html [16.07.2019]
16) , 20) , 24)
Kolb, Christiane (2019): Schuldgefühle nach Abtreibung: „Ich verachtete meinen Körper“ [online]https://www.brigitte.de/familie/mitfuehlen/schuldgefuehle-nach-abtreibung---ich-verachtete-meinen-koerper—11531324.html [16.07.2019]
21)
Tlusty, Ann-Kristin / Julia Meyer (2019): „Die Krankenschwester warf mir Mord vor“ [online] https://www.zeit.de/wissen/2019-03/schwangerschaftsabbrueche-erfahrungen-psychische-folgen-jens-spahn-studie [16.07.2019]
26)
Poelchau, Nina (2019): Fünf Frauen erzählen von ihren Erfahrungen vor und nach einer Abtreibung, [online] https://image.stern.de/8602672/16x9-940-529/8e489c42a77d0cc6f7d950d3fd7961db/ic/abtreibung-1.jpg [18.07.2019]
27)
Kolb, Christiane (2019): Schuldgefühle nach Abtreibung: „Ich verachtete meinen Körper“ [online]https://www.brigitte.de/familie/mitfuehlen/schuldgefuehle-nach-abtreibung---ich-verachtete-meinen-koerper—11531324.html [16.07.2019]
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