(Feministische) Standpunkttheorie
Haupttext: Sandra Harding „Rethinking Standpoint Epistemology: What is „Strong Objectivity“?
Dieses Zitat fasst kurz und bündig zusammen, was unter (feministischer) Standpunkttheorie gefasst und unter Objektivität im Sinne dieser Theorie verstanden wird. Ich empfehle, das Zitat nach Ende der Sitzung - beziehungsweise nach dem Lesen des Wikis - noch einmal zu lesen, und auf sich wirken zu lassen.
Worum geht es Sandra Harding?
- Das Problem des konventionellen Konzepts von Objektivität aufzeigen: nicht rigoros und objektivierend genug (NICHT: zu rigoros oder zu objektivierend)
- Aufzeigen, dass vom Standpunkt einer marginalisierten Gruppe auszugehen bedeutet, weniger verzerrte und partielle Darstellungen zu erlangen → Erkenntnistheoretischer Vorteil: zwar keine Garantie für Maximierung von Objektivität ABER sie sind der notwendige (wenn auch nicht ausreichende) Ausgangspunkt, um Objektivität überhaupt maximieren zu können →Erkenntnistheorie (im philosophischen Sinne) fragt immer nach den Bedingungen der Möglichkeit von etwas: →Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Maximierung von Objektivität →Antwort der Standpunkttheorie: Ausgangspunkt von marginalisierter Gruppe aus)
- Standpunkttheoretische Grundlage von Wissen vier anderen Arten gegenüberstellen: „God-trick“, Ethnozentrismus, Relativismus und die „einzigartig Fähigkeit der Unterdrückten, Wissen zu produzieren“
1.Standpoint Theories versus the „God Trick”
Was ist der „God Trick“?
Es handelt sich um einen von Haraway geprägten Begriff, der in folgendem Zitat gut erklärt wird.
→“Furthermore, objectivity understood as impartiality and a „view from above, from nowhere“ is a perspective that under the guise of neutrality, or nowhere (but embracing all), hides a very specific position (male, white, heterosexual, human) and thus makes this position universal.” -Monika Rogowska-Stangret
- Für die Standpunkttheorie ist die Grundlage für Wissen völlig von Geschichte und gesellschaftlichen (sozialen) Gegebenheiten gesättigt/darin getränkt, sie kann nicht davon losgelöst werden.
- God Trick > universelle Aussagen die Neutralität des Aussagenden vermitteln und dadurch die sehr spezielle Position des Aussagetreffenden versteckt VS soziale Situiertheit/ Lokalisierung von Wissen (ist sich dessen bewusst, dass das Wissen die „Fingerabdrücke“ der Gesellschaft trägt, die das Wissen produziert) > Alles Denken der Menschen beginnt mit sozial bestimmtem Leben
Passende Passagen aus dem Text:
→„It is a delusion- and a historical identifiable one- to think that human thought could completely erase the fingerprints that reveal its production process.”
→- “We could say that standpoint theories not only acknowledge the social situatedness that is the inescapable lot of all knowledge-seeking projects but also, more importantly, transform it into a systematically available scientific resource.”
2.Standpoint Theories versus Ethnocentrism
Was ist Ethnozentrismus“?
→Der Glaube an die inhärente Überlegenheit der eigenen Gruppe oder Kultur
* Hardings grundlegende Frage: „Do feminist standpoint theorists argue that the lives oft their own group or culture is superior as a grounds for knowledge?“
*Harding weist diese Anschuldigung von sich.*
→Vertreter*innen der Standpunkttheorie betonen explizit, dass das Leben von marginalisierten Personen, das nicht ihrem eigenen entspricht/nicht ihre Lebensrealität darstellt, bessere Ausgangsvoraussetzungen für bestimmte Arten von Wissen hat/ haben kann
→Der Anspruch (von Frauen), dass das Leben von Frauen einen besseren Ausgangspunkt für Gedanken über das Geschlechtersystem bietet, ist nicht der gleiche wie zu behaupten, ihr eigenes (persönliches) Leben wäre der beste Ausgangspunkt (SONDERN: viele verschiedene auch sich gegenüberstehende/unterscheidende Leben von Frauen bilden diese Grundlage)
→Es gibt eine Vielzahl von Feminismen, welche ihre Analysen jeweils ausgehend von den Leben der verschiedenen historischen/sozialen Gruppen von Frauen betreiben/betrieben haben (libereale Feministinnen → damals gut gebildete, wohl situierte Frauen; marxistische Feministinnen → Arbeiterinnen,…)
→Aus marginalisierter Perspektive sind Geltungsansprüche aus der Dominanzgesellschaft ethnozentristisch → diese Ansprüche haben universell „gültige“ Überzeugungen hervorgebracht
3. Standpoint Theory versus Relativism, Perspectivalism, and Pluralism
- Wissensansprüche können nur lokale/historische sein, die alle für sich valide sind (in ihrem eigenen Licht) aber keine Ansprüche aneinander stellen!
- Die Standpunkttheorie argumentiert dagegen, dass alle sozialen Situationen gleichermaßen nützliche Mittel zur Verfügung stellen, um etwas über die Welt zu lernen
- Soziologischer Relativismus erlaubt uns anzuerkennen, dass verschiedenen Menschen verschiedene Überzeugungen haben
4.Standpoint Theory versus the Unique Abilities of the Oppressed to Produce Knowledge
Wer ist für die Standpunkttheorie das Subjekt des Wissens?
- Anstatt „körperlos“ und unsichtbar sind sie verkörpert und sichtbar, da die Leben von denen das Denken ausgeht immer präsent und sichtbar in den Ergebnissen des Denkens sind.
- Eigentlich versuchen wissenschaftliche Methoden alles persönliche und individuelle Fingerabdrücke aus den Forschungsergebnissen herauszuhalten
→ Für Standpunkttheorie nicht von Interesse
- Für die Standpunkttheorie ist von Interesse, dass typischerweise die gesellschaftlich dominanten Gruppen davon ausgehen, dass sie ihrer geschichtlichen Befangenheit/Prägung entfliehen können
- Die Standpunkttheorie widerspricht der Behauptung, dass der Inhalt der „modernen und westlichen“ Wissenschaft nicht von ihrer historischen Lage/Vergangenheit geformt wäre
- So nähern sich Subjekt und Objekt des Wissens an, sind nicht mehr völlig verschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Die gleichen sozialen Kräfte die auf die Objekte einwirken und diese formen, formen auch die Personen, die sie untersuchen.
- Dies gilt nicht nur für untersuchte Objekte der Sozialwissenschaften sondern auch für untersuchte Gegenstände der Naturwissenschaft.
→Diese sind genauso soziale Objekte, zb. durch die zeitgenössischen oder kulturellen Bedeutungen, die diese Objekte für Menschen und somit auch die Wissenschafter*innen haben
- Gesellschaften produzieren wissen → meine persönlichen Überzeugungen werden erst dann zu Wissen, wenn sie sozial (durch die Gesellschaft in der ich lebe) legitimiert werden
- Die Subjekte/Agenten des Wissens in der feministischen Standpunkttheorie sind viele, heterogen, widersprüchlich oder unabhängig, nicht einheitlich, homogen und wie für die empirische Erkenntnistheorie zusammenhängend
- Gleichzeitig Selbstkritik bzw. reflektiert: Auch unter Frauen gibt es Klassenunterschiede, women of color erleben haben andere Perspektiven,…
Wie kann Objektivität maximiert werden? Was ist „Strong Objectivity“?
- All die Verfahren, die sich auf die Natur und/oder die sozialen Beziehungen konzentrieren – also die direkten Objekte von sozialwissenschaftlichen Beobachtungen und Reflexionen untersuchen, müssen auch auf den/die Beobachter*in angewandt werden
→Wichtig hierbei: eine maximal kritische Untersuchung der Wissenschaftler*innen selbst (und ihrer Gemeinschaft/Gesellschaft; kann nur von jenen durchgeführt werden, die von ebendieser Gemeinschaft/Gesellschaft marginalisiert wurden!
- Objektivismus schwächt seine eigenen Versuche, maximale Objektivität zu erlangen, wenn er sich der Aufgabe entzieht, kritisch zu hinterfragen, welche Interessen, geschichtliche Interessen, Werte,… die Inhalte, Ergebnisse,… der Forschung geformt und beeinflusst haben.
→Bsp: In einer Gesellschaft werden wohl kaum rassistische und sexistische Interessen bzw. Werte erkannt, wenn die in der Gesellschaft forschenden Wissenschaftler*innen nur Menschen sind, die von institutionalisiertem Rassismus oder Sexismus profitieren anstatt davon betroffen zu sein.
- Der Objektivismus konzeptualisiert die angestrebte Wertneutralität der Objektivität zu weit.
→Objektivst*innen behaupten gerne, dass Objektivität nur unter Ausschluss aller (sozialen) Werte und Interessen während des Froschungsprozesses und bei Betrachtung der Forschungsergebnisse erreicht werden kann. →Nicht alle sozialen Werte/ Interessen haben die gleichen schlechten Effekte auf die Forschungsergebnisse →Demokratiebefürwortende Werte beispielsweise haben systematisch weniger verzerrte Überzeugungen generiert als andere
- Es gibt feministische Stimmen, die fordern, dass der Begriff der Objektivität gänzlich abgeschafft werden soll, da er hoffnungslos durch Verwendung in rassistischen, imperialistischen, homophoben,.. wissenschaftlichen Projekten befleckt ist.
- Es gibt nicht den einen Weg, Objektivität zu konzeptualisieren
- Die Idee von Objektivität hat wertvolle politische sowie intellektuelle Hintergründe. Wenn sie jetzt mit Hilfe der Logik der Standpunkttheorie zu einer „strong objectivity“ umgewandelt wird, können diese wertvollen, zentralen Merkmale erhalten bleiben.
Ergänzungstext https://muse.jhu.edu/article/209437#
Vertiefungstext:
- Popper 1967. Subjektive oder objektive Erkenntnis? KPLesebuch: 40-60
Weitere Literatur: