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"On Rational, Scientific, Objective Viewpoints from Mythical, Imaginary, Impossible Standpoints" (D’Ignazio/Klein 2020)
Data feminism
„Data feminism teaches us to value multiple forms of knowledge, including the knowledge that comes from people as living, feeling bodies in the world.“ (S. 1)
1. Bisheriger Standard für Visualisierung von Daten
„Data-ink ratio“: Für die Visualisierung von Daten soll möglichst wenig „Tinte“ pro Menge an Daten verwendet werden. Auschmückungen, Farben, Verzierungen, Erklärungen und ähnliches sollen möglichst nicht verwendet werden. Das Ziel ist es, durch eine möglichst schlichte Visualisierung, eine scheinbare Neutralität der Daten und größmöglichste Distanz zu ihnen zu erzeugen. Es sollen keine Emotionen durch die Visualisierung hervorgerufen werden und somit den Betrachtenden ein möglichst großer Interpretationsspielraum gelassen werden. Dabei wird Schlichtheit mit Neutralität, Neutralität mit Objektivität und Objektivität mit Wahrheit gleichgesetzt. Es soll Klarheit geschaffen werden, ohne die Betrachtenden von einer bestimmten Interpretation der Daten zu überzeugen.
2. Kritik des Standards
2.1 Donna Haraway
Die Visualisierung von Daten wird häufig als "God trick" versucht. Die Daten werden scheinbar aus Sicht von Nirgendwo dargestellt. Dabei geht die Transparenz über den Prozess der Entstehung der Daten, die verwendeten Methoden und die Menschen, die diese Daten visualisieren, verloren. Den Betrachtenden wird vorgetäuscht, alles Relevante sehen zu können, obwohl das nur von einem imaginierten und unmöglichen Standpunkt aus möglich wäre.
Es gibt keine Neutralität, nur eine partielle Perspektive. Häufig ist scheinbare Neutralität lediglich die Sicht der dominanten Gruppe.
3. Geschlechterrollen und die Ideale der Datenvisualisierung
Bei der Unterscheidung zwischen den Standards entsprechenden Visualisierungen und solchen, die gegen sie verstoßen, wird auf ein binäres System zurückgegriffen, dass Vernunft und Emotion als zwei gegensätzliche Pole darstellt. Dieses binäre System wird auch bei der Betrachtung von Geschlechterrollen in vielen westlichen Kulturen deutlich sichtbar: Männern wird die positiv konnotierte Vernunft zugeschrieben, Frauen die negativ konnotierten Emotionen. Diese falsche Binarität stützt die partielle Perspektive der Elite an weißen Männern und hält somit bestehende Hierarchien aufrecht.
4. Feminismus und die Visualisierung von Daten
Das historische Narrativ beschreibt die Visualisierung von Daten als von weißen Männern erfunden, obwohl sie sehr viel diversere Ursprünge hat. Viele der Menschen, die heutzutage Daten viisualisieren, haben einen technischen Bildungshintergrund und meist kein Wissen über westliche Theorien von Kommunikation. Dabei werden Daten dadurch, wie sie ausgewählt und aufbereitet werden immer zum rhetorischen Objekt. Das liegt in ihrer Natur, sobald sie kommuniziert werden und muss nicht ihren Wahrheitsgehalt beeinträchtigen.
Wenn diese rhetorische Natur, zum Beispiel durch scheinbare Neutralität, verschleiert wird, besteht die Gefahr, dass gerade die scheinbar neutralsten Darstellung am meisten Interpretation vorwegnehmen und so nur eine partielle Sicht auf die visualisierten Daten zulassen ohne das offenzulegen.
Durch Framing, wie zum Beispiel durch die Auswahl der gezeigten Daten, kann es geschehen, dass eine Grafik zwar faktisch korrekt ist, aber dennoch nicht neutral. Dies kann aber nicht vermieden werden, da Framing immer geschieht, wenn Daten zusammengefasst werden, um sie vereinfacht darzustellen, also zu visualisieren. Visualisierung ist somit immer ideologisch beeinflusst.
5. Provenance rhetoric
Durch die folgenden vier Konventionen für die Visualisierung von Daten wird das Vertrauen der Betrachtenden in die Faktenbasiertheit der Daten gewonnen:
- Zwei-dimensionale „Viewpoints“
- Schlichtes Layout
- Geometrische Formen und Linien
- Quellenangabe unter der Grafik
Diese Merkmale verstärken den Eindruck, dass hier eine objektive, wissenschaftliche und neutrale Visualisierung von Daten vorliegt, ohne dass dies gegeben ist.
6. Objektivität vs. Relativismus
Ist Relativismus die einzige Alternative zu Objektivität, wenn Objektivität nicht erreicht werden kann? Kritiker*innen des Relativismus sehen in ihm die Gefahr, dass Meinungen eine größere Wichtigkeit zugesprochen wird als Fakten und dadurch alternative Fakten an Macht gewinnen.
In der feministischen Philosophie wurden mehrere Alternativen zu Objektivität und Relativismus entwickelt. Das Ziel ist es, nicht zu verschleiern, dass immer Menschen die Daten visualisiert haben und dadurch keine Objektivität erreicht werden kann.
Im Folgenden werden verschiedene alternative Ansätze beschrieben, die eine vollständigere Wissensproduktion ermöglichen sollen:
- Haraway: Haraway entwickelt eine feministische Objektivität, die darauf basiert, dass jedes Wissen situiert ist und es immer auf Basis von partiellen Perspektiven erzeugt wird.
- Harding: Das Konzept der "Strong objektivity" besagt, dass inklusiveres Wissen produziert werden kann, wenn die Standpunkte von ansonsten von Wissensprozessen ausgeschlossenen Menschen ins Zentrum gerückt werden (Standpunkttheorie).
- Alcoff: Entwirft die Positionalität, laut welcher jede Person von verschiedenen Positionen aus Wissen produzieren, was folglich durch die Kultur und den Kontext der jeweiligen Positionierung beeinflusst wird.
Eine wichtige feministische Strategie, um Transparenz zu erzeugen, ist also, die subjektive Prägung offenzulegen und die Grenzen des eigenen Wissens aufzuzeigen.
7. Data visceralization
Data visceralization hat das Ziel das hierarchische Gefälle zwischen Vernunft und Emotion aufzuheben und beiden ihren Wert anzuerkennen. Viele verschiedene Perspektiven und Positionalitäten sollen hierbei mitbedacht werden. Desweiteren sollen Emotionen nicht mehr als irrational oder nicht legitim verstanden werden, da sie einen starken Einfluss auf soziale, wissenschaftliche und politische Prozesse haben. Durch ein physisches Erspüren von Daten kann oft erst die Wahrheit dahinter richtig verstanden und verinnerlicht werden.
Zusätzlich werden Daten dadurch inklusiver, dass sie nicht nur verbildlicht werden. Dadurch haben vor allem Menschen, die nur eingeschränkt oder gar nicht sehen können, die Möglichkeit, die Daten ebenfalls zu erfahren. Außerdem spricht sie eine größere Zahl an Lerntypen an.
Bis jetzt wird Data visceralization jedoch hauptsächlich in Forschungslaboren, Gallerien oder Museen praktiziert. Auch bei politischem Aktivismus wie dem dem Projekt „Do Women Have to Be Naked to Get into the Met. Museum?“ der Guerilla Girls von 1989 oder der Aufführung „A Sort of Joy“ kann Data visceralization sehr wirkungsvoll eingesetzt werden.
8. Visceralizing Uncertainty
Vielen Menschen fällt es schwer, Unsicherheit über Daten in Grafiken zu erkennen, da sie diese oft als feststehende Wahrheit ansehen. Diese kann oft durch Visceralization nachvollziehbarer dargestellt werden als durch die Visualisierung von Daten, da die Konventionen, nach denen sich die Visualisierung richtet, diesen Eindruck verstärkt. Durch Visceralization können Menschen auf intuitive und emotionale Weise erfahren, was die Unsicherheit der Daten ausmacht.
9. Don't Never Do a God Trick
Dennoch sind visceralizations nicht automatisch besser als die Visualisierung von Daten. Auch der God Trick kann einerseits schädlich sein, aber wenn richtig eingesetzt, empowernd wirken, da er es ermöglicht, genau zu entscheiden, worauf man die Aufmerksamkeit lenken möchte.
10. Elevate Emotion and Embodiment
Das dritte Prinzip des Daten-Feminismus ist es, Emotion und Verkörperung eine höhere Wichtigkeit zuzusprechen. Diese sind wichtige und nützliche Werkzeuge im Werkzeugkasten der Datenkommunikation. Da der Blick von einem imaginierten und unmöglichen Standpunkt nicht existiert und jede Wissensgemeinschaft manche ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt und manche an den Rand, sollten Designer*innen immer zuerst marginalisierte Positionen betrachten. Durch solidarisches Agieren soll vermieden werden, dass Eigenschaften, die zumeist Frauen zugeordnet werden (Emotion, Verkörperung, Ausschmückung), weniger Wert zugestanden wird. Denn oft kann gerade eine Mischung aus Emotionalität und Vernunft bei dem helfen, was man auszudrücken versucht.
Universale Regeln für die Vermittlung von Daten sollten zugunsten von inklusiveren und menschlicheren Idealen zurückgestellt werden.
Vertiefungstext: Feministische Epistemologien als transdisziplinäres und transformatives Projekt (Mendel 2015)
Wissensproduktion und Wissenslegitimation sind eine, von Macht- und Herrschaftsverhältnissen geprägte, vergeschlechtlichte Praxis. Um emanzipatorische Wissensproduktion zu fördern, müssen Erkenntniskritik und Gesellschaftskritik zusammengedacht werden, wobei beachtet werden muss, dass nicht alle Theorien über situiertes Wissen auch gesellschaftskritisch sind.
Wichtige feministische Ansätze, die hier kurz zu nennen sind, sind der Hardings darüber, dass Forschung vom Leben von Frauen ausgehen soll, der Ansatz Hartsocks, dass die strukturellen Unterschiede zwischen den Leben von Frauen und Männern vor allem durch die Reproduktionsarbeit epistemologische Folgen haben und der Hill Collins', dass „the outsider within“ epistemologische Vorteile hat.
Desweiteren ist das Konzept des Standpunktes nicht mehr unbedingt an das des Standortes geknüpft, wobei der Standort von den sozialen und materiellen Lebensbedingungen bestimmt ist und der Standpunkt von der Reflektion über eben diese. Daraus lässt sich zum Beispiel schließen, dass auch Männer feministische Theorien aufstellen können.
Mittlerweile werden feministische Theorien immer zentraler innerhalb der Sozialwissenschaften, wobei jedoch gesagt werden muss, dass intersektionaler Feminismus wie postkolonialer, transnationaler und Schwarzer Feminismus immer noch sehr unbeachtet bleibt.
Quellen
D’Ignazio/Klein 2020, 3, On Rational, Scientific, Objective Viewpoints from Mythical, Imaginary, Impossible Standpoints Mendel 2015. Feministische Epistemologien als transdisziplinäres und transformatives Projekt. K. 2.5 in Dies. WSP: 76–92.
Weiterführende Literatur
Speaking from the Heart: Gender and the Social Meaning of Emotion von Stephanie A. Shields (http://catdir.loc.gov/catdir/samples/cam033/2001052481.pdf)