Inhaltsverzeichnis
Welche Konstruktionen von geheimem sozialen Geschehen werden in Kolumnen vermittelt?
Die journalistische Berichterstattung zum Betreff Paragraph 218 und Abtreibung bildet einen großen Teil des Kampfes um kulturelle Hegemonie bezüglich des Themenfeldes. Aufgrund der gesellschaftlich emotionalen Aufladung von „Abtreibung“ als moralischen Streitpunkt sollte in diesem Projekt der Diskurs, der in Kolumnen von Zeitschriften geführt wird, untersucht werden. Zu Beginn stellte ich mir folgende Fragen: Wie werden Standpunkte zur Debatte für den*die Leser*in aufbereitet und welche Beispiele werden verwendet? Wer sind die Akteur*innen in den Texten der Kolumnist*innen und welche Autonomie oder Eigenschaften wird ihnen zugeschrieben? Und wie ordnet der*die Kolumnist*in seinen*ihren Beitrag zur Debatte in Abgrenzung zu anderen Diskursen oder Einzelpersonen ein?
In Anschluss zu dieses Ausgangsfragen sollen in diesem Projekt die sozialen Welten, die die Kolumnist*innen in ihren Texten vermitteln, untersucht werden. Genauer soll hier auf den Teil dieser Welten eingegangen werden, die laut den Kolumnist*innen im Verborgenen abseits dem Wissen der Mehrheitsgesellschaft existiert. Es soll aufgezeigt werden, welche Eigenschaften diese geheimen Welten tragen und wie sich die Autor*innen als Enthüller*innen dieser inszenieren. Gleichzeitig ist die Frage, welche Funktion diese Darstellung erfüllen, um die Meinung der Kolumnist*innen zu dem Thema Abtreibung zu vermitteln und zu unterstreichen.
- Kolumnen sind oft polemisch aufgeladen und bieten Abtreibungsgegner*innen eine Plattform um ihre Meinung zu rechtfertigen
- In Kolumnen wird sich unwissenschaftlichen Mittel bedient, um die Leser*innen von der subjektiven Meinung zu überzeugen
- Viele Kolumnist*innen schreiben aus einer priviligierten Stellung über Themen
1. Material
Zu Beginn der Materialsammlung suchte ich zunächst unabhängig von politischer Einstellung des*der Kolumnist*in oder der Zeitschrift, in der er*sie publiziert. Bei den ersten Kodierversuchen erweisen sich in erster Linie jedoch die Strukturen in den Argumentationen der Abtreibungsgegner*innen als interessant. Gleichzeitig wäre es sicher gewinnbringend, die Muster der beiden „Lager“ gegenüber zu stellen. Jedoch befürchte ich, dies könnte den Rahmen sprengen. Zusätzlich sorge ich mich um eine fehlende Vergleichbarkeit von Kolumnen, die sich unterschiedlich zum Thema §218/Abtreibung positionieren. Deswegen möchte ich mich zunächst auf Kolumnist*innen konzentrieren, die eine Abschaffung des §218 und §219a kritisch sehen/bzw. komplett ablehnen.
Für die Untersuchung sollen Kolumnen aus populären deutschen überregionalen Zeitschriften gewählt werden, die von Autor*innen stammen, die regelmäßig das Tagesgeschehen journalistisch kommentieren. Der Ausschluss von Menschen, die nur unregelmäßig in Zeitschriften Kolumnen veröffentlicht haben, soll garantieren, dass die Kolumnist*innen zur Institution ihrer Zeitschrift gehören und dass ihr Name und Bild gleichzeitig den Lesenden ein Begriff ist. Letzteres ist wichtig, da ein Wiedererkennungswert der Kolumnist*innen ihren kultuellen Einfluss erhöht. Reflektiert werden muss die Sonderstellung des*der Autor*in, die*der in der Lage ist, seine*ihre Meinung durch die Form der Kolumne ohne aufgezwungenen Dialog darzulegen.
Zeitlich habe ich mich auf Kolumnen der letzten 4 Jahren begrenzt. Dabei ist der Anlass für das Verfassen der Kolumne nicht entscheidend, da es mir um das Framing der Haltung zu dem Thema Abtreibung geht.
- Harald Martenstein- Über späte Abtreibungen - ZEIT martenstein.pdf
- Jan Fleischhauer - Wen wir leben lassen. - SPIEGEL fleichhauer.pdf
- ders. - Der neue Kampf um den Paragraf 218 - SPIEGEL fleichhauer_2.pdf
- Kristina Schröder - Bemerkenswerte Empathielosigkeit - WELT schroeder.pdf
- Birgit Kelle - Abtreibung tötet. Definitiv. - WELT kelle.pdf
2. Methodik
Zunächst hielt ich es für wichtig, mithilfe von Adele Clarkes Ausführungen eigene Elemente für Situationsmaps zu sammeln. Dabei ging es noch darum herauszufinden, auf welche Diskurse und andere Akteur*innen die Kolumnist*innen sich beziehen. Als anderes Thema schlich sich ein, inwiefern die Autor*innen der Texte sich Emotionen (Schock, Verzweiflung etc.) bedienen, um ihre Meinung zum Thema §218/Abtreibung zu vermitteln und damit einhergehend auch die Frage, auf welche sozialen Bereiche sich jene Emotionen beziehen. Dieses Vorgehen bewies sich als Fass ohne Boden, da das Sammeln von genutzten Emotionen einem Codier-Vorgang gleichkam. Jedoch war die Frage weder präzise noch analytisch genug, um weiter verfolgt zu werden. Deswegen begann ich die Texte im Codierprogramm MAXQDA zu lesen und alle auffälligen Passagen, Wörter etc. zu markieren. Die offene Codiermethode nach Rainer Keller half also, den Text zu durchforsten. Kellers Fokus auf die Art und Weise WIE die gemachte Aussage artikuliert wird, erlaubt es hier eine tiefere Ebene im Text zu sehen und nicht in oberflächlichen Kontexten zu forschen. Dabei wurde mir auch klar, wie oberflächlich ich die Texte im Vorgehen von Clarke betrachtet habe und die wahren interessanten Fragen sich aus der genauen Betrachtung und aus dem Vergleich der Texte ergaben.
Die Übersicht, die das Codierprogramm zur Verfügung stellt, zeigte dann unzählige induktive Codes auf, die mit interpretativen Übercodes zusammengefasst werden können. Kellers analytisches Vorgehen sieht passenderweise eine kontinuierliche Abänderung und Präzision der Forschungsfrage vor. Hiervor formulierte ich für mich verschiedene Fragen und sortierte dann nicht passende oder nicht lohnende Fragen aus. Dabei musste ich leider viele (interessante) Codierungen unter den Tisch fallen lassen. Die Abwechslung von Feinanalyse und Hypothesenbildung nach Keller half, mir durch die tabellarische Darstellung der analysierten Passagen mich einer potenziellen Beantwortung der letztendlichen Leitfrage zu nähern. Nach der Festlegung dieser Frage („Welche Konstruktionen von geheimen sozialem Geschehen werden in Kolumnen vermittelt?“) habe mich mit den gesammelten Codes an der Idee der „Narrativen Struktur“ orientiert. Dabei geht es um das in Beziehung setzen von (kausalen) Strukturen. Dies habe ich versucht in diesem Wiki in der Tabelle 7.1. graphisch zu veranschaulichen. In Bezug auf mein Forschungsmaterial passte also das exemplarische Vorgehen von Keller sehr gut auf die Arbeit mit dem Text.
3. Versuch an geordneten Maps
INDIVIDUELLE MENSCHLICHE AKTEURE
Ungeborene Kinder, geborenen Kinder, Gesundheitsminister (Jens Spahn), Frauenarzt, spezifische Personen im Umfeld des*der Kolumnist*in (z.B. Verwandte, Kolleg*innen, Freund*innen)
GEFÜHLE
Ungläubigkeit, Hilflosigkeit, Reue, Emotionslosigkeit, (emotionale) Kälte, Entschlossenheit, Verbissenheit, Verzweiflung
NICHTMENSCHLICHE AKTANTEN
Pränatale Diagnosetests, Paragraph 218, Paragraph 219a, die geplante Studie über die möglichen psychischen Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs von Jens Spahn
KOLLEKTIVE MENSCHLICHE AKTEURE
Feminist*innen, „Linke“, pro familia, juristische Institutionen, Journalist*innen
DISKURSIVE KONSTRUKTIONEN INDIVIDUELLER/KOLLEKTIVER MENSCHLICHER AKTEUER
Die eigene Geschlechterrolle als männlicher/weibliche Kolumnist*in und die dazugehörige Beziehung zum Thema Schwangerschaft, Genderstereotype (Mutterschaft, Schwangerschaft), Individualismus
DISKURSIVE KONSTRUKTIONEN NICHTMENSCHLICHER AKTANTEN
Konzepte von Religion, Konzepte von Moral
POLITISCHE/WIRTSCHAFTLICHE ELEMENTE
Parteien, Politiker*innen
SOZIO-KULTURELLE/SYMBOLISCHE ELEMENTE
Behinderung, der Wert des ungeborenen Lebens
ZEITLICHE ELEMENTE
Wann ist ein ungeborenes Kind ein Mensch? Bis wann „darf“ abgetrieben werden?
HAUPTTHEMEN/DEBATTEN
Moralität der Abtreibung, Moralität ungewollter Kinder, Umgang mit Abtreibung in der Gesellschaft
VERWANDTE DISKURSE (HISTORISCH, NARRATIVE, VISUELLE)
Abtreibungsdiskurse, Diskurse über Geburtenkontrolle, Sexualitätsdiskurse/ feministische Diskurse,
Diskurse über Frau ↔ Mann, Diskurse über „political correctnis“, „Wissenschaft“ gegen „feministische Emotionen“
- Betonung der Folgen von Abtreibung, auf der individuellen und der kollektiven gesellschaftlichen Ebene
Bspl.: Angst vor Legalität von sog. „Last-Minute-Abtreibung“/Tötung von geborenem Leben (Martenstein), Bspl.: Negative (psychische) Folgen einer Abtreibung –> Vorwurf der Verschleierung dieser (Schröder)
- Charakterisierung von „Abtreibungbefürworter*innen“ als …. (z.B. kaltschnäuzig, hysterisch, ignorant moralisch etc.)
- Ärzt*innen verdienen an Abtreibungen, es liegt also in ihrem Interesse, dass Menschen abtreiben
- Feminist*innen/„Abtreibungsbefürworter“ wollen die Abtreibungszahlen erhöhen
- Betonung der moralischen Komplexität des Themas
→ Hier fällt mir schon das wiederkehrende Motiv der Verschleierung auf!
4. Rolle des*der Kolumnist*in
Orientierung an Keller: Situativer Kontext (Keller 2011: 99f.): „Von welcher institutionell-organisatorischen und situativen Position heraus wurde der Text verfasst?“
Die Veröffentlichung einer eigenen Kolumne in einer Zeitschrift suggeriert einen hohen Bildungsgrad, sowie eine Zugehörigkeit einer Bildungselite, die durch Druckerzeugnisse den öffentlichen Diskurs kommentiert und begleitet. Nicht selten sind die Kolumnen selbst auch „diskursstiftend“ - so folgten auf die Kolumne von Harald Martenstein Texte in anderen Zeitschriften wie der taz, die sich mit seinem auseinandersetzten. Hier stellt sich immer wieder die Frage: Wer DARF schreiben und WAS darf geschrieben werden? Hier wird also das Privileg deutlich, mit dem die Kolumnist*innen in gesellschaftlichen Diskursen agieren. Dieses Wissen um das Agenda-Setting-Potenzial der Kolumnist*innen erzeugt also eine Art kultureller Hegemonie, die sich über die Publikation legitimiert. Diese Rolle muss also beim Lesen der Texte mitgedacht werden. Außerdem muss die Beziehung von Zeitschrift, Kolumnist*in und Leser*in miteinbezogen werden, da diese bei der Veröffentlichung und dem Verkauf der Zeitschrift im ständigen Kontakt stehen. So sind die abgedruckten Texte auf die Leser*innenschaft abgestimmt (Die WELT ist zum Beispiel auf ein bürgerliches-konservatives Publikum zugeschnitten), was auch die Meinung der Kolumnist*innen in manchen Fällen beeinflussen/vorgeben kann. Somit ließe sich die Hypothese aufstellen, dass die Kolumnen auch Aufschlüsse auf das allgemeine politische Milieu der spezifischen Zeitschrift geben kann. Jedoch muss die Wechselwirkung zwischen den Kolumnist*innen und ihrer Anstellung bei einer politisch ausgerichteten Zeitschrift miteinbezogen werden. Bezogen auf die schlussendliche Frage dieses Projektes könnten die Ergebnisse also Aussagen oder Fragen bezüglich des Milieus aufgeben, das dem Thema §218/Abtreibung generell eher kritisch/negativ eingestellt sind.
1. Diskursproduktion: Kolumnen werden regelmäßig an einer vorgesehenen Stelle in Zeitschriften oder Onlinemedien veröffentlicht. Dabei steht im Mittelpunkt eine subjektive Sicht des*der Journalist*in, der sich mit aktuellem Zeitgeschehen auseinandersetzt. Verbreitet werden die Texte jedoch mittlerweile auch auf sozialen Medien, wie Twitter oder Facebook, wo sie dann kommentiert oder kritisiert werden können. (hier wichtig: Subjektposition - WER darf sprechen?)
2. Subjektposition (vlt. besser: Sprecherposition): Was für eine Deutungsmacht ist mit der Rolle des*der Kolumnist*in verbunden? Vermutung meinerseits: Durch das Lesen der Kolumnen habe ich das Gefühl, die Kolumnist*innen inszenieren sich als „Brecher*innen des Schweigens“ über das Thema Abtreibung - Wo genau kann ich das eventuell festmachen? Antwort: Eventuell über die Untersuchung der konstruierten verborgenen Welten
5. Notizen zu den Texten/ Formaler Aufbau
Martenstein - Über späte Abtreibungen
Fleischhauer - Abtreibung Wen wir leben lassen
Fleischhauer - Der neue Kampf um den §218
Welche Welten werden jeweils aufgebaut?
- Martenstein: Der sich entwickelte Umgang mit Abtreibung ähnelt der Massentötung von als unwert angesehenem Leben. Vor dieser muss gewarnt werden.
- Fleischhauer: Abtreibung findet aufgrund des Tabus im Verborgenen statt. Das Ideal der Inklusivität verschleiert, dass behinderte Kinder abgetrieben werden.
- Kelle: Es gibt einen lukrativen Plan, um die Zahl der Abtreibungen zu erhöhen. Dabei sind Ärzt*innen, Feminist*innen und Politiker*innen beteiligt. Abtreibung soll normalisiert werden.
- Schröder: Potenzielles psychisches Leid von Menschen, die abgetrieben haben, wird von Abtreibungsbefürworter*innen rhetorisch ignoriert, um Abtreibung als unproblematisch darzustellen.
6. Leitfrage: Was passiert im Verborgenen?
Zu Beginn des Codieren bin ich noch nicht sicher auf was ich mich konzentrieren möchte - die häufige Nutzung von Ironie als Mittel zur Provokation um den*die Leser*in direkt anzusprechen? Die Art und Weise wie über den Fötus gesprochen wird? Welche Personen/Parteien/Diskurse genannt werden? Welche Emotionen die Kolumnist*innen dabei persönlich äußern? (Letzteres immer noch interessant). Also habe ich erst einmal alles, was auf diese Fragestellungen passen könnte, markiert. Ausgehen von der Beobachtung, dass in den Texten oft von einer Ignoranz der Gesellschaft die Rede ist, habe ich mich gefragt: Was wird ignoriert? Was passiert laut den Kolumnist*innen bezüglich Abtreibungen in unserer Gesellschaft gerade? Wie ist die soziale Welt aufgebaut, die die Autor*innen an die Leser*innen vermitteln?
Auf Rat des Seminares habe ich bei der Vorstellung meiner Überlegungen den Code „Etwas passiert im Verborgenen“ genauer angesehen. Damit erledigen sich dann auch Fragen „Wie genau/offen sollen Codes sein?“ während des Codierungsprozesses. Die Antwort auf solche Fragen hängt wohl von der Forschungsfrage und dem Textmaterial selbst ab. Sobald ich mich an einer Frage orientieren kann, fällt es mir leichter, mit diesen dann auch zu arbeiten und Muster zu erkennen.
7.1. Analyse
Um einer Beantwortung der Leitfrage näherzukommen, sollten zuerst Zusammenhänge in der Phänomenstruktur der Texte verdeutlich werden. Hier zu schreibt Keller: „Der Begriff der Phänomenstruktur bezieht sich darauf, dass Diskurse in der Konstitution ihres referenziellen Bezuges unterschiedliche Elemente benennen und zu einer spezifischen Gestalt der Phänomenkonstitution, einer Problemstruktur- oder -Konstellation verbinden.“ (Keller 2011, S. 103). Im Bezug auf die Vorstellung, dass die Autor*innen Welten aufbauen, kann man hier versuchen, die Merkmale dieser Welten als Struktur zu formulieren. Eine persönliche Notiz zu einem möglichen Merkmal lautet demnach: „Wenn etwas verschleiert wird, muss es eine WAHRHEIT geben. Diese wird von den Kolumnist*innen angedeutet oder ausgesprochen. So verortete Fleischhauer z.B. die Wahrheit in Medizinbüchern“ Um die Welten vergleichbar zu machen soll also festgehalten werden, was von den Kolumnist*innen als „tatsächlich“ dargestellt wird. Zudem sollen die beteiligten Akteur*innen und die Merkmale/der Vorgang des verborgenen Geschehen notiert werden.
WAS passiert im Verborgenen | Wer ist beteiligt/ hat Interesse am Verborgenen? | Was/Wo ist die Wahrheit? (laut den Autor*innen) | |
---|---|---|---|
Fleischhauer 2 | „erbitterter Kampf“ | Befürworter*innen und Gegner*innen des §218 | eigentliches Ziel ist die Abschaffung/Beibehaltung des §218 |
Fleischhauer 1 | Behindertenfeindlichkeit der Gesellschaft, wahre Abtreibungszahlen sind „düsteres Geheimnis“ | Gesellschaft schweigt und verdrängt, um sich nicht mit dem Thema Abtreibung und/oder Behinderung auseinandersetzen zu müssen | Wahrheit lässt sich in Medizinbüchern/Wissenschaft finden, denn: Fötus ist nicht Zellhaufen, sondern Mensch |
Schröder | Feminist*innen bringen Menschen zum Schweigen, die Leid beklagen | Feminist*innen ist „Selbstbestimmung“ wichtiger als das abgetriebene Kind und wollen negative Folgen verdrängen und verschweigen | Menschen, die abgetrieben haben, leiden oft an psychischen Folgen, Wahrheit darüber kann durch Studie(n) herausgefunden werden |
Martenstein | Vergleich zur Euthanasie im 3. Reich - ungeborenen Kinder werden zum „unwerten Leben“ | „Linke“ als „neue Rechte“, die Bevölkerungsgruppen den Wert des Lebens absprechen | Möglichkeit der Einführung einer sogenannten „after-birth-abortion“ |
Kelle | §219a soll durch geplante Öffentlichkeit gekippt werden, Abtreibung wird zur medizinischen Dienstleistung banalisiert | Ärzt*innen verdienen an Vornahme von Abtreibungen, Forscher*innen in der Medizin und Medikamentenproduktion „nutzen“ „tote Föten“ | Es ist einfach, sich über Abtreibungen zu informieren, |
7.2. Gemeinsame Motive der Kolumnen
1. Kampfmetaphern/Gewaltmotive:
- Vergleich zu Nazizeit („Lebensunwertes Leben, so hieß das Mal“) – Martenstein
- „Der feministische Furor“ – Schröder
- „Die feministische Community dreht durch“ - Schröder
- „Der Kampf wird im Verborgenen erbittert geführt“ – Fleischhauer 2
- „kann man getrost als öffentliche Hinrichtung bezeichnen“ – Fleischhauer 2
- „Zum Schweigen bringen“ - Fleischhauer 2
- „um ihr Vorhaben durchs Parlament zu prügeln“ – Kelle
- „muss die Allerweltswaffe her“ („Nazikarte“) – Kelle
- Bezug auf Nazizeit als Entstehung von profamilia -Kelle
2. Klare Gegenüberstellung von „Teams“
Autor*in | Team 1 | Team 2 |
---|---|---|
Fleischhauer 1 | „wir als Gesellschaft“/keine explizit genannten Gruppen | Jens Spahn als Schweigensbrecher |
Fleischhauer 2 | §218 Befürworter*innen, der (juristische) Staat | „Die Reformer“ - Jusos mit den polit. Komplizen FDP, Grüne, Linke, Feminist*innen, Personen öffentlichen Lebens (Fernsehcomedian) |
Kelle | Lebensschützer*innen | „Abtreibungsaktivisten“, Kristina Hänel, Heiko Maas (SPD) |
Martenstein | „Ich“ | „andere Seite des politischen Spektrums“ (als Nazizeit) –> Linke, demokratische Politikerin |
Schröder | Jens Spahn und seine Studie, trauerende Frauen, die abgetrieben haben | Feminist*innen, unterstützt von SPD, Linke, Grüne und FDP |
Es fällt auf: Alle Autor*innen (außer der Fleischhauer 1-Text, der sich eher mit dem binären System Schweigen-Schweigensbrecher beschäftigt) positionieren sich feindlich zu feministischen und linken Aktivist*innen. Das macht Sinn, da sich alle aufgrund ihrer Einbindung in ein politisch konservatives Milieu gegen eine Lockerung des Abtreibungsgesetzes aussprechen. Damit geht jedoch hier einher, dass sie sich als Person - als Erzähler*in - selbst in einer Gegengruppierung einbinden. Sie berichten also nicht von der Gegenüberstellung der beiden „Teams“, sondern konfrontieren das ANDERE Team rhetorisch. Die lesende Person wird jeweils in das Team des*der Autor*in miteinbezogen. Aufgrund dieser Sprecher*innenposition der Kolumnist*innen sind diese überhaupt in der Lage ihre soziale Welten aufzubereiten.
3. Rolle der Gesellschaft: bystanders ohne Agenda durch SCHWEIGEN
- „Wir haben uns als Gesellschaft darauf verständigt, darüber lieber nicht zu reden“ (Fleischhauer 1)
- „Deshalb gilt auch jeder als Störenfried, der, wie der neue Gesundheitsminister Jens Spahn, daran erinnert, dass Abtreibung Unrecht bleibt“ (Fleischhauer 1)
- „Niemand würde öffentlich sagen, dass er Behinderung als Strafe empfindet.“ (Fleischhauer 1)
- „Eine Partei, in der Menschen niedergemacht werden, weil sie ihre moralischen Bedenken äußern, hat jedenfalls ein Problem“ (Fleischhauer 2)
- „Wenn die Befürworter der Abschaffung des Paragrafen behaupten, Frauen hätten durch den Paragrafen 219a nicht oder nur erschwert die Möglichkeit, sich über eine Möglichkeit der Abtreibung in ihrer Nähe zu informieren, sind sie entweder dämlich oder verschweigen die Wahrheit“ (Kelle)
- „Aber die Erklärung, wieso ein Kind einen Tag vor der Geburt ein anderer Mensch ist als einen Tag danach, bleiben die Befürworter dieser Barbarei schuldig.“ (Martenstein)
- „Negative psychische Folgen von Abtreibungen darf es schlicht nicht geben, weil (…) noch nicht einmal zugesteht, dass dieses Recht bei einer Abtreibung gegen Rechte des ungeborenen Kindes abgewogen werden muss.“ (Schröder)
- „Was es aber nicht gibt, dessen Verlust kann auch keine psychischen Folgen haben.“ (Schröder)
4. Mittel des Pushen nach links: rhetorische Verschleierung als Waffe
Welche rhetorischen Verschleierung werden als Beispiele genannt?
- „after-birth-abortion“ –> „Mord“ (Martenstein)
- „Schwangerschaftsabbruch“ –> Abtreibung (Fleischhauer)
- „Zellhaufen“ –> Fötus (Schröder)
8. Auswertung
Die Analyse der gemeinsamen Muster der aufgebauten Welten der Kolumnen hat gezeigt, welche beiden Schwerpunkte sich herausbilden. Zunächst wurde klar, dass in allen Kolumnen von angeblichen sozialen Tatbeständen berichtet wird, die entweder ohne Wissen oder ohne Handlungsmöglichkeit der Mehrheitsgesellschaft stattfinden. Diese Welt kann jedoch verschieden ausgestaltet werden. So zeigen die Texte von Fleischhauer, Kelle und Schröder durch eine Nutzung von Kampf- und Gewaltrhetorik ein Vorgehen mit einem politischen „Tauziehen“ zwischen sogenannten Lebensschützer*innen und Abtreibungsbefürworter*innen. Der „Krieg“ um die Abschaffung/Beibehaltung von §218 und die Deutungsmacht über die Moralität von Abtreibung tobt laut den Autor*innen hier offen und fordert indirekt ein Eingreifen der lesenden Person. Martenstein beschreibt im Gegensatz dazu einen fast heimlichen und reibungslosen Vorgang, der jedoch als Übergang in eine gewaltvolle Zukunft (Vergleich zu Euthanasie) gedeutet wird. Auf der anderen Seite fällt das Motiv des Schweigens auf - hier vollzieht sich der politische Kampf abseits der Sichtweite der Gesellschaft. Hier steht der*die Bürger*in als stille*r Mitkompliz*in da, die*der einerseits machtlos dem Geschehen gegenüber steht, andererseits (wie bei Fleischhauer 2) aktiv am Verstecken der Wahrheit über die Amoralität des Schwangerschaftsabbruches beteiligt ist.
Die Kombination aus der Darstellung eines lauten Kampf um kulturelle Deutungsmacht und einem bedrohlich wirkendem Schweigen lässt sich also als eines der Hauptmerkmale der Kolumnen herausstellen. Einerseits wird ein einfaches, zweiteiliges System konstruiert, in dem gut (Lebensschützer*innen) und böse (Feminist*innen, Linke) sich gegenüberstehen, andererseits können durch das Andeuten einer tieferen Wahrheit durch das Motiv des (Ver-)Schweigens andere Machenschaften nahegelegt werden. Weitergehen könnte man die Deutung wagen, dass diese beiden Argumentationsstränge alle Bereiche des öffentlichen Lebens (laut und öffentlich, sowie leise und geheim) abdecken und somit als Affekt eine Art Ohnmachtsgefühl bei dem*der Leser*in hervorrufen können.
Andere Aspekte, die ich als relevante Ergebnisse betrachte, sind die Verwandtheit zum Diskurs der rhetorischen Verschleierung und der Fokus auf die Hinaufbeschwörung potenzieller „Unheilsszenarien“ (z.B. steigende Abtreibungszahlen (Kelle) oder eine Praxis wie die der Euthanasie im 3. Reich (Martenstein)). Diese Beobachtungen könnten Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.
9. Literatur
Clarke, Adele: Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn, Wiesbaden 2012.
Keller, Reiner: Diskursforschung, Wiesbaden 2011.
Viehöver, Willy: Diskurse als Narrationen, in: Keller, Reiner; Hirseland, Andreas; Schneider, Werner; Viehöfer, Willy (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 2: Forschungspraxis, Opladen 2003, S. 177-206.