Harald Martenstein Über späte Abtreibungen, ZEITMAGAZIN NR. 10/2019 27. FEBRUAR 20197

In den USA verlangen einige Linke und Feministinnen, dass Kinder in Zukunft auch noch während der Geburt getötet werden dürfen. Und zwar dann, wenn ihre Existenz das Wohlergehen der Eltern beeinträchtigen könnte. Andere, nämlich zwei Wissenschaftler, haben sogar die sogenannte „nachgeburtliche Abtreibung“ gefordert – englisch: after-birth abortion –, eine politisch korrekte Formulierung für das unschöne Wort „Mord“.

HARALD MARTENSTEIN Ich konnte das nicht glauben. Ich dachte, es sind Fake-News. Aber den Hinweis auf diese Debatte verdanke ich einer Kolumne des ZEIT-Herausgebers Josef Joffe. Er erwähnte es eher nebenbei, zur Illustration seiner These, dass die US-Demokraten auch weiterhin alles tun, um für Menschen außerhalb ihres Milieus unwählbar zu sein. Wenn die Last-Minute-Abtreibung in den USA wirklich ein neuer Hit im feministischen Forderungskatalog ist, dachte ich, dann kommt es bald auch hier an. Und? Tatsächlich hat ein Juso-Kongress bereits etwas Ähnliches gefordert, nämlich das Ende der Fristenlösung, im Klartext: Abtreibungen bis zum neunten Monat. Im Journal of Medical Ethics hatten Alberto Giubilini und Francesca Minerva bereits 2012 das Recht auf after-birth abortion verlangt (später erschraken sie über ihre eigene These). Ein Kind müsse getötet werden dürfen, wenn nach der Geburt Umstände bekannt werden, unter denen eine Abtreibung legal gewesen wäre – etwa eine Behinderung. Begründung: „Der moralische Status des Getöteten ist mit dem eines Fötus vergleichbar.“ Dies gelte auch für Fälle, in denen „das Neugeborene zwar die Chance auf ein akzeptables Leben hätte, aber das Wohlergehen der Familie in Gefahr ist“, auf Englisch: the well-being. In Virginia gab es kürzlich eine Gesetzesinitiative zumindest in diese Richtung. Die Details entnehme ich einem Text von Michelle Goldberg aus der New York Times. Bisher durfte dort nach dem sechsten Monat nur dann abgetrieben werden, wenn drei Ärzte „schwere“ Gesundheitsgefahren mit „irreversiblen“ Folgen für die Mutter erkennen. Laut dem Gesetzentwurf der Demokratin Kathy Tran sollte die Meinung eines Arztes genügen, und jedwede Gesundheitsgefahr soll genügen, auch eine „mentale“. Damit kann auch die Gefahr gemeint sein, dass sich bei der Gebärenden Ängste einstellen oder postnatale Depressionen drohen. Dies könne, wie Tran vor einem Ausschuss sagte, auch noch während der Wehen diagnostiziert werden. Die Autorin Goldberg hält es für unwahrscheinlich, dass so etwas passiert, ein schwaches Argument, finde ich. Aber die Erklärung, wieso ein Kind einen Tag vor der Geburt ein anderer Mensch ist als einen Tag danach, bleiben die Befürworter dieser Barbarei schuldig. Es gibt nämlich keinen Unterschied.

Es ist schwer zu begreifen, wieso immer noch nicht die Tötung von Komapatienten oder von Demenzkranken oder von Verrückten oder von Schwerbehinderten gefordert wird. Auch diese Personen können ja das Wohlergehen ihrer Angehörigen beeinträchtigen und bei diesen depressive Verstimmungen auslösen. Wenn das Wohlergehen der Starken und Wortmächtigen auf Platz eins der Werteskala steht, haben die Schwachen und Stummen schlechte Karten. Lebensunwertes Leben, so hieß das mal. Ich hätte nie gedacht, dass dieses Denken, Nazi-Denken, eines Tages auf der anderen Seite des politischen Spektrums Auferstehung feiert. Was stört, muss weg. In dem Filmklassiker Soylent Green tötet der Staat die Alten und verarbeitet sie zu Nahrung für die Armen. Praktizierter Humanismus, oder? So eine Maßnahme kommt mir nicht mehr undenkbar vor. Übrigens bin ich keineswegs für ein reaktionäres Rollback beim Paragrafen 218 und halte auch viel von Selbstbestimmung. Ich finde nur, dass es Grenzen geben muss.

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