Inhaltsverzeichnis
Peripherie
Bat-Ami Bar On: Marginality and Epistemic Privilege (1993)
Bat-Ami Bar On dekonstruiert die Idee eines epistemischen Privilegs, das marginalisierten Gruppen von Feminist*innen häufig zugeschrieben wurde bzw. wird.
Epistemisches Privileg: Einer anderen Gruppe überlegene Fähigkeit, Wissen zu generieren und Wahrheitsansprüche zu stellen.
Epistemisches Privileg und Marx (S.85-87)
Die Idee des epistemischen Privilegs von marginalisierten Gruppen haben Feminist*innen von Marx übernommen. Dieser spricht es allein dem Proletariat zu, adäquate Aussagen über die kapitalistische Gesellschaft zu treffen. Der Gedanke wurde von Ann Ferguson und Nancy Hartsock aufgegriffen, die Frauen als „gender/sex class“ bezeichnen, die im System des Patriarchats ausgebeutet wird. Was sie von Marx unterscheidet ist dass dieser das epistemische Privileg nicht allein von der Marginalität ableitet – für ihn ist beides Folge der ökonomischen Zentralität des Proletariats.
„marginality as the space of radical possibility" (S. 87-88)
Bell Hooks: „If we only view the margin as sign marking the despair, a deep nihilism penetrates in a destructive way the very ground of our being“ (S.87).
Hooks beschreibt die Peripherie als sowohl eine Erfahrung der Machtlosigkeit als auch eine des Widerstands, des Überlebens und der Rückeroberung der eigenen Geschichte.
Distanz zum Zentrum und Intersektionalität (S.88-91)
Angesichts mehrerer marginalisierter Gruppen wir das epistemische Privileg oft in Abhängigkeit vom Ausmaß der Marginalisierung, also der Distanz der marginalisierten, peripheren Position zum Zentrum gesetzt. Das wird teilweise als eindimensional-graduell visualisiert (z.B. im Vergleich der Marginalisierung von heterosexuellen und lesbischen Frauen) oder als multidimensional und intersektional (z.B. Bei der Verknüpfung von race, Geschlecht und Klasse).
Problematische Grundannahmen (S.91-94)
Es gibt ein einzelnes gesellschaftliches Zentrum.
Iris Young: Es gibt nicht „die eine Peripherie“; Unterschiedliche marginalisierte Gruppen sind von einem jeweils eigenen Zentrum entfernt.
Das epistemische Privileg marginalisierter Gruppen ist begründet in deren Identität und Praktiken.
Diese Annahme idealisiert bestimmte Praktiken als besonders aussagekräftig über die Gruppe,nämlich entweder generell mit ihr assoziierte (bei Frauen z.B. Fürsorglichkeit oder Care-Arbeit) oder widerständige Praktiken. Sowohl die generell mit einer marginalisierten Gruppe assoziierten, als auch die widerständigen Praktiken sind durch und durch von der unterdrückenden Machtstruktur durchdrungen:
„even critique is complicitous because it is inevitably entangled with power and domination.“ (S.94)
Fazit (S.94-97)
Die Idee eines epistemischen Privilegs der Marginalisierten war bisher sehr wichtig für das Empowerment dieser und für viele soziale Bewegungen. Feministische Theorien stehen heute im Spannungsfeld zwischen dem „Enlightenment sociopolitical liberatory project“, also ihrer emanzipatorischen Absicht und dem postmodernen „neo-Romantic project“, das im Gegensatz zur Rationalität Emotionen und Irrationalität betont. Da das Epistemische Privileg immer auf den Praktiken der Marginalisierten aufbaut, die durch die dominante Gruppe bestimmt werden, kann es sie nicht von den Machtstrukturen befreien. Das einfordern eines epistemischen Privilegs ohne die Macht, die für diese Forderung notwendig ist, ist zudem hauptsächlich für die Gruppe selbst relevant. Die Stimmen von marginalisierten Gruppen brauchen kein epistemisches Privileg, sondern müssen allein aus Gründen der Gerechtigkeit gehört werden.
Aram Ziai: Die Peripherie der Sozialwissenschaften (2011)
Kernthese: Die Art, auf die periphere soziale Regionen in den westlichen Sozialwissenschaften konstruiert sind und was die Peripherien der sozialwissenschaftlichen Aufmerksamkeit sind, sind miteinander verknüpft.
Sozialwissenschaften sind stark eurozentristisch geprägt. Menschliches Verhalten ist fast immer sehr ethnozentristisch, hat also die Werte und Verhaltensregeln der eigenen Gesellschaft verinnerlicht.
Der Europäische Blick sah die Menschen außerhalb Europas meist als primitive, unterentwickelte Form der eigenen Gesellschaft, die mit der Abwertung anderer gleichzeitig stark idealisiert und homogenisiert wurde (Stuart Hall: „The west and the rest“) und wodurch Kolonialismus legitimiert wurde.
Eurozentrismus in sozialwissenschaftlichen Theorien
Bei klassischen sozialwissenschaftlichen Theoretiker*innen wie Comte oder Marx findet sich ebenfalls die Generalisierung einer linearen Evolution aller Gesellschaften in Richtung der westlichen. Aber auch aktuelle Entwicklungstheoretiker*innen und Programme der Entwicklungszusammenarbeit implizieren, dass nichtwestliche Staaten nach westlichem Vorbild organisiert werden sollten.
Institutionalisierter Eurozentrismus
Dass sich die großen sozialwissenschaftlichen Disziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie bis vor kurzem fast ausschließlich auf westliche Industrienationen konzentrierten und die Peripherie kleinen Randdisziplinen wie Ethnologie bzw. Kulturanthropologie überlassen wurden folgt aus der Annahme, westliche Staaten seinen „fortschrittlicher“ und „entwickelter“.
Dekolonisierung der Sozialwissenschaften
Die provinzialisierung Europas ist nötig, d.h. europäischen Werten und Konzepten muss die Allgemeingültigkeit abgesprochen werden und gängige und neue Theorien müssen auf ihre tatsächliche Verallgemeinerbarkeit geprüft werden.
In den wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsinstitutionen des Westens müssen nichtwestliche Stimmen gehört und in einen aktiven Diskurs eingebunden werden.
Die sozialwissenschaftlichen Disziplinen müssen über ihre üblichen Forschungsfelder hinaus gehen, nichtwestliche Regionen müssen soziologisch erforscht werden und westliche ethnologisch.
Literatur
Bar On, Bat-Ami: Marginality and Epistemic Privilege. In: Feminist Epistemologies. Hg. v. Linda Alcoff/Elizabeth Potter. New York, London: Routledge 1993, S. 83-100.
Ziai, Aram: Die Peripherie der Sozialwissenschaften. In: Politik und Peripherie. Eine politikwissenschaftliche Einführung. Hg. v. Ilker Ataç et al. Wien 2011, S.24-38.
Ergänzend
Becht, Lukas et al.: Luhmans systemspezifisches Konzept von Zentrum und Peripherie. Und: Soziale Bewegungen, sozialer Wandel und Marginalisierung im Kontext funktionaler Differenzierung. In: Mythos Mitte. Wirkmächtigkeit, Potenzial und Grenzen der Unterscheidung ‚Zentrum/Peripherie‘. Hg. v. Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“. Wiesbaden: 2011, S.173-184 und S.215-220.