OBJEKTIVITÄT

In der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie wird kaum ein Begriff oder Konzept so kontrovers diskutiert wie das der Objektivität.
Doch was heißt Objektivität eigentlich? Woher kommt diese Idee und warum entstand sie? Welche Auswirkungen hat das Ideal der Objektivität in der Wissenschaft? Und was an dem Konzept wird von wem und warum kritisiert?
Unter anderem damit setzte sich Waltraud Ernst im Rahmen ihrer Dissertationsschrift „Diskurspiratinnen“, erschienen 1999 im Milena Verlag, auseinander.
Sie beleuchtet in Kapitel „III. Objektivität“ zunächst die historische Entstehung des Konzeptes von Objektivität und untersucht dann verschiedenen Ansätze feministischer Objektivitätskritik.
Dafür stellt sie vier verschiedene feministische Alternativkonzepte zur „klassischen“ Objektivität und Argumente für und gegen diese Konzepte vor. Am Ende definiert sie ihr eigenes Ideal einer Objektivität „als Bezeichnung und als Maßstab für die Verbindlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis“ (S.97).
Mein Wiki wird der Struktur von Waltraud Ernst's Text folgen und so eine Auseinandersetzung mit dem komplexen Begriff und Konzept der Objektivität versuchen.
Auf den Teil des Textes, der diese Woche Haupttext ist, werde ich nur Stichwortartig eingehen. Der Abschnitt in meinem Wiki der sich mit dem Teil des Textes beschäftigt, der Ergänzungstext ist, wird ausformuliert sein.


(Klassische) Objektivität - was ist das eigentlich?

Der Begriff der Objektivität lässt sich in zwei verschiedenen Kontexten betrachten und verwenden.
Das wird deutlich, wenn man die im Duden verwendete Definition des Adjektivs „objektiv“ anschaut. Dort heißt es, dass objektiv zum einen: „unabhängig von einem Subjekt und seinem Bewusstsein existierend; tatsächlich“ und zum anderen „nicht von Gefühlen, Vorurteilen bestimmt; sachlich, unvoreingenommen, unparteiisch“ bedeutet.

→ Erstere Definition lässt sich der ontologischen Auffassung von Objektivität zuordnen, die vor allem in der Philosophie eine große Rolle spielt. Dort wird unter dem Konzept der Objektivität die ontologische „Suche nach der ultimativen Struktur von Wirklichkeit“ (S.98) verstanden.
Hier lassen sich grob zwei Richtungen/ Betrachtungsweisen differenzieren. Die des Realismus/ Objektivismus, die von einer real existierenden, objektiven Welt ausgeht. Und die Betrachtungsweise des Relativismus/ Anti- Objektivismus/ Konstruktivismus, die davon ausgeht, dass die Wirklichkeit nur eine Konstruktion in unserer Wahrnehmung ist und es gar keine objektive Welt gibt. Ob eine objektive Welt existiert und ob wir diese subjektiv erkennen können ist Gegenstand philosophischer Debatten. Wir werden uns in diesem Wiki und in der Seminarsitzung mit dem zweiten Kontext beschäftigen.

→ Dieser zweite Kontext lässt sich mit der zweiten Duden-Definition verknüpfen. Hier wird objektiv als gefühlsfrei, nicht von Vorurteilen geleitet, sachlich und unvoreingenommen erklärt. So wird Objektivität heute in der Wissenschaft- und Erkenntnistheorie als Zielsetzung und Maß für die Verbindlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlichen Arbeitens verstanden.
Der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston zufolge war das aber nicht immer so. Sie unterscheidet zwischen einem aperspektivischen Objektivitätsbegriff (der im Duden beschriebene und heute vorherrschende) und einem mechanistischen Objektivitätsbegriff (der „Urteile und Interpretationen von Ergebnissen in Forschungsberichten verbietet“ (S.98)) (Vgl. S.98).
In der Wissenschaftstheorie wird Objektivität oft zusammen mit Validität und Reliabilität genannt, den drei Gütekriterien empirischer (Sozial-)Forschung.

Doch woher kommen diese Objektivitätsbegriffe in der Wissenschaft- und Erkenntnistheorie und welche Auswirkungen haben ihre verschiedenen Definitionen und Verwendungen auf die Wissenschaft?

Objektivität in historischer Perspektive

Angelehnt an die Analysen der Wissenschaftshistorikerinnen Lorraine Daston, Herta Nagl-Docekal und Sandra Bordo erklärt Ernst die Entstehung des Objektivitätskonzeptes in den Wissenschaften auf historischer und psychokultureller Ebene.

Das Entstehen des aperspektivischen Konzeptes von Objektivität als Ziel (empirischer) Wissenschaft lässt sich Ernst zu Folge historisch und psychokulturell auf zwei Weisen erklären
→ Zum einen mit der Entwicklung naturwissenschaftlicher Kollegien im 19 Jahrhundert. Während zuvor wissenschaftliche Erkenntnis meist nur in einem kleinen Kreis geteilt wurde, vergrößerten sich im Zuge der Aufklärung wissenschaftliche Netzwerke auch über nationale und sprachliche Grenzen hinaus. Damit wurde die leichte Kommunizierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis zentral. So entwickelte sich „aus der Notwendigkeit eine Tugend“ (S.100) und die aperspektivische und somit leicht übetragbare Form von Wissen wurde zum Ideal.
→ zum anderen durch die Verbreitung des cartesianischen Erkenntnismodells. Ihm liegt ein ontologischer Dualismus zwischen Geist und Körper zugrunde, der den Körper mit allem perspektivischen, allem Bösen und allem Irrtum assoziiert und den geläuterten und vom Körper befreiten Geist als das einzige Instrument, das wahres Wissen hervorzubringen kann, darstellt.

Feministische Kritik an Objektivität - Vier Perspektiven

Allgemeine Ansätze

Der „klassische“ Objektivitätsbegriff mit seinen impliziten Wahrheits- und Universalismusansprüchen führt feministischer Wissenschaftskritik zu Folge zu einer Legitimation der „Konstruktion androzentrischen Wissens“(S.96), die als „wissenschaftliche Norm als Ausschluß- und Herrschaftsinstrument von Männern gegen Frauen“ (S.110) verwendet wird und wurde.
Feministische Objektivitätskritik verfolgt hauptsächlich 2 Strategien.
→ Diskussion über und Kritik an aktueller Forschung in der Objektivität nicht gegeben ist, da eine „Nichtbeachtung oder Verfälschung des Lebens von Frauen“ (S.105) stattfindet. ⇒ Überarbeitung androzentrischer Theorien „innerhalb eines erkenntnistheoretischen Rahmens von Empirismus“ (S.105)
Historische Auseinandersetzung mit der Entstehung und Wirkung “des erkenntnistheoretischen Modells objektiven Wissens in den modernen wissenschaftlichen Disziplinen“ (S.106)

Aus dieser Kritik heraus entwickelten feministische WissenschaftlerInnen erweiterte oder überarbeitete Konzepte der Objektivität. Ernst beschreibt in ihrem Text vier der bekanntesten feministischen Objektivitätsbegriffe.

Evelyn Fox Kellers „Dynamische Objektivität“

→ Dynamische Objektivität steht dem Konzept der klassischen, starren Objektivität gegenüber, das Distanziertheit und Herrschafts- und Hierarchieansprüche gegenüber dem Forschungsobjekt belohnt.
→ Dynamische Objektivität soll Form des Wissens ermöglichen, das die „unabhängige Integrität“ (S.119) der zu untersuchenden Gegenstände garantiert
→ Analog zur Empathie zu verstehen, da auf die „Gemeinsamkeit von Empfindungen und Erfahrungen“ (S.119) abgezielt wird.
⇒ Kritik: „objektivierender Anthropozentrismus“ (S.121) und individualistischer Ansatz

Helen Longinos Konzept des „Kontextuellen Empirismus“

→ Objektivität wird durch Austausch (inter)subjektiver Kritik in einer wissenschaftlichen Community durch die „Unabhängigkeit von subjektiven Neigungen, […] als Ziel der Praxis einer Gruppe“ (S.122) hergestellt
→ Objektivität ist als gradueller Prozess im transformativen Diskurs zu sehen
⇒ Kritik: Gefahr der „verschönten Realität“ (S.125), da Homogenität einer forschenden Community zu unsichtbaren Grundannahmen führen kann

Sandra Hardings „Strong Objectivity“

→ siehe auch: Paula's Wiki (Feministische) Standpunkttheorie Sandra Harding
→ Starke Objektivität durch Einbeziehung des soziokulturellen und historischen Entstehungskontextes von Wissen und durch
starke Reflexivität
⇒ Kritik: vereinfacht Marginalisierungsprozesse und hierarchische Strukturen unter Frauen und baut konstituiv auf ein Modell der Unterdrückung, dass sie eigentlich abzuschaffen versucht

Donna Haraways „Embodied Objectivity“

→ „soziohistorische Gebundenheit wissenschaftlichen Wissens“ (S.138) (situiertes Wissen) und dessen konstruktivistischen Charakter werden anerkannt
→ daraus entwickelt sie Begriff der verkörperten Objektivität, die der aperspektivischen „diametral entgegensteht“ (S.138)
→ erweitert den Diskurs wissenschaftlicher Erkenntnis auch über die „Scientific Community“ hinaus und argumentiert für „engagierten epistemologischen Partikularismus“ (S.141)
⇒ Kritik: vernachlässigt Hierarchiestrukturen innerhalb der Gruppe der Frauen und baut konstitutiv auf Unterdrückungsmodell

Ergänzend: Nagl-Docekals gerechtigkeitsorientiert argumentative Objektivität (in den Geschichtswissenschaften)

→ Erfassen von Empirie schließt Erfassen von Sinn mit ein
→ Objektivität entsteh durch einen „an Gerechtigkeit orientierten Argumentationsprozeß“ (S.102)
→ Objektivität entsteht durch Auseinandersetzung des Erkenntnissubjekt mit dem Erkenntnisobjekt, nicht durch Isolierung
→ historischer Erkenntnisprozess ist Auseinandersetzung mit Aspekten der Vergangenheit in der Gegenwart
⇒ Kritik: zu optimistisch, da das Konzept die Relevanz von Geschlechterhierarchien in der Wissenschaft übersieht

Waltraud Ernsts Objektivitätskonzept

→ Verwirft das Ideal der Objektivität mit all seinen impliziten Herrschafts- und Universalismusansprüchen und plädiert für eine epistemologische Orientierung hin zu einem flexiblen Begriff von Wissen, in dem emanzipatorische Prozesse „aus epistemischen und sozialen Geschlechterhierarchien“ (S.149) heraus unterstütz werden.
→ Wichtigkeit der Pluralität bei eben jenen Emanzipationsmodellen und Veränderungsprozessen
→ „Epistemologische Verbindlichkeit“ (s.149) soll dabei durch „soziale Realitätswirksamkeit [der] Modelle und Inhalte“ (S.149) geprüft werden und nicht als abstrakte philosophische Norm angelegt werden
⇒ Prozess soll langsam und multilateral und nicht als revolutionärer Paradigmenwechsel in der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ablaufen

Weiterführende Textempfehlung

Nagl-Docekal, Herta: Feministische Vernunftkritik : Eine Zwischenbilanz, in: L' homme : Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 8 (1997) Nr. 1, 21-29
https://www.genderopen.de/bitstream/handle/25595/1243/lhomme.1997.8.1.21.pdf%20Nagl-Docekal.pdf?sequence=1&isAllowed=y , letzter Zugriff: 28.11.2021, 22.56 Uhr.
Besonders interessant sind die Abschnitte „2. Women's ways of knowing“ und „3. Entwürfe einer feministischen Epistemologie“

Quellen (des Wikis und der Präsentation)

Literatur

Die Seitenzahlen beziehen sich auf: Ernst, Waltraud 1999. Diskurspiratinnen. Wie feministische Erkenntnisprozesse die Wirklichkeit verändern, Wien.

Internet

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