Inhaltsverzeichnis
Übungsprojekt Diskursanalyse: Öffentliche Abtreibungsberichte von Frauen*
Hintergrund
Im Jahr 1971 publizierte die deutsche Wochenzeitung STERN die von Alice Schwarzer initiierte Titelkampagne „Wir haben abgetrieben!“ 1). Dabei handelt es sich um ein öffentliches Bekenntnis von über 300 prominenten und nicht prominenten Frauen zum illegalen Schwangerschaftsabbruch. Die Kampagne wird in einem Atemzug mit dem Beginn der Frauenbewegung der 1970er Jahre genannt. Im Jahr 2015, gut vier Jahrzehnte später, weist Ulrike Busch auf die fortbestehende „Stigmatisierung von Abtreibung in der Gesellschaft“ und das daran gekoppelte „Wegfallen der selbstbewussten Besetzung dieses Themas im öffentlichen Diskurs … im Vergleich mit den feministischen Positionierungen in den 1970er und 1980er Jahren“ hin 2). Busch beobachtet zudem eine Individualisierung des Themas 3). Aus Anlass der Bundestagsdebatte von Anfang 2018 bis Anfang 2019 zur Änderung des §219a, welcher jegliche Werbung für den Schwangerschaftsabbruch verbietet, wurde über das Thema Schwangerschaftsabbruch und auch über den Paragrafen 218 erneut öffentlich debattiert. Nach §218 Strafgesetzbuch (StGB) ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland grundsätzlich für alle Beteiligten strafbar. Der Eingriff ist lediglich unter zwei Ausnahmebedingungen straffrei: erstens, wenn die schwangere Person vor dem Abbruch an einer Schwangerschaftskonfliktberatung nach der Beratungsregelung nach § 218a Abatz 1 StGB teilnimmt und zweitens, wenn eine medizinische oder kriminologische Indikation vorliegt. Ein Schwangerschaftsabbruch ist folglich im halblegalen Raum angesiedelt 4), was in Konsequenz durchführende Ärzt*innen sowie die schwangeren Personen, die damit ein Delikt begehen, bis heute stigmatisiert und die gesellschaftliche Akzeptanz des medizinischen Eingriffes hemmt. Erzählt eine Person von ihrem erlebten oder durchgeführten Schwangerschaftsabbruch, handelt es sich folglich immer auch um einen Tabubruch.
Der Journalismus versteht sich in Deutschland als Vierte Gewalt, welche die politische Meinungsbildung der Menschen aktiv beeinflusst. Er stellt Öffentlichkeit für relevante und gesellschaftskritische Themen her, so auch für die Perspektive von Frauen*, die sich zu einem erlebten Schwangerschaftsabbruch äußern. Das vermehrte Auftauchen dieser Art von journalistischen Beiträgen im Rahmen der Debatte zur gesetzlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen ordnen wir hypothetisch als Phänomen beziehungsweise Phänomene des Diskurses um §218 beziehungsweise um §219a ein. Rainer Keller macht darauf aufmerksam, dass diese diskursiven Gegenstände, in diesem Fall öffentliche Bekenntnisse, „in ihrer spezifischen Gestalt erst durch den Diskurs geschaffen werden“, und daher nicht als eindeutige Indikatoren eines Diskurses betrachtet werden können 5). Daher soll uns das öffentliche Bekenntnis als „Referenzphänomen“ dienen, von welchem aus wir unseren „Suchprozess“ beginnen 6). So soll der Ausgangspunkt der Forschungsarbeit die Analyse von Bekenntnissen, veröffentlicht in den Jahren 2018 und 2019, dem Zeitraum der Bundestagsdebatte, sein. Der Datensatz soll hinsichtlich des politischen Meinungsspektrums, welches die verschiedenen Zeitungen und Magazine abbilden, heterogen sein. Im Rahmen der Diskursanalyse soll schließlich der Fokus der Betrachtung auf den abgebildeten Deutungsschemata, sowie moralischen Wertungen im Rahmen des institutionellen und zeithistorischen Kontexts ihres Erscheinens liegen. Daraus ergibt sich für uns folgende Forschungsfrage:
Forschungsfrage
Welche (De-)Legitimierungsmuster hinsichtlich des Abbruchs einer Schwangerschaft werden in journalistischen Beiträgen über Berichte und Bekenntnisse von Frauen* über beziehungsweise zu dem Eingriff abgebildet?
Subfrage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen spezifischen Legitimierungsmustern und dem sozial-historischen sowie dem institutionellen Kontext der Aussagen?
Datenkorpus
Auswahlkriterien in Stichworten:
- Bezug zur BRD
- Zeitraum 2018/19
- journalistische Beiträge über Berichte und Bekenntnisse von Frauen* zum Schwangerschaftsabbruch
Nachdem wir zunächst nur mit wenigen Suchbegriffen - „Ich/Wir habe(n) abgetrieben“ - den Datenkorpus zusammengestellt haben, haben wir noch einmal einen neuen Suchvorgang über die Pressedatenbank GENIOS gestartet. Dies rührt daher, dass Frauen* oftmals nicht explizit diese Statements verwenden, um sich öffentlich zu einem Schwangerschaftsabbruch zu bekennen, aber dennoch Teil des von uns untersuchten Diskurses sind. Eine Beschränkung der Suchbegriffe allein auf die beiden oben genannten Statements hätte die Datenzusammenstellung entscheidend geschlossen und eventuell wichtige kontrastierende Aussagen des Diskurses ausgeschlossen. Darum haben wir den Datenkorpus durch weitere Berichte unterschiedlicher Quellen aus dem Zeitraum 2018/2019 mit Bezug zur BRD um folgende Suchbegriffen ergänzt: „sie hat abgetrieben“, „Kind nicht bekommen“ sowie „Abtreibung“ und „Schwangerschaftsabbruch“.
Da das Übungsprojekt zeitlich und finanziell sehr beschränkt ist, verzichteten wir auf eine umfassende Recherche in Printmedien, sowie eine Analyse von Videos und nicht-journalistischen Texten wie beispielsweise Blogs und Ratgeberseiten. Zudem wollen wir die (De-)Legitimierungsmuster hinsichtlich des Abbruchs einer Schwangerschaft gegenüber der breiten Gesellschaft, also außerhalb des interessenbezogenen (sicheren) Rahmen eines Online Blogs untersuchen.
Der Korpus enthält kontrastreiches Material. So können wir Aussagen von beziehungsweise über einzelne Frauen*, die abgetrieben haben mit kollektiven Berichten und Statements vergleichen. Zudem enthält der Korpus zu vergleichende Artikel aus dem liberalen und konservativen Medienspektrum, des Informationsjournalismus aber auch des Unterhaltungsjournalismus und begrenztes Kontrastmaterial aus dem Jahr 1971, in welchem ebenfalls eine Bundestagsdebatte, damals zum Paragraphen 218, stattfand. Nach vorläufigem Abschluss unserer Datenerhebung haben wir eine Korpusübersicht in Form einer Tabelle angelegt.Die Tabelle ist in folgende Spalten gegliedert: Name, Datum, Medium (mit Beschreibung), Autor*innenschaft und Fallzusammenfassung. Diese erste und grobe Übersicht hat ergeben, dass unser Material 21 Texte umfasst, welche unsere Auswahlkriterien erfüllen. Dabei handelt es sich meist um persönliche Erfahrungsberichte oder Interviews aus der ich- beziehungsweise wir-Perspektive (17) und um Berichte oder Artikel aus der sie-Perspektive (4). Zehn der Texte stammen aus dem Jahr 2019, acht aus dem Jahr 2018, einer aus dem Jahr 1971 und bei zwei der Texte war das Erscheinungsjahr nicht ersichtlich. Lediglich sechs Artikel enthielten den ursprünglich gesuchten Term “Ich habe abgetrieben” beziehungsweise nur einmal “Wir haben abgetrieben” (Originalartikel aus dem Jahr 1971). Im Verlauf der Analyse schlossen wir Berichte, welche vor 2018 erschienen oder deren Erscheinungsdatum nicht bekannt ist. Zudem verzichteten wir aus zeitlichen Gründen auf eine für die Sättigung relevante Erweiterung des Materials mit kontrastreichen Daten aus Blogs und Ratgeberseiten.
Für unserere Feinanalyse haben wir sieben Artikel aus unserem Datenkorpus nach den Reglen zur Auswahl von Daten für eine Diskursanalyse nach Keller ausgewählt.
Analytisches Vorgehen
Als methodischen Leitfaden orientierten wir uns zunächst dicht an den vorgeschlagenen Analyseschritten von Rainer Keller: So begannen wir zunächst mit der „Festlegung des oder der zu untersuchenden Wissensfelder- bzw. Diskursfelder“ im Rahmen der Auswahl entweder eines Themas, des institutionellen Settings oder eines bestimmten Akteurs 7). Und legten uns dabei auf das institutionelle Feld journalistischer Beiträge fest, die in Form von Berichten und Bekenntnissen über und von Frauen das Thema ‚Schwangerschaftsabbruch‘ behandeln.
Diesem Schritt folgt laut Keller eine erstmalige Formulierung der Forschungsfrage, welche im Verlauf der Forschung abgeändert und präzisiert werden kann. So formulierten wir nach erstmaligem Überblick über unseren Datenkorpus die vorläufige Fragestellung:
Welche (De-)Legitimierungsmuster hinsichtlich des medizinischen Eingriffs zum Abbruch einer Schwangerschaft werden in journalistischen Beiträgen über Berichte und Bekenntnisse von Frauen über beziehungsweise zu dem Eingriff abgebildet?
Die Frage nach (De-)Legitimationsmustern und die Verwendung des Begriffs Bekenntnis diskutierten wir kritisch, da ihr die feste Annahme unterliegt, dass sich die Betroffenen grundsätzlich bekennen, legitimieren oder delegitimieren. Der erstmaligen Formulierung einer Forschungsfrage folgt nach Keller die Bestimmung der Untersuchungsgrößen, deren diskurstheoretische Konzeption und die entsprechend auszuwählenden Datenerhebungs- und Auswertungsverfahren, sowie die Informationsbeschaffung über das Untersuchungsobjekt anhand wissenschaftlicher und populärer Literatur und schrittweise Zusammenstellung des Datenkorpus, der bei Bedarf im Laufe der Analyse noch erweitert werden kann. Um die Daten also nun in einen Kontext zu setzten, erstellten wir für jeden unserer 21 Cases eine Tabelle zu den drei von Keller vorgeschlagenen Kontextdimensionen, welche im folgenden Kapitel näher erklärt werden.
Mit einer genaueren Kenntnis über die Daten fielen uns dann viele Ähnlichkeiten in der Darstellungsform der Berichte auf. Diese Überschneidungen versuchten wir durch das Kodieren der Texte genauer zu erfassen. Aus der Textarbeit entwickelten wir die folgenden Codes: Tabelle der Codes und deren Erläuterung
Besonders prägnant erschien uns dabei die Auswahl und Wirkung der Schlagzeilen, weswegen wir uns festlegten, die Analyse auf diese zu beschränken. Um dennoch aussagekräftige Ergebnisse zu erlangen, bezogen wir eine große Auswahl an Cases für die abwechselnden Feinanalyse der Schlagzeilen und der ersten Hypothesenbildungen ein. Die Schlagzeilenanalyse ergänzten wir durch die von Keller vorgeschlagene Deutungsmusteranalyse, um das Verständnis der Betroffenen über die verwendeten Konzepte (wie Schwanger werden, individueller Positionierung, Subjekt/ Objekt der Schwangerschaft bzw. der Abtreibung) herauszuarbeiten.
Der Analyse folgt eine abschließende Zusammenfassung und Interpretation des Forschungsprozesses und der daraus folgenden Ergebnisse. Diese ermöglicht nicht nur eine Beantwortung der Forschungsfrage, sondern auch einige erste Aussagen über den bzw. die von uns untersuchten Diskurse.
Kontextanalyse
“Die sozialwissenschaftliche Diskursforschung ist […] keine reine Textforschung: sie interessiert sich für den sozialen Zusammenhang von Sprach- bzw. Zeichengebrauch und Bedeutungsproduktion als Grundlage der Objektivierung gesellschaftlicher Wissensvorräte.” 8). Und so bezieht sich unsere Forschungsfrage, beziehungsweise insbesondere die Subfrage (Gibt es einen Zusammenhang zwischen spezifischen Legitimierungsmustern und dem sozial-historischen sowie dem institutionellen Kontext der Aussagen?), schwerpunktmäßig auf den institutionellen und sozial-historischen Kontext der Aussagen. Darum beginnen wir, wie von Keller empfohlen, mit der „Analyse ihrer sozialen Situiertheit“9), um zu untersuchen „wer wie wo und für wen eine Aussage produziert“ 10). Keller unterscheidet folgende drei Kontextdimensionen, welche wir in Form einer Tabelle Analysetabelle nach den Kriterien der Kontextanalyse von Reiner Keller (Vorlage) zusammengestellt haben, um uns einen Überblick über die soziale Situiertheit der Daten zu verschaffen, sowie diese zu analysieren: Zunächst gibt es den historisch-soziale, zeitdiagnostischen Kontext, welche fragt „In welchem – auf die Fragestellung hin spezifizierten – zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext wurden die Aussagen getroffen bzw. die Daten (Texte) erzeugt? Was sind die wichtigsten Merkmale?“ 11). Der institutionell-organisatorischer Kontext bezieht sich auf folgende Fragen: „In welchem institutionellen Feld und organisatorischen Setting sind die Daten entstanden? Was sind besondere Strukturmerkmale, Regeln und Textformate dieses Feldes? In welcher Auflage und für welches Publikum wurden die Texte verfasst? Wie werden sie verbreitet? Welche Sprachformen, Themen, Machtverhältnisse sind charakteristisch für dieses Feld?“ 12). Leitfragen der Analyse des situativen Kontexts sind schließlich: „Wer ist als konkreter Autor, Verfasser, Verantwortlicher für ein Dokument benannt? Von welcher institutionell-organisatorischen und situativen Position heraus wurde der Text verfasst? Wie sieht der konkrete Zusammenhang von Produktions- und Rezeptionskontext, die Rede-, Schreib- und Aufnahmesituation aus?“ 13). In folgender Übersicht sind die Ergebnisse der Kontextanalyse exemplarisch für sieben Artikel dargestellt, welche besonders im Fokus der Feinanalyse stehe. Die Kontextanalyse ordnen wir in unserem Analyseprozess vor allem als explorativen Zugang zu den Daten ein, welcher uns die Auswahl der Textstellen für eine detaillierte Feinanalyse ermöglichte.
- Historisch-sozialer, zeitlicher Kontext:
Die Regelung zur Kostenübernahme eines Schwangerschaftsabbruchs ist Thema der Artikel. Die gültige Regelung 2019 lautet: “Die Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs aufgrund einer medizinischen oder kriminologischen Indikation werden bei krankenversicherten Frauen von der Krankenkasse getragen. Bei einem Schwangerschaftsabbruch nach der Beratungsregelung werden die Kosten nicht von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen.” 14). Außerdem wird die Bundestagsdebatte um §219a genannt, welche jegliche jegliche Werbung für den Schwangerschaftsabbruch unter Verbot stellt. Dies verkompliziere laut der Artikel die Suche nach Ärzt*innen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Aber nicht nur der kürzlich beschlossene § 219a ist Gegenstand der Artikel, auch der §218, der die Rechtslage zu der Abtreibung regelt, wird thematisiert. Hier wird häufig die Differenz zwischen Rechtswidrigkeit und Straffreiheit hervorgehoben, da diese den Betroffenen einen begrenzten Freiraum bietet.
- Institutioneller Kontext:
Die ausgewählten Artikel entstammen einem heterogenen Feld an Magazinen und Zeitschriften. So finden sich Artikel … … aus feministischen Magazinen, welche sich vor allem mit den Themen „Politik, Gesellschaft, Kultur, Entertainment und LGBTQ“ beschäftigen, … Artikel aus Lokalzeitschriften, die sich mit lokalen Themen, Kultur und Freizeit und Nachrichten widmen … sowie Artikel aus überregionalen Onlinemagazine, die sich vorrangig mit Themen der Politik, dem Sport und Panorama beschäftigen. …Zudem bilden Publikumsmedien wie Gala und BRIGITTE, die hauptsächlich Themen zu Mode, Gesundheit, Liebe, Familie und Leben schreiben. Die Sprachformen der Artikel kann meist als in einer einfach geschriebenen Sprache, die teilweise umgangssprachliche Elemente enthält charakterisiert werden. Im feministischen Spektrum konnten wir auch Artikel finden, die in genderneutraler Sprache geschrieben wurden. Die Titel der Publikumszeitschriften bestehen im Gegensatz zu anderen Schlagzeilen teilweise aus Ellipsen beziehungsweise nicht aus grammatikalisch vollständigen Sätzen.
- Situativer Kontext:
C2: Der Artikel wurde von Luisa Schneider und Anna Blitzner verfasst. Anna Blitzner hat bereits acht Artikel im Zeitraum von November 2018 bis Januar 2019 für das eher feministisch und links ausgerichtete Online-Magazin Vice geschrieben. Die Themen der Artikel handeln von Bedingungen in der Ausbildung, der Wohnungssuche und von Beziehungsproblemen. Für Luisa Schneider war dieser Artikel der (bisher) einzige, den sie für das Magazin geschrieben hat.
C8: Die nicht-feministische eher konservative Lokalzeitung die Neue Westfälische bezieht sich in ihrer Kurzreportage vom März 2019 auf den Weltfrauentag, die Bundestagsdebatte um §219a und auf Erhebungen des Statistischen Bundesamts von 2018 zu Schwangerschaftsabbrüchen.
C9, C19: In den Artikeln des Magazins Stern.de (C9) von Juni 2019 und dem Artikel der Populär-Zeitschrift Gala.de (C19) von August 2018 wird explizit kein Bezug zu gesellschaftlichen Kontexten hergestellt. Der Artikel C9 wurde von Kulturredakteur Martin Heidböhmer verfasst. Er schreibt für die stern-Rubrik „Unterhaltung“ mit Themenschwerpunkt auf der Medienlandschaft insbesondere dem Fernsehen.
C12: Das Portal Spiegel Online ist eines der reichweitenstärksten Nachrichtenportale Deutschlands. Der hier vorliegende Artikel wurde von einer anonymen Person verfasst.
C13: Der Artikel ist in dem feministischen Magazin Edition F erschienen und wurde von der politisch aktiven Wirtschaftsinformatikerin Laura Dornheim geschrieben. Charakterisieren ist, dass der Artikel nicht nur über sondern auch von einer Frau des öffentlichen Lebens geschrieben wurde.
C20: Die Autorin Christiane Kolb schreibt für das Frauenmagazin BRIGITTE.de überwiegend zu den Themen Abtreibung und des Sexismus.
Feinanalyse der Schlagzeilen
Die journalistischen Artikel von und über Personen, die eine Abtreibung erlebt haben und sich dazu öffentlich äußern, sind in ihrer Erscheinungsform heterogen. So sind die Schreibenden teilweise die Personen selbst und teilweise Redakteur*innen. Letztere sind vermutlich immer an der Formatierung des Textkörpers, der Auswahl der Textstellen sowie der Setzung von Schlagzeile und Unter- und Zwischenüberschriftn beteiligt. Die Schlagzeile und Unter- und Zwischenüberschriftn haben die Funktion, die Aufmerksamkeit der Betrachtenden zu erreichen, welche besonders bei der Auswahl von Artikeln in Online-Magazinen zwischen einer großen Anzahl an möglichen Artikeln flüchtig vergleichen und entscheiden. Sie brechen den wesentlichen Inhalt des Fließtextes auf einen knappen Satz oder lediglich Worte herunter und sind auf die relevanteste und – vor allem in populären Medien – auf die brisanteste Information reduziert. So werden Schlagzeilen mit dem Ziel der öffentlichen Wirksamkeit bewusst gesetzt und markieren ein besonderes und damit erzählenswertes Ereignis. Ausgehend von unserer Forschungsfrage nach der Art und Weise der Darstellung von Abtreibungsberichten möchten wir daher analysieren, welche Aspekte in diesem Zusammenhang als besonders relevantes Ereignis durch eine Schlagzeile markiert werden. Im Zuge der Analyse verglichen wir, ausgehend von einer Feinanalyse der Überschriften von C4, C8, C9, C12, C13, C19 und C20, die Hauptschlagzeilen aller Fälle. So konnten wir nach und nach erste diskursanalytische Schlüsse aus den Daten ziehen.
Deutungsmusteranalyse
Die Deutungsmuster sind nach Keller “Interpretationsschemata oder -rahmen (frames), die für individuelle und kollektive Deutungsarbeit im gesellschaftlichen Wissensvorrat zur Verfügung stehen und in ereignisbezogenen Deutungsprozessen aktualisiert werden.” 15). Ein Deutungsmuster “visiert den sozial typischen Sinn einer Aussageeinheit an, also gesellschaftlich vorübergehend konventionalisierte Deutungsfiguren.” 16). Zur Erfassung der Deutungsmuster haben wir die Daten nach der Methode der Interpretativen Analyse kodiert. Die Interpretative Analyse nach Udo Kuckartz Keller beschreibt die Spezifik der Diskursforschung wie folgt: „[s]ie berücksichtigt die situativen Sinngehalte im direkten Äußerungszusammenhang, zielt aber letztlich auf den allgemeinen Inhalt, wie er als typischer im Rahmen eines sozialen Kollektivs beschrieben werden kann“ 17). Dahingehend wollen wir im Rahmen einer “inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse” nach Udo Kuckartz die Aussageinhalte zunächst erschließen 18).
- Initiierende Textarbeit
- Entwickeln von thematischen Hauptkategorien.
- Erster offener Codierprozess in Form der Vergabe von In-Vivo-Codes
- Zusammenstellung aller mit der gleichen Hauptkategorie codierten Textstellen
- Induktives Bestimmen von Subkategorien am Material.
- Codieren des kompletten Materials mit ausdifferenziertem Kategoriesystem.
Im Anschluss an die initiierende Textarbeit in Form der Kontextanalyse entwickelten wir folgende thematische Hauptkategorien:
Um mit dem Ergebnis der Beantwortung unserer Fragestellung nach abgebildeten (De-)Legitimierungsmustern näher zu kommen, konzentrierten wir uns auf die Analyse der die In-Vivo-Codes der Kategorie ‘individuellen Positionierung’. Bei der Rekonstruktion der Deutungsmuster haben wir uns an Michael Meusers und Reinhold Sackmanns (Hrsg.) Arbeit “Analyse sozialer Deutungsmuster Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie” (1992) orientiert. Dazu haben wir zunächst in der beigefügten Tabelle alle Textstellen der codierten Artikel zusammen getragen: Kategorie "Individuelle Positionierungen" Aus dem Vergleich der vorliegenden Textstellen ergaben sich folgende Schlüsse:
Ergebnisse
Kontextanalyse
Die zu Beginn des Analyseprozesses stehende Kontextanalyse hat ergeben, dass die Abtreibungsberichte heterogen dargestellt werden. So erscheinen sie in Form von Wiedergaben der Geschehnisse eines medialen Formats und werden dahingehend als berichtenswerter Moment für die Berichterstattung ausgewählt. Andererseits werden Berichte durch Nacherzählung und Zitation in allgemein zum Thema informierende Artikeln eingebettet. Berichte an sich werden von den Erzählenden selbst verfasst oder von Redakteur*innen protokolliert beziehungsweise schriftlich dargestellt. Unter den letzten zwei Formaten finden sich zudem Artikel, welche explizit Bezug zur politischen Debatte um Abtreibung Stellung nehmen (C7, C8, C9). Die Artikel erscheinen in vor allem in offiziell neutralen Nachrichtenmagazinen, wie der Stern oder Spiegel Online, zudem gibt es Beiträge von Zeitschriften für ein liberales und mitunter jüngeres Publikum, zum Beispiel das feministische Magazin EDITION F oder das Lifestyle- und Jugendmagazin vice. Daneben findet sich in unserem Datenkorpus ein Beitrag der populär-journalistischen Illustrierten Gala sowie der regionalen Tageszeitung Neue Westfälische. Dieses Spektrum an Medien, welche sich in dieser Form im Abtreibungsdiskurs äußern, zeigt, dass Abtreibung und speziell die individuelle Erfahrung im Zeitraum 2018/2019 ein öffentlichkeitswirksames Thema ist, welches von verschiedenen Medien aufgegriffen wird. Hiervon ausgehend wäre für eine weitere Kontextanalyse ein Vergleich mit anderen Zeiträumen interessant, um einen Einfluss der Bundestagsdebatte auf eine Häufung dieser Art von Äußerungen festzustellen.
Schlagzeilenanalyse
Mit Blick auf die Schlagzeilenanalyse lässt sich festhalten, dass alleine das Vorhandensein der journalistischen Beiträge über Berichte und Bekenntnisse von beziehungsweise über Frauen* zum erlebten Schwangerschaftsabbruch zeigt, dass das Sprechen über Abtreibungserfahrungen sagbar ist. Gleichzeitig stellt dieses ein für eine Schlagzeile relevantes Ereignis dar, ist also nicht selbstverständlich und alltäglich. Die These wird von der Tatsache gestützt, dass die Namen der Erzählenden nur teilweise oder gar nicht genannt werden - mit Ausnahme der prominenten, bereits in der Öffentlichkeit stehenden, Personen. Die Einschränkung des Sprechens kann als Effekt der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, sowohl durch das Gesetz als auch durch konservative Gruppen und Politiker*innen eingeordnet werden. Zu einem solchen diskursiven Verbot schreibt Michel Foucault:
“In einer Gesellschaft wie der unseren kennt man sehr wohl Prozeduren der Ausschließung. Die sichtbarste und vertrauteste ist das Verbot. Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann.”19)
Die Darstellung der Berichte in der Öffentlichkeit kann dahingehend als emanzipatorischer Akt gegenüber einem solchen Verbot gesehen werden, welchem die journalistischen Plattformen eine Bühne geben. Allerdings wird dieses Verbot durch die Abbildung der Äußerungen nicht ausschließlich gebrochen, sondern mitunter teilweise bestätigt, wie die Wahl von Mordanschuldigungen anderer (C21) oder die implizite Darstellung der Abtreibung als Sünde (C19) bestätigen. Zudem ist die Intention der Veröffentlichung der Aussage in einigen Fällen kein intendiertes Brechen des Schweigens, sondern ein journalistisch strategischer Zug der Erregung von Aufmerksamkeit (C9, C19).
Ein Verhalten zum Verbot sowie zur Debatte über die moralische Verwerflichkeit von Schwangerschaftsabbrüchen ist implizit Gegenstand der Schlagzeilen. So fanden wir neben den Äußerungen zum erfahrenen Schwangerschaftsabbruch auch damit verbundene Elemente der ausdrücklichen Legitimierung beziehungsweise der normativen Positionierung. Dass die Aussage, einen Schwangerschaftsbruch erlebt zu haben beziehungsweise abgetrieben zu haben, in vielen Fällen nicht allein für sich stehet, sondern durch (De-)Legitimationselemente gestützt werden muss, zeigt, dass diese zwar sagbar, aber mit impliziten mächtigen Vorwürfen und Stigmata von außen verbunden sind, welchen gegenüber sich die Erzählenden verhalten müssen.
Die Schlagzeilenanalyse hat schließlich auch ergeben, dass Abtreibung im Titel vor allem als persönliche Angelegenheit beziehungsweise Entscheidungsgegenstand der Frau* dargestellt wird und nicht beziehungsweise erst im Fließtext in Relation mit einem zweiten Subjekt, wie beispielsweise “ungeborenes Leben” oder “Kind” gesetzt wird. Damit können die Artikel, welche sich größtenteils damit explizit von konservativen Diskursen abgrenzen im liberalen Spektrum verortet werden. Allerdings wäre für eine ausreichende Fundierung dieser These eine Kontrastierung mit Texten aus dem konservativen Spektrum, welche unser Datenkorpus nur begrenzt enthält, notwendig.
Deutungsmusteranalyse
Die Deutungsmusteranalyse hat ergeben, dass die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch als eine lebensentscheidende Frage aufgefasst wird. Diese Entscheidung kann auch als eine Entscheidung zwischen verschiedenen sozialen Rollen gelesen werden. So werden grundsätzlich die Rolle der ‚guten Mutter‘ und der ‚selbstbestimmten, unabhängigen Frau‘ gegenübergestellt. Reue und Schamgefühle werden insgesamt als von außen auferlegte Werte und Erwartungen dargestellt, welche feministische Beiträge versuchen aktiv abzulegen. Erzählende und Autor*innen, die die Abtreibung als legitim betrachten, stellten die Agenda, die Abtreibung von Stigmata zu befreien, zudem in den Vordergrund des Artikels. Dies zeigt sich beispielsweise in Form von verallgemeinernden Aussagen, die sich von der Individualisierung des Themas durch den persönlichen Bericht abheben. Im Gegensatz dazu finden sich jedoch auch Artikel, die die Illegitimität eines Schwangerschaftsabbruchs unterstreichen, beispielsweise durch den ausdrücklichen Ausschluss einer Wiederholung (C4), die Rahmung des Eingriffs als Sünde (C19) oder die Abbildung von Anschuldigenden Argumenten (C21).
Die Aussagen enthalten Deutungsmuster liberaler sowie konservativer Sub-Diskurse des Abtreibungsdiskurses. So kann das Ergreifen von Deutungsmacht hinsichtlich der Legitimität eines Schwangerschaftsabbruchs als implizites Zurückgreifen auf das Deutungsmuster der Selbstbestimmung der Frau* aus dem feministischen Diskurs interpretiert werden. Dies zeigt sich vor allem in den Ich-Aussagen der Schlagzeilen und am deutlichsten im Bericht des feministischen Magazins EDITION F von Laura Dornheimer, welche gezielt Antworten auf konservative Argumentationen in die Erzählung einbezieht. So widerlegt Dornheimer beispielsweise durch die Beschreibung ihrer Erfahrung das von Abtreibungsgegnern verbreitete Bild von erkennbaren Gliedmaßen in der Abtreibungsblutung und verzichtet zudem auf die Bezeichnung eines zweiten Schwangerschaftssubjekts, wie beispielsweise “ungeborenes Kind” oder “Leben”. Somit liegt in diesem Fall, wie auch in den anderen analysierten Berichten, eine direkte Bezugnahme zu konservativen Diskursen vor. Hierfür exemplarisch ist das Deutungsmuster der Rolle als Mutter, welches häufig als die Entscheidung beeinflussender Faktor miteinbezogen wird. Das Verhalten dazu unterscheidet sich jedoch im Grad der aktiven Abgrenzung oder auch Bestätigung dieser.
Ausblick und Fazit
Durch die Methode der sequentiellen Feinanalyse konnten wir erste Thesen zum Phänomen der Abreibungsberichte erzielen, doch ließ der zeitlich begrenzte Rahmen des Seminars weitere spannende Felder unserer Untersuchung offen. So bildete sich für uns im Laufe unseres Forschungsprozesses die Frage heraus, in welcher Form Aussagen über individuelle Abtreibungsberichte in journalistischen Artikeln abgebildet und auch zweckgebunden verwendet werden. Schließlich konnten wir durch die Kodierung weiterer Deutungsmuster typische narrative Elemente herausarbeiten, für deren genaue Erfassung in einer weiterführenden Analyse, sich die Methode der Narrationsanalyse nach Willy Viehöfer eignen würde.
Das Wiki dokumentiert einen Versuch einer diskursanalytischen Betrachtung von Abtreibungsberichten in journalistischen Medien. Zu Beginn der Forschung fokussierten wir uns zunächst auf das Einlesen in Methodenliteratur ohne gute Kenntnis des Datensatzes, welcher sich später jedoch als bedeutender Ausgangspunkt für die Formulierung der Forschungsfrage sowie die Auswahl der geeigneten Methode erwies. Dadurch wurden die zeitlichen Kapazitäten zum Ende des Bearbeitungszeitraums stark begrenzt. Um dennoch einen Großteil des Datenkorpus einschließen zu können, entschieden wir uns für eine explorative Analyse der Schlagzeilen, sowie die Betrachtung lediglich eines Deutungsmusters. So sind die Ergebnisse mehr als erste analytische Schlüsse am Anfang einer umfassenderen und tiefergehenden Diskursanalyse zu verstehen.
Methodenliteratur
Keller, Reiner 2011. Diskursforschung.Wiesbaden: VS Verlag. (siehe Wiki: Begriffübersicht Diskursanalyse nach Keller))
Kuckartz, Udo (2016). Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe.
Daten der Analyse
C2: 2_ich_habe_abgetrieben_und_ich_bereue_nichts_-_vice.pdf
C4: 4_ich_habe_abgetrieben_und_das_war_richtig_aber_ich_wuerde_es_nie_wieder_tun__neon.pdf
C5: c5_ich_fuehle_mich_nicht_wie_eine_moerderin_mono.pdf
C6: 6_5_frauen_erzaehlen_warum_sie_abgetrieben_haben.pdf
C7: 7_abtreibung_frauen_erzaehlen_von_ihren_erfahrungen_davor_und_danach__stern.de.pdf
C8: 8_abtreibung_paderbornerin_erzaehlt_die_geschichte_ihres_ungeborenen_kindes_-_nw.de.pdf
C9: 9_charlotte_roche_spricht_erstmals_ueber_ihre_abtreibung_stern.pdf
C13: 13_edition_f.pdf
C15: 15_ich_habe_abgetrieben_-_supernova.pdf
C16: 16_illegale_abtreibungen_in_den_70ern_ihr_codewort_war_picknick_-_taz.de.pdf
C18: 18_mehr_als_ein_bauchgefuehl.pdf
C19: 19_promi_big_brother_katja_krasavice_beichtet_abtreibung__gala.de.pdf
C20: 20_schuldgefuehle_nach_abtreibung_ich_verachtete_meinen_koerper__brigitte.de.pdf
C21: 21_schwangerschaftsabbrueche_die_krankenschwester_warf_mir_mord_vor__zeit_online.pdf