Rassismus im postmodernen Kontext

1. Allgemeines

Rassismus ist schon seit der Kolonialisierung bekannt und besteht bis heute. Es gibt bestimmte Ausprägungen, welche in der Geschichte stattfanden. Jedoch ist seit dem Alten Griechenland bis zu heutigen Erscheinungen der Grundsatz gleich geblieben: Menschen werden aufgrund von physischen, psychischen oder kulturellen Eigenschaften ausgegrenzt. Dass dieses Phänomen in unserer „aufgeklärten“ Zeit immer noch nicht überwunden ist, ist ausschlaggebend und bezeichnend für die Gesellschaft, in der immer noch Hierarchien eine große Rolle spielen. In diesem Wiki geht es um die Erläuterung dieses Begriffs per Definition nach Philomena Essed. Diese ist adäquat zu einer postmodernen Theorie der Gegenwart. Weitere postmoderne Ausführungen und die Problematik vor allem des Institutionellen Rassismus und des Alltagsrassismus nimmt sich Fatima El Tayeb (*1966) an. In ihrem Buch: Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft, beschreibt sie die heutige Situation von alltäglichem Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland. Durch viele Beispiele (u.a. Raubkunst, Kölner Silvesternacht TTIP) illustriert sie die Abgrenzung zu „Nichteuropäischem“ um eine eigene Identität zu stärken. In El Tayebs Buch wird klar, dass vor allem gegenwärtige Geschichtsnarrative, sowie bestehende koloniale Strukturen die Ursache sind. Eine Postulierung der Gesellschaft als „postracial“ „postracial“ mit den jetzigen Tiefenstrukturen der Gesellschaft ist somit nicht möglich. Danach wird versucht den Text einzuordnen und mit anderen Autoren in Verbindung zu bringen, welche auch die Themen Rassismus und Postmoderne abhandeln. Am Schluss sollen ausgewählte Artikel einen Einblick in die öffentliche Meinung und Debatte ermöglichen. Abgerundet wird der Eintrag mit den Literaturangaben.

2. Rassismusdefinition nach Philomena Essed

Rassismus ist nach Philomena Essed (1992: 375): „eine Ideologie, eine Struktur und ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige «Rassen» oder ethnische Gruppen angesehen werden. In der Folge dienen diese Unterschiede als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden. Rassismus schließt immer den Gruppenkonflikt hinsichtlich kultureller und materieller Ressourcen ein.“ „[…] Rassismus ist ein strukturelles Phänomen. das bedeutet, dass ethnisch spezifizierte Ungleichheit in ökonomischen und politischen Institutionen, im Bereich von Bildung und Erziehung und in den Medien wurzelt und durch diese Strukturen reproduziert wird.“

Die Autorin steht für eine umfangreiche Rassismusdefinition. Diese umfasst nicht nur Phänomene der Geschichte oder Ideologie, sondern schließt auch alltägliche Umgangsformen mit ein. Manchmal sind diese Strukturen unbewusst, jedoch nicht weniger rassistisch. Auch Fatima El Tayeb äußert sich kritisch gegenüber sogenannten Alltagsrassismus und institutionellem Rassismus.

3. Zusammenfassung El-Tayeb

Gleich zu Anfang macht El Tayeb klar, dass sie auf den „objektiven Leser“ verzichtet. Sie ist gegen die „objektive Wissenschaft“ bzw. „wissenschaftliche Sachlichkeit“ (El Tayeb 2016: 7), die auch in postmodernen Diskursen kritisiert wird. Zudem schreibt sie in einem klaren, verständlichen Stil. Sie möchte damit niemanden ausgrenzen. Parallelen können Studierende hier selbst zum sogenannten „Unisprech“ ziehen. Oft ist dieser für manche schwer zu verstehen und sie werden somit automatisch von der Diskussion ausgeschlossen. In El Tayebs Text geht es hauptsächlich um rassifizierte Wissenschaftler, die in wissenschaftlichen Debatten ausgeschlossen werden (El Tayeb 2016: 20). Somit wird Forschung nicht für alle eröffnet und erweitert, sondern nur für mehrheitsdeutsche Experten ermöglicht. Dieser „farbenblinde“ Ansatz reproduziert die bestehenden Hierarchien (El Tayeb 2016: 23).

Danach benennt sie die Schlüsselbegriffe Rassifizierung und struktureller Rassismus, die für sie in der europäischen Rassismusdebatte zentral sind. Das „europäische Selbstverständnis“ hindert die Europäer daran, hierzulande bestehenden Rassismus zu erkennen (El Tayeb 2016: 8). Das Problem ist, dass immer noch ein stereotypes Aussehen von Europäern (am besten Nord- und Mitteleuropäern) erwartet wird. Außerdem müssen Rassifizierte im Gegensatz zu Biodeutschen immer wieder ihr Deutschsein rechtfertigen. Dennoch werden sie als Migranten wahrgenommen, obwohl sie vielleicht schon mehr als 3 Generationen in Deutschland leben. Es ist immer noch nicht so weit, dass ihnen Deutschsein zugestanden wird (El Tayeb 2016: ebd.). El Tayeb sieht damit den Zustand postmigrantisch analog zu postracial als Zustandsbeschreibung, welche den Fortschritt in der Gesellschaft markiert. Jedoch kann in Deutschland bestenfalls vom „ersten Schritt zur Auseinandersetzung mit dem Migrantischem“ gesprochen werden (El Tayeb 2016: 12).

Die Asylkrise der 90er Jahre wiederholt sich heutzutage, die Diskussion von damals ist in Vergessenheit geraten. Vergessen wird auch der alltägliche Rassismus, mit dem nicht nur Flüchtlinge konfrontiert werden, denn: „Rassismus braucht keine Fremden, um zu existieren, er produziert sie“ (El Tayeb 2016: 14). Die Hilfe für Flüchtende ist nur unter einer gewissen Voraussetzung angeboten: Sie sind Gäste und müssen dankbar sein, denn Gleichwertigkeit ist nicht zu erwarten. Die „diskursive und territoriale Hoheit“ wird durch die Trennung von Wirtschaftsflüchtlingen und Kriegsflüchtlingen wiederhergestellt (El Tayeb 2016: 15). Jedoch sind die „guten“ Flüchtlinge nur bis zu dem Punkt gewollt, bis von ihnen Assimilation verlangt wird. Diese ist schlichtweg unmöglich, da sie für die Mehrheitsgesellschaft immer etwas Fremdes darstellen. Diese Stipp-Stopp-Dynamik der ewigen Migrantisierung wird von der Mehrheitsgesellschaft immer wieder durchlaufen (El Tayeb 2016: 9). Jedes Zusammentreffen mit Fremden läuft nach einem Kreislaufprinzip ab, indem immer eine „Anpassung an deutsche Werte“ erwartet wird, jedoch nicht die eigene Abwehrhaltung reflektiert wird (El Tayeb 2016: ebd.). Eine postmigrante Gesellschaft ist bis zur Überwindung der Gewaltspirale bzw. des Kreislaufs nicht möglich, somit bleibt struktureller Rassismus bestehen und „es entsteht ein kausaler Zusammenhang zwischen dem erklärten Scheitern Europas multikultureller Gegenwart und der kontinentalen Rassismusamnesie, der hartnäckigen Externalisierung von Rassismus und rassifizierten Gruppen aus Europas Geschichte“ (El Tayeb 2016: 26).

In Europa wird die Vergangenheit völlig vergessen, man ist überzeugt, dass es kein rassistisches innereuropäisches Herrschaftssystem gab und gibt und die Auswirkungen der Kolonialzeit auf die Kolonisierer werden nicht wahrgenommen (El Tayeb 2016: 16f.). Die Zeit des Nationalsozialismus gilt als Ausnahme (El Tayeb 2016: 17). Nach dem Muster „the west and the rest“ (Hall 1994) sieht sich der Westen immer noch jederzeit überlegen und eine Selbstreflektion kann somit nicht stattfinden. Nach dem Holocaust kam es zur Selbstkritik, jedoch öffnete sich Europa, bzw. Deutschland nicht, die Kritik kam nur aus dem Inneren und verfehlte somit ihr Ziel (El Tayeb 2016: 19). Dass Rassismus immer noch ein „globales – und somit auch deutsches – Herrschaftsprinzip“ darstellt wird nicht gesehen (El Tayeb 2016: ebd.).

„Statt permanenter Nabelschau, unterbrochen von akutem und planlosem Krisenmanagement, muss Deutschlands (und Europas) Involviertheit in globale Entwicklungen und seine Teilverantwortung für diese Krisen nicht nur in der Gegenwart, sondern auch historisch anerkannt werden“ (El Tayeb 2016: 27).

Es gilt „mit statt gegen Differenz“ zu arbeiten um Verschiedenheiten zu begreifen, sie aber nicht aufzulösen (El Tayeb 2016: 19). Dieser Ansatz macht die antirassistische Kritik von El Tayeb zu einer postmodernen Theorie. Einen Wandel in Deutschland ergebe sich nach El Tayeb erst, wenn „die bestehende deutsche Identität konsequent hinterfragt wird“ (El Tayeb 2016: 24): „Dabei gehe ich davon aus, dass es nötig ist, sich zunächst mit einigen anderen „post“-Zuständen der deutschen Nation auseinanderzusetzen – insbesondere mit Deutschland als postfaschistischer, postsozialistischer und postkolonialer Gesellschaft. Dabei ist die Frage nicht nur, ob die im „post“ implizierte Überwindung eines vormaligen Zustands tatsächlich gegeben ist, sondern auch als wie zentral diese verschiedenen Zustände für die nationale Identität begriffen werden“ (El Tayeb 2016: ebd.).

„Dieses Buch zeigt, wie hegemoniale Erinnerung reproduziert wird, aber es folgen auch Strategien, die sich diesem Prozess widersetzen, indem sie grenzüberschreitenden Aktivismus praktizieren – grenzüberschreitend im weitesten Sinne: zwischen Nationen, Identitäten, Geschlechtern, Communitys, Politik und Kunst, dem Heute und Gestern – und so zu einem alternativen Modell deutscher Identität gelangen, das nicht über Ausschluss und Abgrenzung funktioniert, sondern aus der Perspektive der Ausgeschlossenen und Ausgegrenzten ein kritisches Erinnern praktiziert, das neue Zukunftsmöglichkeiten öffnet.“ (El Tayeb 2016: 27) Für El Tayeb ist es somit wichtig, mit ihrem Buch auf Strategien und Mechanismen hinzuweisen, um diese im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Denn: „Privilegien neigen dazu, unsichtbar zu sein, wenn man sie hat, und unübersehbar, wenn sie einem fehlen” (El Tayeb 2016: 213).

Eine Lösung für diesen gesellschaftlichen Missstand wäre das politische Analysemodell der Intersektionalität. Dieses ist vor allem in postmodernen Theorien sehr oft zu finden, die Machtstrukturen analysieren. „Intersektionalität kann allgemeiner als Mittel genutzt werden, die Spannung zwischen der Anerkennung multipler Identitäten und der anhaltenden Notwendigkeit von gruppenbezogenem Handeln zu regulieren […] Zu sagen, dass Kategorien wie Rasse oder Geschlecht sozial konstruiert sind, heißt nicht, die Wirkung dieser Kategorien in unserer Welt zu verleugnen. Im Gegenteil, ein großes, anhaltendes Projekt für unterdrückte Menschen – eines, für das postmoderne Theorien sehr hilfreich waren – ist das Nachdenken darüber, wie Macht sich um bestimmte Kategorien konzentriert und gegen andere gerichtet wird. Dieses Projekt versucht das Sichtbarmachen dieser Prozesse der Unterordnung und der verschiedenen Formen, in denen sie erlebt werden von denjenigen, die untergeordnet sind und denjenigen, die sie privilegieren“ (Crenshaw 1991: 1296f.). Frauen of Color stehen somit bei diesem Analysemodell und auch bei El Tayeb im Mittelpunkt: „Diese Perspektive wiederum nutzt die marginalisierte Position von rassifizierten Frauen als analytischen Fokus“ (El Tayeb 2016: 226).

4. Einordnung El Tayeb

Durch ihre Forderung, sich mit der Kolonialgeschichte Deutschlands ernsthaft auseinanderzusetzen und auf den strukturellen Rassismus innerhalb Deutschlands aufmerksam zu machen, lässt sich El Tayeb als eine postmoderne bzw. postkoloniale Theoretikerin bezeichnen. Durch ihre Untersuchung der Folgen des deutschen Identitätsbildung-Prozesses auf rassifizierte Subjekte kann man außerdem Parallelen zu anderen postkolonialen TheoretikerInnen wie Hall, Spivak und Bhabha ziehen.

5. Andere Ansätze zur Frage des Rassismus und der kulturellen Identität in der Postmoderne

Die im Folgenden dargestellten postkolonialen Ansätze sollen den Text von El Tayeb erläutern, da die TheoretikerInnen sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzen.

Stuart Hall – Identität durch Differenz

Halls Analyse ergibt sich aus der Behauptung, dass traditionelle Konzepte von Identität vor allem durch die Auswirkungen der Postmoderne und der Globalisierung nicht mehr angemessen seien. Die entstehende „Krise der Identität“ ist daran zu erkennen, dass einmal feststehende Zuschreibungen bzw. ‚kulturelle Landschaften’ wie Rasse, Nationalität, Geschlecht, Sexualität oder Klasse schwächer sowie fragmentiert werden. Dies wiederum bedeutet, dass das Subjekt sowohl sein eigenes Selbstgefühl verliert, als auch Schwierigkeiten damit hat, sich in den sozialen und kulturellen Welten zu verorten. Dies führt dann zu einer sogenannten „Dislokation“ bzw. „Dezentrierung“ des Subjekts (Hall 1992:275).

Diskurse

Hall greift auf Foucaults Konzeption der Macht und des Diskurses sowie auf die Thesen des Feminismus zurück, um diese Dezentrierung zu erläutern. Diskurse sind zentrale Bedeutungs- und Signifikationssysteme, in denen interne Abgrenzungen über Sprechweisen, Repräsentation oder soziale Praktiken durch die Logik der Differenz entstehen (Hall 1994: 207). Den Feminismus betrachtet Hall als eine eher positive Dezentrierung, da er nicht nur die Infragestellung fester Identitätskonzepte von Geschlechtern und ihren gesellschaftlichen Rollen bewirkt, sondern auch sich mit der Abschaffung der Trennung von öffentlicher, politischer und privater Sphäre beschäftigt (Hall 1994: 200). In Anlehnung an diese Thesen zeigt Hall auf, dass vor allem die Prozesse der Machtausübung durch Diskurse die Identität des Menschen bestimmen. Die Dezentrierung des Subjekts geht deswegen auf verschiedene Machtdiskurse zurück.

Wie genau Identität aus der diskursiven Praxis hervorgeht, erklärt Hall in der Einleitung zum Band „Questions of Cultural Identity“ (1996). Im Gegensatz zu üblichen Konzeptionen von Identität als Anerkennung eines gemeinsamen Ursprungs oder gemeinsamer Eigenschaften, die eine Solidarisierung hervorrufen, wird bei einer Beobachtung der diskursiven Art der Identität ihre ständige Aushandlung klar, denn zunächst sind Identitäten, trotz ihrer behaupteten Einheitsfunktion, immer Konstrukte sowie Konstrukteure der Differenz: nur in Abgrenzung vom Anderen, seiner Ausschließung und Unterdrückung, kann sich Identität diskursiv formen.

Falls die Position des Subjekts im Diskurs wegen der Dezentralisierung nicht erkennbar ist, so muss das Subjekt selbst den Diskurs interpretieren und seine Position entsprechend formen. Hall stellt also die Positionierung des Subjekts als identitätspolitische Handlung dar, die immer in einem gegebenen Rahmen stattfindet: „Das Subjekt wird einerseits durch die umgebenden Verhältnisse historisch, sozial und kulturell positioniert, und andererseits positioniert es sich selbst“ (Supik 2005:13). Dabei verbinden sich nach Hall verschiedene und teilweise widersprüchliche Identitäts-Konstruktionen miteinander und können somit auch den Diskurs beeinflussen. Um die Frage der Handlungsmacht des Subjekts zu beantworten, schlägt Hall Butlers Konzeption der Performativität vor. Damit betont er, dass jede Identität sich ständig wandelt und nie abgeschlossen ist; daher müsse man jede Identitätskonstruktion kritisch hinterfragen.

Nationale Identität und Rassismus in der postmodernen Zeit

Nationale Identität wurde und wird noch heutzutage als ein angeborener Fakt und wesentlicher Bestandteil der Selbstidentifikation des Subjekts verstanden. Für Hall jedoch ist sie genauso wie andere Identitätszuschreibungen, nämlich nur eine Artikulation des Diskurses. Dies führt zu einem System von Repräsentationen, die das bestimmen, was beispielsweise „deutsch“ oder „europäisch“ ist (Hall 1995: 612). Eine Nation als System kultureller Repräsentationen besteht aus vielen Ideen und Zuschreibungen über den Charakter der Menschen, der Sprache, und der Geschichte eines bestimmten Gebiets. Die Nation bzw. ihre Kultur können deshalb als ein diskursiv hergestelltes Narrativ verstanden werden, eine „imagined community“, die ihre Grenze durch die Kennzeichnung der Differenz des Anderen festigt und bewahrt. Die Nation wird zunächst „erzählt“ durch Nationalliteratur, Geschichtsbücher, Medien und Pop-Kultur, was wiederum einen Kanon bildet, der die Symbole, Geschichten und Rituale der Nation darstellen. Dabei ist es wichtig, diese Formen als ursprünglich, andauernd und zeitlos erscheinen zu lassen. Dadurch wird die Nation als unveränderlich und essential dargestellt, als etwas, das nie ausgelöscht werden kann (Hall 1995: 614).

Anhand Laclau und Derrida erklärt Hall, dass Identitätskonstruktionen sich immer auf die Abgrenzung und Hierarchisierung zweier verschiedener Kategorien, wie beispielsweise weiß/schwarz oder Mann/Frau, beziehen (1996:5). Jede Identität wird deshalb mit Bezug auf eine Differenz bzw. einen Mangel konstituiert:

“(…) wenn man weiß, was jeder andere ist, dann ist man, was diese nicht sind. In diesem Sinne ist Identität immer eine strukturierte Repräsentation, die ihr Positives nur mit dem engen Auge des Negativen wahrnimmt(…)“ (Hall 1994 zit. nach Yildiz 1997:120)

In diesem Sinne versteht Hall wie El Tayeb das Verhältnis von Rassismus und nationaler Identität als ein intimes Verhältnis, denn der Prozess der Rassifizierung und die Produktion des ‚Undeutschen’ werden durch die Herstellung der europäischen bzw. deutschen Identität erzeugt. Im Fall Europas seien ihre Außenbeziehungen mit Anderen ein zentraler Teil ihres ‚internalistischen Narrativs’ gewesen. Die Geschichte europäischer Identität wird laut Hall oft so erzählt, als ob sie keine Anderen hätte. Dies bildet zum großen Teil die Grundlage des Mythos der europäischen zivilisatorischen Überlegenheit und stellt ein komplett verzerrtes Bild dar, denn die gemeinsame europäische Identität wurde durch ein Verhältnis des ungleichen Austausches und der ungleichen Entwicklung gebildet (Hall 1991:18). Heutzutage habe sich nur der Diskurs über Andere verändert:

„Nun, da Europa sich konsolidiert und annähert, finden ähnliche Anstrengungen im Hinblick der Grenzverstärkung gegenüber seinen „Anderen“ in der Dritten Welt statt. Momentan sind die beiden beliebtesten diskursiven Marker in diesem Diskurs „Flüchtlinge“ und „Fundamentalismus“ (Hall 1991 zit. nach El Tayeb 2014:34).

Vermeidung der Essentialisierung

Mit der Identitätspolitik gehen jedoch häufig problematische Strategien einher, die Identität nachhaltig essentialisieren und dabei rassistische Strukturen unterstützen. Hall argumentiert deshalb für ein unreduktionistisches und unessentialistisches Modell für die Analyse der Fragen nach Rasse, Ethnizität, Geschlecht, Klasse sowie ihren Intersektionen. Denn Kategorien wie ‚Schwarz’ oder ‚Rassifizierte’ sind politisch sowie kulturell konstruiert, somit müssen wir das Verständnis homogenisierter rassischen, ethnischen sowie kulturellen Kategorien als ‚natural communities’ abschaffen. Anstattdessen soll ein Identitätskonzept entwickelt werden, das eher strategisch und positionell ist. So ein Konzept soll auch zur Kenntnis nehmen:

“…that identities are never unified and, in late modern times, increasingly fragmented and fractured; never singular but multiply constructed across different, often intersecting and antagonistic, discourses, practices and positions. They are subject to a radical historicization, and are constantly in the process of change and transformation. We need to situate the debates about identity within all those historically specific developments and practices which have disturbed the relatively ‘settled’ character of many populations and cultures, above all in relation to the processes of globalization, which I would argue are coterminous with modernity (Hall, 1996) and the processes of forced and ‘free’ migration which have become a global phenomenon of the so-called ‘post-colonial’ world.” (Hall 1996:4)

Gayatri Chakravorty Spivak: Strategic Essentialism

Obwohl Essentialismus hoch problematisch wegen seiner Darstellung des Anderen ist, ist laut Hall und anderen postkolonialen TheoretikerInnen ein sogenannter „strategischer Essentialismus“ in bestimmten Phasen politischer und sozialer Bewegungen nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig. Strategischer Essentialismus, wie ihn Gayatri Spivak Gayatri Spivak 1990 in „Questions of Multiculturalism“, sowie Donna Haraway 1991 im „Manifesto for Cyborgs“ formuliert haben, ist eine Strategie, die die Anderen bzw. Nationalitäten, ethnische Gruppen oder Minderheiten nutzen können, um sich selbst politisch zu repräsentieren. Nach Spivak (1990) ist strategischer Essentialismus eine temporäre, strategische Vorgehensweise, die eine Solidarität, eine Identität, sowie ein Zugehörigkeitsgefühl innerhalb einer Gruppe schaffen kann. Statt nach einer wahren vorkolonialen bzw. postkolonialen Identität zu suchen, die von westlichen Ideen kontaminiert wurde, beschäftigt sich strategischer Essentialismus kritisch mit der Frage der Anerkennung und selbstreflexiven Verwendung essentialisierter Konzeptionen von Rasse, Ethnizität und Nationalität, um eine antirassistische Politik auf den Weg zu bringen.

Soziale Bewegungen können dann kollektiv angestoßen werden und das Kollektiv der Dominanzgesellschaft kann auf die Diskriminierungs- und Marginalisierungsprozesse aufmerksam gemacht werden, welche ihre einzelnen Mitglieder häufig unbewusst perpetuieren. „Nicht zuletzt können beispielsweise illegalisierte häusliche Arbeiterinnen gerade als solche – in dieser ‚Identität’ – für ihre Rechte kämpfen und gesellschaftliche Widerspruchsverhältnisse anprangern“ (Tißberger 2017:81). Beim strategischen Essentialismus geht es deshalb darum, eine temporäre, „essentialistische“ Position politisch zu verwenden, um voranzukommen.

Can the Subaltern Speak?

In ihrem einflussreichen Aufsatz „Can the Subaltern Speak“ (1994/1988) beschäftigt sich Spivak mit der Frage, ob Subalterne Subalterne sprechen können, was vor allem „eine Frage an die Epistemologien der Wissenschaften, die im ‚interkulturellen’, ‚transnationalen’, ‚postkolonialen’, Kontext Erkenntnis generieren wollen“ (Tißberger 2017:113). In diesem Text geht es Spivak weniger um die Frage, ob das subalterne Subjekt sich selbst repräsentieren und für sich sprechen kann, sondern darum, ob ihm zugehört wird. Sie geht davon aus, dass das Hören der Wissenschaft – auch innerhalb der postkolonialen Kritik – durch die epistemische Gewalt des imperialistischen Projekts hegemonial strukturiert ist. Dies führt laut Spivak zu einer essentialistischen Positionierung der Subjekte des Globalen Südens, denn das marginalisierte Subjekt, wie zum Beispiel die Subaltern Studies, wird immer aufgrund seiner Differenz von den Eliten bzw. Kolonisatoren definiert und dadurch wieder zu ‚Anderen’ gemacht. Damit übt sie Kritik an der Tendenz postkolonialer Intellektueller, das subalterne Subjekt zu homogenisieren sowie zu romantisieren. Außerdem deutet sie darauf hin, dass subalterne Subjekte, die tiefer in der Hierarchie stehen wie beispielsweise subalterne Frauen, nahezu keine Möglichkeiten haben, um sich selbst zu repräsentieren. Daraus ergibt sich ihre Forderung, die Subalternen für sich selbst sprechen zu lassen, sei „nichts anderes als eine Maskerade, durch die sich die Intellektuellen der Verantwortung entziehen“ (Tißberger 2017:113).

Jedoch erkennt Spivak einen unlösbaren Widerspruch im Prozess der Analyse des subalternen Subjekts: obwohl der postkoloniale kritische Diskurs zu einer Essentialisierung des ‚Dritte Welt’ Subjekts führen kann, ist es immer noch notwendig mit einer Analyse der kolonialen Unterdrückung der Subalternen fortzufahren, denn die Abwesenheit von ‚Whiteness’ in der europäischen Geschichtsschreibung, verursacht durch die Verleugnung des Imperialismus, „hinterlässt eine Leerstelle im Wissen um die destruktiven Effekte der Machtausübung“ (Tißberger 2017:114). Dies ist besonders offensichtlich in Deutschland. Im Gegensatz zu anderen Kolonialmächten blieb Deutschlands koloniale Vergangenheit „bis zum Jahr 2004 im öffentlichen Diskurs nahezu unthematisiert“ (Tißberger 2017:110). Subjekte und Kulturen, die durch Kolonialismus unterdrückt wurden, gehören „neben Homosexualität und zum Teil auch Weiblichkeit* zum konstitutiven Außen dieses abendländischen Selbstverständnisses und sie werden in seiner Selbstreflexion immer wieder neu als Grenzfiguren hervorgebracht“ (Tißberger 2017:112). Wenn aber Andere bzw. ‚die Subalternen’ sprechen, kommt das Verhältnis ins Wanken. Deshalb schlägt Spivak vor, das ‚Problem’ mit der Emanzipation der Subalternen „nicht durch ihre Assimilation in das homogenisierende Projekt lösen zu wollen“, sondern „die subalterne Erfahrung als ‚unerreichbare Leere’ zu erhalten, was…den Vorteil hätte, dass die Grenzen eines westlichen Wissens sichtbar machen würde“ (Castro Varela & Dhawan 2005 zit. nach Tißberger 2017:113).

Homi Bhabha - Hybridität

Spivak richtet ihre Analyse vor allem auf eine bestimmte Position von Subjekten; die der weiblichen Subalternen und die des Brauchs der Sati in Indien. Der Tod der Witwe auf dem Scheiterhaufen ihres Mannes zeigt, dass sie ausschließlich durch die Identität ihres Mannes bestimmt ist und deshalb keine eigene wertvolle Identität besitzt. In dieser Situation wurde Geschlecht von zwei konkurrierenden Narrativen konstruiert: sowohl das der indischen patriarchalischen Bräuche, in dem der Brauch der Sati gewurzelt ist, als auch das des britisch-kolonialen Rechts – Rechte, die ohne Frauen gemacht wurden – während der Kolonialzeit. Anhand dieses Beispiels hebt Spivak den Prozess des sogenannten „double displacement“ des subalternen Subjekts hervor, ein Konzept ähnlich zu Halls „Dezentrierung“ These.

Dieses „double Displacement“ wird auch von Homi Bhabha Homi Bhabha 1994 in seinem Buch Die Verortung der Kultur (englisch Original The Location of Culture) thematisiert. Bhabha orientiert sich methodisch an einer poststrukturalistischen Dekonstruktion konventioneller Identitätskonzepte und beschäftigt sich mit der Frage der ‚Hybridisierung’ von Identitäten. Bhabhas These ist, dass in den Zeiten nach dem Ende der europäischen Kolonisation das Wesen der Kultur nicht mehr geschlossen und homogen verstanden werden kann. Der Versuch des migrantischen bzw. rassifizerten Subjekts, zwei Kulturen in sich zu vereinen, führt laut Bhabha zur „Hybridität“; ein Zustand, in dem das Subjekt gleichzeitig weder zu den beiden noch ganz zur einen Kultur zugehört. Das hybride Subjekt findet sich dadurch in einem „dritten Raum“, in dem sowohl die ursprüngliche Identität als auch die koloniale Identität ausgehandelt werden müssen.

„…what is at issue is…the ‘double consciousness’ of the exile. That is, focusing on hybridity involves focusing on ‘positioning’, rather than on ‘mixing’ of cultural forms. It involves focusing on the relation between the ‘centre’ and the ‘margin’ in one way or the other – be it the relation between the West and the rest or between majority and minority. And it involves focusing on how the penetration of the centre by the marginalized undermines the naturalized dominant position of the centre. Hybridity is about the introduction of ‘otherness’ – in terms of ‘impurity’ that contaminates, disturbs and displaces the idea of purity. And the migrant’s insistence on belonging in the centre is a very concrete example of this.” (Frello 2012:3)

6. Öffentliche Meinung anhand ausgewählter Medienartikeln

Im Folgenden finden Sie eine Zusammenstellung von verschiedenen Artikeln, Blogposts und Beiträgen zu diesem Thema. Unsere Intention hierbei ist, praktische Beispiele von Alltagsrassismus zu geben und die gesellschaftliche Diskussion darzustellen. Jedoch ist nicht unser Anspruch, die Debatte möglichst umfassend darzustellen, sondern hier nur interessante Artikel für Denkanstöße erscheinen zu lassen.

Textauszug aus Noah Sow: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus. In dem Buch geht es um die Bewusstmachung des alltäglichen Rassismus, ohne dessen er nicht bekämpft werden kann.

Meine eigene Herkunft: http://www.deutschlandschwarzweiss.de/meine_eigene_herkunft.html

Blogeintrag über nichtexistenten Reverse Racism. Warum Weiße nicht Opfer von Rassismus sein können: https://weranderneinenbrunnengraebt.wordpress.com/2012/09/15/warum-weise-nicht-opfer-von-rassismus-sein-konnen/

Blogeintrag der Zeit über die Unwissenheit und die Unerfahrenheit von Weißen zum Thema Rassismus: Lernen, was es heißt, weiß zu sein: http://blog.zeit.de/teilchen/2016/04/12/rassismus-lernen-was-es-heist-weis-zu-sein/ Ein Plädoyer für eine andere Westafrikapolitik in Europa. Europa erzeugt die Flüchtlinge selbst: http://www.zeit.de/kultur/2016-07/westafrika-freihandelsabkommen-eu-fluechtlinge-hafsat-abiola/komplettansicht

Kritischer Beitrag zur Leitkulturdebatte in Deutschland. Von der Etikette zum Etikett: http://www.zeit.de/kultur/2017-07/leitkultur-debatte-offene-gesellschaft-10nach8/komplettansicht

Über ein Beispiel von Beziehungen zwischen Deutschland und afrikanischen Staaten, die nicht auf Augenhöhe beruhen. Warum Grace, Prince und Linda nicht nach Deutschland kommen dürfen: http://ze.tt/warum-grace-prince-und-linda-nicht-nach-deutschland-kommen-duerfen/?utm_content=zeitde_redpost_zon_link_sf&utm_campaign=ref&utm_source=facebook_zonaudev_int&utm_term=facebook_zonaudev_int&utm_medium=sm&wt_zmc=sm.int.zonaudev.facebook.ref.zeitde.redpost_zon.link.sf

Interviews von PoC über Code-Switching, um sich besser an die weiße Mehrheitsgesellschaft anzupassen. People of Colour Talk About the Times They ‘Code Switched’: https://www.vice.com/en_ca/article/bjjjvm/people-of-colour-talk-about-the-times-they-code-switched

Kritische Kolumne über Reverse Racism. Dear White People, Please Stop Pretending Reverse Racism Is Real: https://www.vice.com/en_us/article/kwzjvz/dear-white-people-please-stop-pretending-reverse-racism-is-real

Eine Meinung über phänotypische Merkmale und Farbenblindheit. wie man sich als schwarze frau in deutschland fühlt: https://i-d.vice.com/de_de/article/schwarze-frau-deutschland-positiv-negativ

6. Literaturverzeichnis

Bhabha, Homi K. 1994. The Location of Culture. London, New York: Routledge.

Crenshaw, Kimberlé. 1991. “Mapping the margins: Intersectionality, identity politics, and violence against women of color.” Stanford law review 43, 1241–1299. http://dx.doi.org/10.2307/1229039.

El-Tayeb, Fatima. 2016. Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag.

Essed, Philomena. 1992. Rassismus und Migration in Europa, in ARGUMENT-Sonderband AS 201. Hamburg: Argument Verlag.

Frello, Birgitta. 2012. “Essentialism, hybridism and cultural critique.” Centre for Cultural Studies Research. http://culturalstudiesresearch.org/wp-content/uploads/2012/10/FrelloEssentialism.pdf.

Hall, Stuart. 1991. “Europe’s Other Self”. Marxism Today (August): 18-19.

Hall, Stuart. 1992. “The Question of Cultural Identity.” Pp. 273-325 in Modernity and its Futures, edited by Stuart Hall, David Held and Tony McGrew. Cambridge: The Open University.

Hall, Stuart. 1994. “Die Frage der kulturellen Identität Hall.” Pp. 180-222 in Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, edited and translated by Ulrich Mehlem et. al. Hamburg: Argument Verlag.

Hall, Stuart. 1995. “The Question of Cultural Identity.” Pp. 596-633 in Modernity: an Introduction to Modern Studies, edited by David Held et. al. Malden, USA: Blackwell.

Hall, Stuart. 1996. “Introduction: Who Needs Identity?” Pp. 1-17 in Questions of Cultural Identity, edited by Stuart Hall and Paul du Gay. London: Sage.

Haraway, Donna. 1991. “A Cyborg Manifesto. Science, technology and socialist-feminism in the late twentieth century.” Pp. 149-183 in Simians, Cyborg and Women: The Reinvention of Nature. London: Free Association Books.

Spivak, Gayatri C. 1990. “Questions of Multi-culturalism.” Pp. 59-66 in The Postcolonial Critic: Interviews, Strategies, Dialogues, edited by S. Harasym. New York: Routledge.

Spivak, Gayatri C. 1994 (Original work published 1988). “Can the Subaltern Speak.” Pp. 66-112 in Colonial Discourse and Post-Colonial Theory: A Reader, edited by Patrick Williams & Laura Chrisman. New York: Columbia University Press

Supik, Linda. 2005. Dezentrierte Positionierung: Stuart Halls Konzept der Identitätspolitiken. Bielefeld: transcript Verlag.

Tißberger, Martina. 2017. Critical Whiteness: Zur Psychologie hegemonialer Selbstreflexion an der Intersektion von Rassismus und Gender. Linz, Austria: Springer VS.

Yildiz, Erol. 1997. Die halbierte Gesellschaft der Postmoderne: Probleme des Minderheitsdiskurses unter Berücksichtigung alternativer Ansätze in den Niederlanden. Wiesbaden: Opladen.

Drucken/exportieren