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Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht
In Tina Spies 2009 erschienenem Aufsatz Diskurs, Subjekt und Handlungsmacht. Zur Verknüpfung von Diskurs- und Biografieforschung mithilfe des Konzepts der Artikulation versucht sie die Konzepte der Identität bzw. des Subjekts und dessen Handlungsmacht (Agency) mit verschiedenen Diskursbegriffen in Einklang zu bringen. Dazu knüpft sie an das Werk Stuart Halls an, der den Begriff der Identität und der Agency zuerst mit dem Diskursbegriff Michel Foucaults und dann mit dem Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes verbindet. In diesem Wiki werden die Thesen aus Spies Aufsatz ergänzt mit den Ausführungen in Georg Glaszes 2008 erschienenem Artikel Vorschläge zur Operationalisierung der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe in einer Triangulation von lexikometrischen und interpretativen Methoden.
Subjekt-Entwicklung nach Hall
Die Frage danach, was das Subjekt ist, ist für die Frage nach dessen Verknüpfung mit dem Diskurs zentral. Für Stuart Hall ist die Entwicklung des Subjektbegriffs hin zu einem Verständnis von Subjekt, welches das Subjekt nicht (nur) als Effekt von Diskursen begreift wichtig (vgl. Spies 2009: 2)1). Dafür beschreibt er die Entwicklung des Subjekts von der Aufklärung bis zu einem Subjektkonzept, welches für seine Diskurstheorie zentral ist. Dafür schaut er sich folgende drei Stationen auf dem Weg zum dezentrierten modernen Subjekt an:
1. Subjekt der Aufklärung (vgl. Spies 2009: 2-3):
• Es existiert ein wirkliches Ich, welche unveränderbar ist. • Dieses wirkliche Ich wird von falschen Ichs verschleiert.
2. soziologisches Subjekt (vgl. ebd.: 3):
• Die Identität wird durch gesellschaftliche Verhältnisse geformt. → Ein wirkliches Ich existiert zwar, ist aber veränderbar. • Identität bildet die Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Subjekt.
3. Dezentrierung des soziologischen/modernen Subjekts (vgl. ebd.: 3-4):
• Geschichte wird von Menschen gemacht, aber innerhalb von Strukturen, die vor dem einzelnen Individuum vorhanden sind (Bezug auf Marx). → Es gibt kein individuelles Handeln, also auch kein wahres Ich, welches handelt. • Identität wird nicht durch die Vernunft gebildet, sondern durch das Unbewusste (Bezug auf Freud). → Sie wird nicht in der aktiven Aushandlung mit Anderen gebildet, sondern unbewusst durch die Prägung durch Andere. • Sprache ist nicht nur das Wiedergeben eigener Gedanken, sondern bringt immer weitere kulturelle Bedeutungen mit sich (Bezug De Saussure). → „[D]ie individuelle Sprecherin oder der Sprecher [können] nie eine Bedeutung endgültig fixieren […], soviel sie/er sich auch anstrengten - auch nicht ihre oder seine Identität“ (Hall 1994: 196)
„Nach Saussure vereinigt das sprachliche Zeichen das Bezeichnende (den Signifikanten) und das Bezeichnete (das Signifikat)“ (Glasze 2008: 186)2). So entsteht die Verbindung zwischen Signifikanten und Signifikat erst durch das Zeichen (vgl. ebd.). Genauso entstehen aber auch Konzepte (also die Signifikate), die wir damit verbinden, erst durch die Sprache und gehen diesem nicht voraus (vgl. ebd.: 186f).
Ausgehend davon ist Identität für Hall eine „Nahtstelle zwischen Diskursen und Praktiken auf der einen und Subjektivierungsprozessen auf der anderen Seite“ (Spies 2009: 4). Sie sind zeitlich begrenzte ‚Vernähungen‘ von Subjekt und einer diskursiv hergestellten Subjektposition (vgl. Hall 1996: 6)3). Dieses ‚Vernähen‘ ist dabei nicht als Prozess zu verstehen, in dem das Subjekt vom Diskurs geprägt wird, sondern als ein wechselseitiger Prozess, bei dem das Subjekt die Subjektposition auch aktiv annimmt (vgl. Spies 2009: 5).
Subjekt und Subjektposition bei Foucault nach Hall
Hall wurde von Foucaults Thesen beeinflusst (vgl. ebd.), grenzt sich aber auch in einigen Punkten von Foucaults Diskurstheorie ab. Um zu verstehen, wie Hall zu seinem Konzept von Artikulation, also dem ‚Vernähen‘ von Identität und Diskurs kommt, ist eine Auseinandersetzung mit Foucaults Diskurstheorie deshalb wichtig. Foucaults These ist, dass Subjekte durch Diskurse erzeugt werden und vorher nicht vorhanden sind, sie sind also Effekte von Diskursen (vgl. ebd.: 5-6). Die Problematik für Hall mit Foucaults Begriff von Subjekt ist dabei die Frage, warum Subjekte die diskursiv erzeugten Subjektpositionen annehmen sollten (vgl. ebd.: 7). Subjekte sind bei Foucault nach Hall ‚fügsame Körper‘ (vgl. ebd.: 8) und eventuelle Störungen, die das Einfügen der Subjekte in Diskurse verhindern könnten, werden nicht betrachtet (vgl. ebd.). Das Subjekt ist nicht vor dem Diskurs vorhanden, sondern wird durch diesen hervorgebracht (vgl. ebd.: 6). Für Hall fehlt ein Konzept von Agency, also von Handlungsmacht, (vgl. ebd.: 9), welches erklären könnte, warum Subjekte nie ganz ihre Subjektpositionen erfüllen und widerständig gegen diese sein können. Deshalb führt Hall den Begriff der Artikulation, welches Laclau und Mouffe in ihrer Diskurstheorie nutzen, ein, um das Verhältnis zwischen Diskurs und Subjekt fassen zu können (vgl. ebd.).
Artikulation im Anschluss an Laclau und Mouffe
Um dieses Problem, welches Hall bei Foucaults Diskurstheorie sieht, zu lösen, nimmt sich Hall die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe zur Hilfe, welche das Konzept der Artikulation entwickelt hat (vgl. ebd.: 9f). Artikulation ist bei Laclau und Mouffe die „Fixierung eines Systems von Differenzen“ (Anmerkung: hier wird Differenz im eigentlichen Sinn, nicht im Sinne von Laclau und Mouffe gebraucht) (vgl. ebd.: 10). Artikulation ist dabei eine kurzzeitige Verbindung von einzelnen Elementen, die aber auch jederzeit wieder gelöst werden kann. Die so zusammen artikulierten Elemente nennen Laclau und Mouffe Momente. Dieser Übergang von Element zu Moment ist nie vollständig vollzogen, weshalb der Diskurs niemals völlig fixiert ist, sondern immer kontingent und veränderbar (vgl. ebd.: 10). Hall macht sich hier eine Doppeldeutigkeit des englischen Begriffs ‚articulate‘ zu Nutze, der einerseits die Bedeutung von Artikulation von Sprache, andererseits aber die (temporäre) Verbindung von Lastwagen und Anhänger bezeichnet (vgl. ebd.: 9). In Laclau und Mouffes Diskurstheorie gibt es dabei zwei verschiedene Logiken, nach der die Diskurse funktionieren. Die Logik der Differenz ist für Laclau und Mouffe die Abgrenzung verschiedener Elemente innerhalb eines Diskurses (vgl. ebd.: 10f). Die Logik der Äquivalenz beschreibt die Abgrenzung von Elementen innerhalb eines Diskurses nach außen hin (vgl. ebd.: 11). Alle diese Elemente haben ein gemeinsames nicht-identisch-Sein mit dem Außen des Diskurses, deshalb sind sie äquivalent. Dabei sind die Elemente eines Diskurses äquivalent nach Außen, differenzieren sich aber innerhalb des Diskurses untereinander. Gleichzeitig können sich einzelne Elemente innerhalb eines Diskurses zu einem Moment artikulieren.
Leere Signifikanten bei Laclau und Mouffe
Das Außen ist dabei für die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe entscheidend, da es notwendig ist, ein Außen zu haben, um überhaupt von Differenz und Äquivalenz sprechen zu können (vgl. Glasze 2008: 192). Dieses Außen bildet sich in Abgrenzung zu einem Knotenpunkt, der das vermeintlich ‚Universelle‘ des Diskurses repräsentiert (vgl. ebd.: 193). Dieser Knotenpunkt ist dabei ein leerer Signifikant. Knotenpunkte sind temporäre Fixierungen eines Diskurses (vgl. Spies 2009: 12). Der Knotenpunkt ist eine kurzfristige Gleichheit unter den Mitgliedern einer Gruppe (vgl. Glasze 2008: 193). Die Logik der Differenz ist also kurzfristig aufgehoben. Beispielsweise könnte innerhalb eines nationalistischen Diskurses die Nation an sich als solcher Knotenpunkt verstanden werden. Die Differenzen beziehen sich dann auf einzelne andere Elemente des Diskurses, die versuchen dieses Nationalistische genauer zu beschreiben. Dabei ist alles innerhalb des nationalistischen Diskurses auf Grund eben dieses Nationalistischen gleich und völlig abgegrenzt von allem ‚Fremden‘ bzw. dem ‚Anderen‘, also dem Nicht-Nationalistischen (vgl. ebd.). Diese Knotenpunkte sind dabei leere Signifikanten, weil sie keine bestimmte Position innerhalb des Diskurses bezeichnen. Leere Signifikanten bezeichnen kein fixiertes Signifikat, sondern das „reine Sein des Systems“ (Laclau 1994: 159, nach Spies 2009: 12): „Leer ist ein ‚leerer Signifikant‘ insofern, als er weitgehend von seiner spezifischen Bedeutung entleert ist“ (Glasze 2008: 193). Dabei wird der leere Signifikant hegemonial bestimmt (vgl. Spies 2009: 12). Hegemonial bedeutet in diesem Fall, dass die Bestimmung durch die Unterdrückung anderer diskursiver Momente erreicht wird (vgl. ebd.). Diese Hegemonie wird durch die Wiederholung verschiedener Rituale/Symbole/etc. verschleiert (vgl. ebd.: 12f). Beim Beispiel des nationalistischen Diskurses könnten beispielsweise Nationalfeiertage oder die Nationalhymne als eine solche Verschleierung gesehen werden. Sie zeigen eine scheinbare Gleichheit aller, die diesem nationalistischen Diskurs angehören, und verdecken so Ungleichheiten innerhalb des Diskurses.
Subjekte bei Laclau und Mouffe
Durch ihr anderes Verständnis von Diskurs hat die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe auch eine andere Sichtweise auf das Subjekt an sich. „Sie [Laclau und Mouffe] verstehen Subjekte als die Artikulation einer Gesamtheit von Subjektpositionen, die innerhalb bestimmter Diskurse hergestellt werden“ (ebd.: 13) Die verschiedenen Subjektpositionen sind dabei kontingent und können widersprüchlich sein (vgl. ebd.). Die Identität ist also nicht einheitlich, sondern „fragmentiert“ (ebd.). Die Beziehung zwischen Subjekt und Diskurs ist für Laclau und Mouffe eine Artikulation von Subjekt und Diskurs (vgl. ebd.: 14). Auch hier hat das Subjekt also erst mal keine Agency (vgl. ebd.). Laclau versucht später dieses Problem dadurch zu lösen, dass das Subjekt bereits vor den Subjektpositionen existiert (vgl. ebd.). Dieses Subjekt versucht aber sich Subjektpositionen zu unterwerfen, um einen Mangel, den das Subjekt dadurch bekommt, dass es keine Positionen einnimmt, zu beseitigen: Es erschafft sich eine Identität (vgl. ebd.). Das Subjekt strebt also danach eine Identität zu haben und möchte Positionen annehmen. So wird die Handlungsmacht dadurch geschaffen, dass ein Subjekt versucht Subjektpositionen anzunehmen.
Dislokationen und Agency bei Laclau
Die Frage ist jetzt, wie genau diese Möglichkeit des Subjekts innerhalb eines Diskurses eine Position einzunehmen genau aussieht. Das wird durch das Konzept der Dislokation ermöglicht, welche Laclau „Situationen der Unentscheidbarkeit“ (ebd.: 15) nennt (vgl. ebd.). Dabei wird ein hegemonialer Diskurs durch ein Außen in Frage gestellt und das Subjekt muss diese Dislokation durch eine Entscheidung auflösen (vgl. ebd.). Diese Entscheidung ist eine Identifikation mit einer bestimmten Subjektposition (vgl. ebd.). Dieser Prozess der Identifikation gibt dem Subjekt seine Handlungsmacht (Agency) (vgl. ebd.). „Innerhalb eines Diskurses entstehen unterschiedliche Subjektpositionen, in die das Subjekt hineingerufen wird. Diese Positionierungen bleiben jedoch nicht ein für alle Mal bestehen, denn durch die Unabschließbarkeit von Diskursen entstehen Dislokationen, wodurch Subjekte ihren Charakter als Moment im Diskurs verlieren und zu Elementen werden können, die innerhalb (neu) artikulierter Diskurse (neue) Subjektpositionen einnehmen“ (ebd.: 15f). Diskurse sind dabei miteinander verschränkt und können sich gegenseitig beeinflussen (vgl. ebd.: 16). Identitäten sind also verschiedene Subjektpositionen eines bestimmten Subjekts. Diese Identität ist nie völlig fest, sondern befindet sich ständig im Wandel. Der Wandel vollzieht sich dabei dadurch, dass das Subjekt in Situationen gerät, in denen es sich entscheiden muss und eine bestimmte Position einnehmen muss und will. Dieser Prozess ist die Identifizierung mit einer bestimmten Subjektposition. Diese Entscheidung ist allerdings nicht völlig frei, sondern wird von einem Subjekt getroffen, welches bereits positioniert ist innerhalb anderer Diskurse (vgl. ebd.: 15).
Identität und Agency
Hall übernimmt den von Laclau bestimmten Prozess der Identifizierung als Identität (vgl. ebd.: 16). Er geht auch davon aus, dass Identität durch die Abgrenzung von dem Anderen geschaffen wird (vgl. ebd.). Auch bei Hall ist die Identifizierung eng mit Diskursen verknüpft (vgl. ebd.).
„Die Zweiseitigkeit jedes Diskurses, die Notwendigkeit des Anderen für das eigene Ich, das Eingeschriebensein der Identität in den Blick des Anderen wird auf besonders eindringliche Weise in einem bereits vorliegenden Text artikuliert. […] [I]n Fanons Schwarze Haut, Weiße Masken[…]. Es ist die Stelle, in der Fanon sich selbst als einen jungen Antillaner beschreibt, der auf ein weißes Pariser Kind und seine Mutter trifft. Das Kind zieht seine Mutter am Arm und sagt: ‚Sieh nur Mama, ein schwarzer Mann.‘ Fanon schreibt: ‚Das erste Mal in meinem Leben wußte ich, wer ich bin. Das erste Mal fühlte ich mich, als sei ich in dem Blick, dem gewalttätigen Blick des Anderen explodiert und gleichzeitig als ein anderer neu zusammengesetzt worden‘.“ (Hall 1994: 73).
„Die Vorstellung, Identität habe etwas mit Menschen zu tun, die alle gleich aussehen, auf dieselbe Weise fühlen und sich selbst als Gleiche wahrnehmen, ist Unsinn. Identität als Prozeß, als Erzählung, als Diskurs wird immer von der Position des Anderen erzählt.“ (ebd.: 74). Subjektpositionen bestimmen sich also auch immer durch das Andere, welches, wie bereits gezeigt wurde, die Abgrenzung eines Diskurses nach Außen darstellt. Dabei können Subjektpositionen aber vom Subjekt selbst beeinflusst werden, indem sie beispielsweise gestärkt werden (vgl. Spies 2009: 18). Laclau und Mouffe verweisen darauf, dass Identität niemals völlig fixiert werden kann, sondern immer prozesshaft bleibt (vgl. Glasze 2008: 190). Laclau bezeichnet Identität dabei als „articulated set of elements“ (Laclau 1990, nach Glasze 2008: 191). Es handelt sich bei der Identität also um verschiedene Elemente, die temporär miteinander verbunden sind, eben artikuliert sind. Das Identität niemals fixiert werden kann, führen sie dabei darauf zurück, dass das Außen immer die Kontingenz der Identität zeigt (vgl. ebd.: 192). „Soziale Gruppen entstehen nicht auf der Basis eines Wesenskerns, sondern werden um einen Knotenpunkt herum gebildet, der die vollkommene, aber letztlich immer unmögliche Identität der Gruppe präsentiert“ (vgl. ebd.: 194).
Agency gewinnt das Subjekt dabei aus dem Vorgang der Identifizierung (vgl. Spies 2009: 16), also der Entscheidung, welche Position das Subjekt in einem bestimmten Diskurs einnimmt. Diese Identifizierung muss dabei immer wieder aufs Neue geschehen, also mit dem Wandel der Diskurse auch neu für jedes Subjekt verändert werden (vgl. ebd.: 17). Dabei steht die Identifizierung nicht völlig außerhalb der bisherigen Geschichte des jeweiligen Subjekts, sondern ist mit dieser verwoben (vgl. ebd.). So beschreibt Hall diesen Prozess am Beispiel seiner eigenen Identifizierung als ‚Immigrant‘, die sich zuerst herausbildete, als er aus England, wo er lebte, wieder zurück nach Jamaika, wo er aufgewachsen war, kam (vgl. ebd.). Erst dort identifiziert er sich als Immigrant, während er sich vorher nicht so identifizierte (vgl. ebd.). Diese Identifizierung hat auch hier mit dem Außen, also dem Nicht-Immigrant-Sein, welches ihm erst in Jamaika begegnete, zu tun. In der Folge blieb seine Identität nicht fest, sondern veränderte sich mit der Veränderung der Diskurse, innerhalb derer er sich als Subjekt identifizieren musste, weiter (vgl. ebd.).
Positionierungen bei Hall
Diesen Prozess des Beeinflussens der eigenen Subjektpositionen, also die Agency des Subjekts, nennt Hall Positionieren (vgl. Spies 2009: 18). Diese Positionierungen sind auch darin begründet, dass einzelne Subjektpositionen verbunden sind mit Interessen (vgl. ebd.). Identitäten sind weder vollständig fixiert noch völlig unfixiert (vgl. ebd.: 19). Jede Positionierung schließt die Kontingenz dieser Positionierung mit ein (vgl. ebd.). Aber diese Kontingenz ist notwendig, damit ein Subjekt sich überhaupt positionieren kann (vgl. ebd.). Für diese Positionierung wichtig ist die Vergangenheit des jeweiligen Subjekts, durch die die jeweilige Positionierung (mit-)bestimmt wird (vgl. ebd.: 20). Welche Positionierungen überhaupt möglich sind, wird vom jeweiligen Diskurs begrenzt (vgl. ebd.: 21). Die Subjektpositionen verändern sich im Laufe der Biografie des Subjekts anhand ebendieser Biografie und der Frage, innerhalb welcher Diskurse eine Positionierung erfolgt (vgl. ebd.: 17). Die Positionierung selbst ist dabei für Hall auch notwendig, damit das Subjekt am Diskurs teilhaben kann (vgl. ebd.: 19). Dabei wird die eigene Vergangenheit immer wieder in neuen Erzählungen (und damit Positionierungen) geteilt (vgl. ebd.: 20). So entwirft Hall schließlich ein Verständnis von Diskurs und Identität, bei dem beides miteinander verknüpft ist, ohne, dass ein Konzept das andere vollständig determiniert.
Anwendungsbeispiel Fridays for Future
Im Folgenden sollen die oben eingeführten Begriffe anhand des Beispiels des Diskurses von Fridays for Future anwendungsbezogen erklärt werden. Dabei handelt es sich um keine ausführliche Diskursanalyse, sondern lediglich um eine erste kurze Idee, die dazu dienen soll, die Begriffe zu erläutern, und die nicht den Anspruch hat, den Diskurs tiefgreifend zu verstehen. Dabei werde ich für die angeführten Thesen Artikel der Tageszeitung taz verlinken, um diese zu untermauern. Schon allein diese Auswahl der Zeitung stellt dabei eine bestimmte Prägung der Interpretation und der Analyse dar. Eine Analyse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung würde wahrscheinlich anders ausfallen.
Der Diskurs Fridays for Future selbst bestimmt den Rahmen in dessen eine Positionierung der Subjekte möglich ist. Dabei sind verschiedene Themen innerhalb des Diskurses relevant. Beispielsweise Klimakrise (wobei hier schon die Wortwahl eine Positionierung darstellen kann, indem ich beispielsweise von Klimakrise und nicht von Klimawandel oder Umweltschutz spreche), politische Mitbestimmung oder Schulpflicht.
Die Subjekte innerhalb des Diskurses positionieren sich innerhalb des Diskurses auf Grund ihrer bisherigen Identitätsbildung, also ihrer bisherigen Vergangenheit. Die Subjekte sind nicht völlig frei in dem, wie sie sich positionieren, sondern sind bereits in vielen anderen Diskursen positioniert, und identifizieren sich auf Grundlage dieser bereits vorhandenen Positionierungen. Gleichzeitig ist diese Positionierung auch nicht vollständig determiniert, sondern lediglich teilweise vorgeprägt. Im Falle dieses Diskurses wäre beispielsweise eine Untersuchung der Positionierungen innerhalb verschiedener Altersgruppen interessant, da es auf den ersten Blick eine Rolle zu spielen scheint, in welcher Generation die jeweiligen Subjekte aufgewachsen sind. Dieses zeigt sich insbesondere in der Wahrnehmung von Fridays for Future als Schüler*innenbewegung. So scheint die momentane Generation von Schüler*innen ähnliche Identitäten auf Grund der Diskurse ihrer Generation im Diskurs des Klimawandels einzunehmen. Eine These dazu wäre, dass Klima in der Zeit ihres Aufwachsens eines der zentralen Themen war, während das in älteren Generationen erst innerhalb der letzten Jahre, also nur für einen kleinen Teil der eigenen Lebenszeit zentral war.
Die Subjektpositionen sind dabei nie völlig fixiert. So können neue Elemente, beispielsweise die Frage, wie man sich zur (scheinbaren oder behaupteten) Militanz anderer Gruppen innerhalb der Klimabewegung stellt, die einzelnen Subjektpositionen verschieben. Aktionsformen, die vorher als legitim erschienen, können im Kontext des neuen Diskurses nicht mehr als legitim erscheinen oder andersherum. Hier entsteht eine Dislokation, also eine Situation, in der sich die einzelnen Subjekte für eine Position entscheiden müssen. Sie können sich mit den anderen Aktionsformen solidarisieren oder sich von diesen abgrenzen. Diese Identifizierung könnte dabei beispielsweise auf ihrer bisherigen Erfahrung mit anderen Aktionsformen aufbauen und durch diese mitbestimmt sein.
Ein leerer Signifikant, also der Knotenpunkt, um den sich der Diskurs konstituiert, könnte dabei in der Klimakrise an sich gesehen werden. Das scheinbare Gemeinsame der Bewegung ist das Anerkennen der Klimakrise, in Abgrenzung zu denen, die diese nicht anerkennen. Dabei sind aber die Deutungen der Klimakrise oder die Schlussfolgerungen aus dem Anerkennen nicht unbedingt dieselben. Es ist also eine Äquivalenz nach Außen vorhanden, gleichzeitig aber eine Differenz innerhalb des Diskurses.
Auch, dass Identität immer durch die Abgrenzung von einem Außen geschaffen wird, ist bei Fridays for Future besonders sichtbar. Das Außen ist dabei die Politik, aber auch ältere Generationen, die der Frage des Klimawandels zu wenig Beachtung geschenkt haben bzw. zu wenig getan haben. Dabei geht es um eine Abgrenzung von eben diesen Gruppen, die als zu unbeweglich bzw. zu in alten Denkmustern (beispielsweise wirtschaftlichem Denken) verhaftet gesehen werden.
In der Folge von dem ersten Auftreten von Fridays for Future können sich auch bei einigen Subjekten des Außens des bisherigen Diskurses Dislokationen festmachen lassen. So haben sich in der Folge zum Beispiel Parents for Future gegründet. Die Dislokation kann hier darin gesehen werden, dass erst durch die neue Bewegung die Subjekte in eine unentscheidbare Situation gebracht wurden und sich entweder mit ihrer Generation identifizieren mussten, also beispielsweise mit der Position, dass die ‚junge Generation‘ eigentlich gar kein Fachwissen hätte und sie die Entscheidungen lieber den ‚Profis‘ überlassen sollten, oder mit der Position der neuen Bewegung. In der Folge entstand dann Parents for Future als Bewegung der Subjekte, die sich vom Rest der Eltern explizit abgrenzen wollten und sich mit der neuen Bewegung identifizieren.
Bei Fridays for Future handelt es sich also um einen Diskurs, der nicht unabhängig von anderen Diskursen funktioniert und sich mit diesen auch teilweise überschneidet. Die Subjekte innerhalb dieser Diskurse werden durch den neuen Diskurs teilweise mit Dislokationen konfrontiert, auf Grund derer sie sich dann positionieren. So werden die Identitäten der Subjekte verändert. Diese Positionierung findet dabei nicht völlig frei statt, sondern ist geprägt durch bisherige Subjektpositionen, also der Vergangenheit des jeweiligen Subjekts.