Inhaltsverzeichnis
Universalismus vs. Partikularismus
Im Folgenden sind die Texte, die in der Sitzung besprochen wurden, dargestellt. Es finden sich jeweils Angaben zu den Autor*innen und zum Inhalt. Es folgen eine Annäherung an die Begriffe „Universalismus“ und „Partikularismus“ unter Rückgriff auf die Texte und der Versuch einer Abgrenzung der beiden Begriffe mit Hilfe von Beispielen. Abschließend werden die Seminardiskussion zu den Begriffen und ihrer Abgrenzung zueinander dargestellt.
Frank Furedi - „Die verborgene Geschichte der Identitätspolitik“ - Von Herder zum Trans-Aktivismus: Über den Siegeszug einer gegenaufklärerischen Idee
in: Richardt (Hg). Diesortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik: 12–24.
Zur Person
Frank Furedi ist eremitierter Professor für Soziologie an der University of Kent. Er wurde 1947 in Budapest geboren und migrierte nach Canada, später nach Großbritannien. Er studierte Politikwissenschaften und Afrikastudien. Seine Forschung beschäftigt sich insbesondere mit Risiko, Vorsorge und Angst.
Inhaltsangabe
Identitätspolitik ist seit ihrem Aufkommen im späten 18. Jahrhundert ständigen Veränderungen unterworfen. Mal schloss sie umfassende Identitäten wie Volk und Nation ein, mal konzentrierte sie sich auf bestimmte Individuen. Mal waren ihre Vertreter*innen Konservative oder Nationalist*innen mal radikale Linke. Trotzdem lassen sich Gemeinsamkeiten ausmachen. Ihre Geschichte lässt sich in vier Phasen unterteilen (S.12):
Phase 1: Aufstand gegen den Universalismus
Die Vorformen dessen, was später zur Identitätspolitik werden sollte, entstand im späten 18. Jahrhundert. Als Gegenbewegung zur Aufklärung und der universalistischen Ideenwelt der Französischen Revolution betonten Denker der Romantik (z.B. Johann Gottfried Herder, Joseph de Maistre, Ernest Renan) die Identität bestimmter Völker und Gruppen. Sie beharrten auf eine „authentische Kultur“ (S.13) und verachteten das universale Ideal der Menschenrechte als „abstrakten Unsinn“ (S.14). Den Menschen an sich gebe es nicht, lediglich Völker. Die Nation wurde als „Seele“ und „spirituelles Prinzip“ gefeiert. Diese Überhöhung von kultureller Heterogenität und Verschiedenheit hatte einen erkenntnistheoretischen Separatismus zur Folge: verschiedene Kulturen haben unterschiedliche Wege an Erkenntnisse zu gelangen. Damit werden Erkenntnisse relativ. Dieser Separatismus kann als Vorstufe der Rassentypologien des frühen 20. Jahrhunderts betrachten werden. Zwischen den beiden Weltkriegen nahm die Fokussierung auf nationale Identitäten in Form des Nationalsozialismus eine extreme Form an (S.15).
Phase 2: Neue soziale Bewegungen
Nach dem die Rolle der Linken in anti-rassistischen und feministischen Kämpfen, trotz formellem Festhalten an dem Ideal universaler Gleichheit, bis dato durchwachsen ausgefallen war, trieb sie in den 1960er Jahren eine gruppenbezogene Identitätspolitik voran. Die Strategie der Befreiungsbewegungen von Schwarzen, Frauen und Homosexuellen der 1960er Jahre setze auf die Politisierung von Identität der unterdrückten Gruppen. Diese Neuen sozialen Bewegungen beeinflusste die Linke nachhaltig. Es kam zu einer Verschiebung des Fokus von der Klasse weg und hin zur Identität. Zudem identifizierte sich die Linke zunehmend mit radikalen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Die Orientierung vermengte sich mit einer Ablehnung des in westliche Gesellschaften vorherrschenden Weltbildes. Aus der Feindseligkeit gegenüber der alten Ordnung entwickelte sich allerdings nie eine eigene Ideologie, bzw. ein ernsthafter Gegenentwurf. Stattdessen etablierte sich eine Logik der Gegenkultur nach der alles persönliche politisch ist: die Identitätspolitik (S.16). Zwar wurde sich weiter einer radikalen Befreiungsrhetorik bedient, im Kern blieb und bleibt sie jedoch konservativ: sie zelebriert das Besondere und misstraut universellen Werten. Die Politik der Identität ist letztlich durch und durch selbst bezogen. Der „cultural turn“ der Linken lenkte sie von ihrem Interesse an gesellschaftlicher Solidarität ab und sakralisierte Identität. Differenz und Vielfalt ersetzen das Ideal zwischenmenschlicher Solidarität.
Phase 3: Verschmelzen von Identität und Viktimisierung
In den 70er Jahren verschmolz die Identitätspolitik mit der Opferpolitik. Opferstatus und Leiden wurden zur Quelle der Mobilisierung von Anhängerschaft in linken Bewegungen (S.17). Es kam zu einer Ausweitung des Opferbegriffs: Nicht mehr außerhalb des alltäglichen liegende Schädigungen, die ein Individuum erlitten hat, begründeten den Opferstatus, sondern der Opferstatus wurde als integraler Bestandteil einer ungerechten Gesellschaft betrachtet (S.18). Die Ausweitung hatte zur Folge, dass bisher als normal empfundene Erfahrungen, zu Opfernarrativen gerieten (z.B. männliche Beschneidung) (S.20). Verschiedenste Gruppen erklärten ihren Opferstatus in der Gesellschaft zum Kernbestand ihrer Identität (S.19). Diese Form der Identitätspolitik von Opfern wurde von Aktivisten*innen als neue Form radikaler Politik betrachtet.
Phase 4: Der therapeutische Ethos
In den 1970er Jahren begann die Darstellung des Opfers als per se und vollkommen schuldlos. Jede Infragestellung der Forderungen von Opfern (-gruppen) durch Dritte wurde als „Opferbeschuldigung“ abgetan. Potentielle Opfer waren dabei weiterhin nahezu alle außerhalb einer herrschenden Elite. Die radikale Kriminologie ging teilweise davon aus, dass grundsätzlich alle benachteiligten Gruppen ungerechtfertigt beschuldigt würden. Die Gleichsetzung des Opferbegriffes mit Schuldlosigkeit stattete Opfer mit moralischer Autorität aus, ihnen musste geglaubt werden. Das führte de facto zu einer Umkehrung der Unschuldvermutung. Damit ging und geht es bei der Definition des Opferstatus nicht um die Intention des „Täters“, sondern einzig um darum, ob das „Opfer“ sich viktimisiert fühlt (S.21). Damit wird die Realitätsicht der Opfer absolut (S.22). Wie schon im 19.Jahrhundert wurde und wird darauf beharrt, dass man eine bestimmten Kultur nur dann verstehen kann, wenn sie auch Teil der eigenen Identität ist und man sich auch nur dann sinnvoll zu ihr äußern kann/ darf (S.22). Das geht soweit, dass jegliche Kritik an bestimmten Positionen nicht als Angriff auf eine Meinung, sondern als Angriff auf eine Person gewertet wird, der verletzt und seelische Schäden verursacht (S.23). Das Ergebnis dieser therapeutisch geprägten Kritik sind der Abbruch von Debatten, Zensur und Illiberalität.
Das Ende der Solidarität
Während die identitätspolitischen Bewegungen der 1960er und -70er Jahre alle Energie darauf verwendeten politische, ökonomische und soziale Hindernisse zu überwinden und Gleichheit herzustellen, kämpfen die heutigen lediglich um Anerkennung und Respekt für ihren Opferstatus. Zwar waren auch frühere Bewegungen separatistisch und partikularistisch, jedoch nicht so narzisstisch orientiert wie die heutigen (S.23). Diese Form der Identitätspolitik führt zu einer Fragmentierung und Individualisierung. Die Politisierung der Kultur erschwert zudem die Bildung von Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen. Eine von den Idealen der Solidarität und Universalität geprägte Politik wird verdrängt.
„Identitätspolitik ist keine Politik“ - Mark Lilla
in: Neue Zürcher Zeitung, 26.11.2016. https://www.nzz.ch/feuilleton/mark-lilla-ueber-die-krise-des-linksliberalismus-identitaetspolitik-ist-keine-politik-ld.130695; 7.10.2019
Zur Person
Mark Lilla (*1956 in Detroit) ist Professor für Ideengeschichte an der Columbia University in New York. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem politischen und religiösen Denken westlicher Gesellschaften.
Inhaltsangabe
Die US-amerikanische Gesellschaft ist heute bunter gemischt als je zuvor. Die Eingliederung dieser unterschiedlichen Gruppen funktioniert zwar nicht perfekt, aber dennoch besser als sonst irgendwo auf der Welt.
Moralische Panik
Trotzdem muss ein Weg gefunden werden, wie mit dieser Diversität im politischen Alltag einer funktionierenden Demokratie umgegangen werden soll. Die bisherige Antwort des Linksliberalismus, Unterschiedlichkeit wahrnehmen und feiern, sei Ausdruck einer moralischen Panik, tauge jedoch nicht als Basis einer einigenden regierungsfähigen Kraft. Zwar haben die Kämpfe von identitätspolitischen Bewegungen zweifellos positive Ergebnisse erzielt. Die Fixierung auf Diversität hat aber dazu geführt, dass eine ganze Generation von Linksliberalen und Progressiven herangewachsen ist, die nicht in der Lage ist, sich auf die Lebensrealitäten von Menschen einzulassen, die anders denken als sie. Auch Hillary Clintons Wahlkampf war vom Identitätsdiskurs geprägt. Die Nichterwähnung der weißen Arbeiterklasse hat letztlich zu Trumps Wahlerfolg geführt.
Verzerrtes Geschichtsbild
An Schulen und Colleges werden politische Diskurse und historische Entwicklungen zunehmend an Identitätsfragen verhandelt. Grundthemen wie die Klassenfrage, Krieg, Wirtschaft und Gemeinwohl werden vernachlässigt. Auch an den Colleges werden die Studierenden ermutigt, ihre „Selbstfixierung“ weiterhin zu pflegen. Diese Form von Diversitätsbewusstsein hat die linksliberalen Medien stark beeinflusst: Auch hier führt die Fokussierung auf Identitätsfragen dazu, dass größere Zusammenhänge nicht geklärt werden. Am dramatischsten zeigen sich die Probleme der Identitätspolitik im Wahlkampf und bei Wahlen. Schlagkräftige Politik konzentriert sich auf Gemeinschaftlichkeit. Identitätspolitik hat mit Ausdruckskraft, nicht Überzeugungskraft zu tun.
Der zornige weiße Mann
Die „Whitelash“-These, die Trumps Wahlsieg seinem Geschick, wirtschaftliche Benachteiligung in rassistische Wut zu transformieren zuschreibt, ist für Linksliberale bequem. So müssen sie sich nicht mit den Anliegen der Trump-Wähler beschäftigen und könne ignorieren, dass die eigene Obsession mit Diversität die weißen auf dem Land lebenden, religiösen Amerikaner überhaupt erst dazu brachte, sich als benachteiligte Gruppe wahrzunehmen.
Ein alt-neuer Linksliberalismus
Amerika braucht einen Linksliberalismus der Identitätsfragen überwindet und sich stattdessen auf frühere Errungenschaften abstützt. Der sich den Anliegen der Mehrheit Priorität gibt, an gemeinsamen Bürgersinn und gegenseitige Hilfsbereitschaft appelliert. Um potentielle Verbündete nicht abzuschrecken sollten Fragen der Sexualität und der Religion diskret, einfühlsam und mit einem Gefühl für Verhältnismäßigkeit behandelt werden. Lehrkräfte sollten sich wieder darauf konzentrieren verantwortungsbewusste Bürger*innen zu erziehen. Ein Post-Identitäts-Linksliberalismus muss betonen, dass Demokratie auch mit Pflichten zu tun hat. Die Presse muss sich den vernachlässigten Landstrichen zuwenden und in Erfahrung bringen, was den Menschen dort wichtig ist und wieder über das Weltgeschehen und komplexe Zusammenhänge berichten.
Vier Freiheiten
Das wahre Fundament des amerikanischen Linksliberalismus liegt in den vier Freiheiten, die Roosevelt 1941 gehalten Rede genannt und überall auf der Welt eingefordert hatte: Rede- und Glaubensfreiheit, die Freiheit vor Not und die Freiheit vor Furcht. Darauf soll sich besonnen werden.
Sylke van Dyk: Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen. Für einen rebellischen Universalismus.
in: APuZ 9-11/2019, Identitätspolitik, S. 25 - 32. Online abrufbar unter: https://www.bpb.de/apuz/286508/identitaetspolitik-gegen-ihre-kritik-gelesen-fuer-einen-rebellischen-universalismus
Zur Person
Silke van Dyk (geb. 1972) studierte Soziologie, Politikwissenschaft, Volkswirtschaftspolitik und Arbeitsrecht, sie promovierte 2005. Seit 2018 ist sie Direktorin des Instituts für Soziologie der Uni Jena, wo sie weiterhin Professorin für Politische Soziologie ist. In ihren Schriften beschäftigte sie sich vor allem mit der Soziologie des Alterns, Diskurs und Gouvernmentalität, Gesellschaftskritik und Postwachstum.
Inhaltsangabe
Bürgerliche und Marxistische Kritik der Identitätspolitik
Für den Aufstieg des Rechtspopulismus suchen laut van Dyk sowohl bürgerliche Liberale als auch Marxist_innen einen Sündenbock. Beide meinen diesen in der Identitätspolitik gefunden zu haben, was nicht nur eine differenzierte und tiefergehende Auseinandersetzung mit der Identitätspolitik erschwere. Es behindere auch den Kampf gegen den Rechtspopulismus und Diskriminierung.
Die bürgerliche Kritik der Identitätspolitik, wie sie Mark Lilla äußere, werfe ihr eine Entfremdung der Mehrheitsgesellschaft vor. Ihre Forderung sei entsprechend die breite politische Einbindung mündiger Bürger_innen. Identitätspolitiker_innen erscheinen hier als kosmopolitische Eliten, die durch ihren Gestus moralischer Überlegenheit eine (rechts-)populistische Reaktion provozieren, anstatt auf geerdete Gemeinschaften zu setzten.
Marxistische Kritiker_innen monierten in ähnlicher Weise eine Zersetzung der Klassensolidarität. Sozioökonomische Partikularität (also die ‚Identität‘ als Klasse) werde hier über andere Unterscheidungen (Geschlecht, Ethnie) gesetzt.
Gemeinsam sei beiden Formen der Kritik, „dass Identitätspolitik Partikularinteressen von Minderheiten zulasten eines - unterschiedlich gefassten - Allgemeinen vertrete.“ Auch würden beide sich in ihrer Kritik auf linke Identitätspolitik stürzen, und rechte Identitätspolitik als Reaktion auf diese kleinreden.
Drei Vorwürfe an die Identitätspolitik
Diese Kritik verdichtet van Dyk zu drei Vorwürfen, die sie versucht einzeln zu widerlegen.
Spaltung
Dieser Vorwurf basiere auf der fälschlichen Annahme eines real verwirklichenden Universalismus, der tatsächlich aber noch ein Ideal sei. (Linker) Identitätspolitik werde vorgeworfen, in narzißtischer Weise eine Sonderbehandlung von Partikularitäten zu fordern, wo sie tatsächlich eine gleichwertige Behandlung fordere, etwa wo Gruppen marginalisiert und von vermeintlich universalen Rechten ausgeschlossen werden. Sie zeige auf unbequeme Weise auf, wo der Universalismus eben nicht realisiert sei. Der Vorwurf der Spaltung entstehe da, wo Privilegien mancher Gruppen als Normalität gelten.
„Spaltend sind nicht die sozialen Bewegungen, die den real existierenden Universalismus als Produkt partikularer Interessen enttarnen, gebunden an die mit weißer Männlichkeit verbundenen Privilegien. Spaltend sind diejenigen, die diese Privilegien im Namen der Universalität verteidigen.“
Ablenkung
An der Identitätspolitik wird laut van Dyk oft kritisiert, „hippe Ausdrucksform[] ästhetischer Vorlieben zu sein“, die sich also auf das Private konzentriere und keinen politischen Kampf zulasse. Von klassenpolitischer Seite geht damit auch der Vorwurf an die Identitätspolitik einher, ökonomische und materialistische Fragestellungen auszublenden. Historisch sei dies unhaltbar, da viele identitätspolitische linke Bewegungen in politische und ökonomische Kämpfe verwickelt waren. In der Theorie kennzeichne dieser Vorwurf eine Rückkehr zu orthodoxem Marxismus, der ‚Nebenwidersprüche‘ ausblende und nur die Klassenfrage als politische Fragestellung zulasse - ein Marxismus, der bereits seit Gramsci nicht mehr en Vogue sei. Der Vorwurf der Ablenkung ist nach van Dyk letztendlich selbst eine Abwehrreaktion auf eine Errungenschaft der Identitätspolitik: Die Untrennbarkeit von privater Kultur und öffentlicher Politik aufzuzeigen.
Koalition mit dem Neoliberalismus
Laut van Dyk habe die Kritik der Identitätspolitik richtigerweise festgestellt, „dass sich Formen der Entfremdungskritik und der Selbstorganisation wie auch Diversity- und Gleichstellungspolitiken als anschlussfähig an das neoliberale Projekt erwiesen haben“, dass also der neoliberale Umschlag des Kapitalismus mit einigen Anerkennungsforderungen der Identitätspolitik (etwa der Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt) kompatibel war. Aus dieser „strukturelle[n] Passfähigkeit“ jedoch eine „aktive Komplizenschaft“ herzuweisen, sei überzogen.
Forderungen
Um die Gefahr des aufsteigenden Rechtspopulismus, und eine sich an diesen anbiedernde anti-identitätspolitische Linke, wie van Dyk sie sieht, abzuwenden, fordert sie eine inklusive Klassenpolitik. Dies solle eine materialistische, antinationalistische Politik sein, die auch andere Unterdrückungsverhältnisse als die Klassenfrage miteinbeziehe. Zwischenzeitlich seien jedoch auch „klassenübergreifende Bündnisse“ im Kampf gegen Diskriminierung notwendig.
Volker Weiß: Rechte Identitätspolitik - Partikularismus und Opferdenken.
Interview mit Volker Weiß 2018, in: Richardt, Johannes (Hg.): Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt, S. 78 - 88.
Zur Person
Volker Weiß (geb.: 1972) studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Literaturwissenschaft und Psychologie und promovierte 2009 als Historiker. Heute ist er freier Autor und schreibt hauptsächlich über Geschichte und Gegenwart des Rechtsextremismus und Antisemitismus.
Inhaltsangabe
Die Neue Rechte konstituierte sich nach Weiß nach 1945 in akademischen Milieu in Abgrenzung zur „alten Rechten“, die sich deutlich offener auf den Nationalsozialismus beziehe. Bestimmend für beide Gruppen sei das Empfinden einer Notwehrsituation, in der das 'Eigene' (v.a. in Bezug auf die eigene Nation) als bedroht wahrgenommen werde. Dieses Eigene werde verstanden als eine richtige, alte Ordnung, das sind etwa konservative Geschlechterrollen, deren Verwirrung die modernen Krisen und Migrationswellen erst möglich gemacht hätte. Mit dieser Defensivposition rechtfertige die Rechte ihre eigene Radikalisierung (vgl. S. 78ff.).
Rechter Partikularismus - „Gleichheit ist langweilig“
Einen Ausschlagspunkt für den neueren Erfolg rechter Identitätspolitik (sowie Identität im Allgemeinen) sieht Weiß im Zusammenbruch des Ostblocks. Nachdem damit Sozialkämpfe an Legitimation verloren hätten, sei Kultur (beispielweise Szenekultur) zum bedeutendsten Marker für Differenz geworden. Die Betonung des Nationalen verkaufe sich daher als letzte Bastion gegen eine Gleichschaltung und Nivellierung der Differenz (vgl. S. 82f.).
Anleihen und Überschneidungen
Zu ihrer Selbstdarstellung als Underdog („Republican is the new punk“, wie Milo Yiannopoulus meinte) passen die Anleihen an die 68-er Linke. Der Begriff der Entfremdung wird laut Weiß von ihnen etwa völkisch aufgeladen, während sie sich in Konsumverzicht übten (vgl. S. 84).
Hier ist noch ein Beispiel aus Facebook für die typische Redeweise der neueren Rechten eingefügt
In derselben Weise habe die Neue Rechte die Linke Identitätspolitik aus den Vereinigten Staaten kopiert. Die Neue Rechte fordere in paralleler Weise zu dieser Anerkennung und Respekt für ihre Identitätskategorie, die eine Rückkehr zur rassischen Segregation bedeuten würden. Eine Verallgemeinerung solchen identitätspolitischen Diskurses sieht Weiß als Gefahr für die Linke und für Gesellschaftskritik als solche (vgl. 86f.).
Auch mit dem politischen Islam verbindet die Neue Rechte einiges. Weiß nennt etwa die konservativen Weltbilder, die Autoritätshörigkeit, die Zwangskollektivisierung, aber auch die Anfeindung gegen den westlichen Liberalismus, der sich oft antisemitisch äußere. Weiß benennt deshalb „den islamischen Fundamentalismus als eine Spielart des Rechtsextremismus“ (S. 85). Darauf aufbauend fordert Weiß von der Linken in Deutschland eine „Rückkehr zur Religionskritik“ (S. 86), die Essentialisierung des Islam als Schicksalskollektiv, die Weiß der Linken vorwirft, habe zur Stärkung der AfD beigetragen.
Forderung: Universalismus der Aufklärung
Statt die bürgerliche Ordnung, die für ihn durchaus emanzipatorische Elemente beinhaltet, zu zerstören, wie die politische Reaktion es fordere, strebt Weiß ihre dialektische Überwindung an. Da ein Rückschritt weder möglich noch wünschenswert sei, brauche es einen „selbstreflexiven Fortschritt“ (S. 87), der Aufklärung und Universalismus kritisiert, ohne sie zu verdammen.
Zum Verhältnis von Universalismus und Partikularismus
In den Lexikon-Einträgen zu Universalismus und Partikularismus finden sich Erläuterungen zu den Begriffen.
Partikularismus gegen Universalismus
Partikularismus und Universalismus beziehen sich beständig aufeinander, weshalb eine eindeutige Abgrenzung nicht möglich ist.
Der rechte Partikularismus, wie er etwa im Ethnopluralismus auftritt, fordert zwar die Anerkennung und Segregation völkischer Partikularitäten, dies jedoch auf einer gewissermaßen universalen Ebene: Die Betonung der Besonderheit gilt nicht nur für das eigene Volk, sondern soll weltweit für alle Völker gelten. Gleichzeitig ist rechte Identitätspolitik nach Volker Weiß immer gegen den Universalismus als aufklärerisches Versprechen gerichtet, den sie als 'Gleichschaltung' der Besonderheiten delegitimiert.
In ganz anderer Weise ist linke Identitätspolitik nach der Argumentation von Silke van Dyk universalistisch: sie zeige Missstände in der vom Universalismus versprochenen Gleichbehandlung Aller auf, jedoch nicht mit dem Ziel den Universalismus abzuschaffen, sondern diese Missstände zu beheben.
Als Beispiel für das Wechselspiels zwischen universalistischen und partikularistischen Konzepten in linken Bewegungen lassen sich die Diskussionen in den Gruppen „Lesbian and Gays support the Miners (LGSM)“ und „Lesbians Against Pit Closures (LAPC)“ anführen, die in den 1980er Jahren von Londoner Schwulen* und Lesben* zu Unterstützung der Bergarbeiterstreiks gegründet wurden. Mit dem grundsätzlich universellen Anspruch angetreten alle Menschen in den Bergarbeiterdörfern zu unterstützen, bezweifelten bald einige Frauen* der Gruppe LGSM, dass in diesem universellen Anspruch Bedürfnisse von Frauen* ausreichend beachtet werden und gründen eine eigene Gruppe (LAPC). Einige Interviews in der von den Aktivist*innen selbst gedrehten Dokumentation „All Out! Dancing in Dulais“, veranschaulichen das Spannungsfeld, in dem sich ihre politische Arbeit beispielhaft verorten lässt:
„All Out! Dancing in Dulais“: https://www.youtube.com/watch?v=lHJhbwEcgrA
Zusammenfassung der Seminardiskussion
Der Streit um Partikularismus und Universalismus, wie wir ihn kennen, begann nach Frank Furedi mit der Aufklärung. Doch was kam zuerst? Wurde ein Universalismus ‚erkämpft‘, der dann aber in der Romantik einen Backlash auslöste, der partikulare Besonderheiten besonders betonte? So stellt es Furedi dar. Oder waren es die Partikularismen, die das Fehlen einer universalen Gleichheit deutlich machten? Die klassischen Philosophen der Philosophiegeschichte, von den alten Griechen bis zum Deutschen Idealismus, verstanden sich als Universalisten. De facto waren jedoch immer Menschen aus diesem Universalismusverständis ausgeschlossen, im antiken Griechenland etwa Sklav*innen oder Frauen*. Partikularismus scheint die logische und notwendige Antwort auf diese Ausschlüsse.
Auch die Menschen- und Bürgerrechte, die als universelle Konzepte antraten, galten (und gelten an an einigen Stellen bis heute) bloß vermeintlich universell. Frauen, Kolonisierte, Rassifizierte und viele andere Teile der (globalen) Gesellschaft waren nicht einmal in der Theorie eingeschlossen - von der tatsächlichen Umsetzung ganz zu schweigen. Bis heute sind die Menschenrechte nicht universell verwirklicht. Hinter dem Anspruch des Universalismus versteckt sich häufig ein Partikularismus derjenigen, die Privilegien haben. Das wirft die Frage auf, ob ein Universalismus, der seinem eigenen Anspruch gerecht wird überhaupt praktisch möglich ist?
Man stößt an die Frage, ob eine universelle politische Praxis (etwa für Menschenrechte, für universelle Freiheit etc.) möglich ist. Der universelle Gedanke ist zunächst unabhängig von der eigenen Position, die Frage ist was wir praktisch daraus machen.
Rechtspopulist*innen fühlen sich (als privilegierte Personen) von den Partikularinteressen weniger privilegierter Personen bedroht und betreiben als Verteidigungsreaktion selbst Identitätspolitik. Sie machen dabei nicht explizit, dass sie Politik nur für etwa weiße Deutsche machen, sondern nehmen dafür übergreifendere Begriffe wie ‚Volk‘. Laut Volker Weiß beansprucht die extreme Rechte ‚die Differenz für sich‘. Sie machen v.a. auf völkischer Ebene vermeintliche Differenzen stark. Kann man deswegen aber behaupten, dass die Identitätspolitik der neuen Rechten Vorschub geleistet hat? Vielleicht kann man das behaupten, aber nicht so, wie viele Kritiker*innen der Identitätspolitik es tun. Identitätspolitische Bewegungen greifen die Privilegien des weißen Mannes an, und der versucht seine Privilegien zu verteidigen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ein linkes Klassensubjekt verloren gegangen eventuell verloren gegangen ist oder ähnlichem.
Der Identitätspolitik wird vorgeworfen, nur noch partikulare Interessen zu vertreten, statt ein ‚universales‘ klassenpolitisches Ziel zu verfolgen. Van Dyk spricht sich deshalb für einen rebellischen Universalismus aus: Es braucht den Kampf für partikulare Interessen, um Diskriminierung zu bekämpfen und eine intersektionale Perspektive. Was ist also das Verhältnis von Identitätspolitik zu Partikularismus? Stuart Hall stellt ein zweistufiges Modell vor: Auf der ersten Stufe ist Identitätspolitik eine Sichtbarmachung von partikularen Interessen, auf der zweiten Stufe jedoch ein ‚Durchkreuzen‘ und Auflösen der partikularen Interessen. Man darf nicht stehenbleiben bei der Sichtbarmachung von Partikularinteressen, sondern muss weiter gehen und herausfinden, was getan werden muss um die jeweiligen Ausschlüsse zu bekämpfen.
Universalismus findet einen Gegenbegriff auch im „Relativismus“, vor allem bei der Frage ob universelle/objektive Aussagen über die Welt überhaupt möglich sind. Universalismus ist nicht der eindeutige Begriff, als der er oft verwendet und diskutiert wird. Auch wenden sich viele Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Theoretiker*innen, denen Partikularismus vorgeworfen wird, nicht gegen das Ideal des menschenrechtlichen Universalismus. Die Begriffe Partikularismus und Universalismus werden ständig unterschiedlich definiert. Je nach Definition fällt eine Position oder ein Phänomen mal unter den Partikularismus, mal unter den Universalismus. Universalismus wird mit dem Hauptwiderspruch, Partikularismus mit dem Nebenwiderspruch in Verbindung gesetzt. Eine Gleichsetzung, die allerdings keinem der Begriffe gerecht wird. (Zur Debatte Universelle Menschenrechte vs. Kulturrelativismus: https://www.bpb.de/internationales/weltweit/menschenrechte/38709/universelle-menschenrechte )
Zum Abschluss der Diskussion versuchten wir die positive und negative Aspekte, die um die Begriffe des Partikularismus und des Universalismus genannt wurden, zu tabellarisieren. Dies wurde nicht zu Ende geführt, weil sich Vorteile und Nachteile nicht eindeutig zuordnen ließen und die beiden Begriffe sich nur schwerlich als klare Gegenbegriffe gegenüberstellen ließen; hier jedoch das unfertige Produkt:
Partikularismus | Universalismus | |
---|---|---|
Positive Aspekte | - Erkämpft Rechte für marginalisierte Gruppen. - Alle Perspektiven werden miteinbezogen. | |
Problematiken | - Bedarf der Kollektive, denen sich nicht jeder zuordnen kann. - Manche Gruppen können sich besser oder schlechter organisieren, so gibt es kein 'gleiches Nebeneinander' der Gruppen. | - Ist womöglich das Interesse der stärksten Gruppe und damit selbst ein Partikularismus. (Aber ist das noch Universalismus? Genau das sei doch Partikularismus) |
Quellen
Furedi, Frank 2018. Die verborgene Geschichte der Identitätspolitik. In: Richardt (Hg). Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik: 12-24.
van Dyk, Silke 2019. Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen. Für einen rebellischen Universalismus. In: APuZ 9–11/2019, Identitätspolitik: 25-32.
Lilla, Mark 2016. Identitätspolitik ist keine Politik. In: Neue Zürcher Zeitung, 26.11.2016. https://www.nzz.ch/feuilleton/mark-lilla-ueber-die-krise-des-linksliberalismus-identitaetspolitik-ist-keine-politik-ld.130695; 7.10.2019.
Interview mit Volker Weiss 2018: Rechte Identitätspolitik – Partikularismus und Opferdenken. In: Richardt, Johannes (Hg). Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt: 78-88.
Cole, Jeff: Dancing in Dulais, YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=lHJhbwEcgrA, zuletzt abgerufen: 16.04.2020.