Positionalität / postkolonial – who can speak?

Auf dieser Seite werden die sich überschneidenden Themen der Positionalität und des Postkolonialismus behandelt. Es werden zwei Texte behandelt. Die Künstlerin und Autorin Hito Steyerl bespricht in ihrem Aufsatz „Die Gegenwart der Subalternen“ die Problematik der Repräsentation und die Frage: Wie können sich Möglichkeiten der Emanzipation für Subalterne bieten? Ihr Aufsatz dient als Einleitung für Gayatri Chakravorty Spivaks viel diskutierten Aufsatz „Can the subaltern speak?“. Fatima El-Tayeb bespricht in ihrem Buch „Undeutsch“ unter anderem den Unwillen der Europäer*innen, strukturellen Rassismus anzuerkennen und zeigt auf, wie andere Stimmen in den mehrheitsdeutschen Diskurs aufgenommen werden können. Im Folgenden werden die beiden Autor*innen vorgestellt und ihre Texte zusammengefasst. Daraufhin werden Fragen aufgeworfen, die eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den Texten ermöglichen können. Außerdem wird eine mögliche Gestaltung eines Seminars, welches die beiden Texte besprechen würde, präsentiert. Im letzten Abschnitt der Seite finden sich Links zu weiterführenden Diskussionen, Artikeln und Videos der angeschnittenen Themen.

Die Gegenwart der Subalternen, Hito Steyerl

Hito Steyerl 2019

Hito Steyerl wurde 1966 in München geboren. Sie ist Filmemacherin und Autorin und beschäftigt sich in ihren Werken vor allem mit postkolonialer Kritik und feministischer Repräsentationskritik. Außerdem ist sie Professorin für Experimentalfilm und Video sowie Mitbegründerin des Research Centers for Proxy Politics an der Universität der Künste Berlin. 2019 wurde sie mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet. Steyerl gilt als eine der einflussreichsten internationalen Künstler*innen. Steyerls' Text „Die Gegenwart der Subalternen“ wurde im Jahr 2011 als Einleitung für Gayatri Chakravorty Spivaks Aufsatz „Can the subaltern speak?“ veröffentlicht. Zu einer Diskussion von Spivaks Aufsatz geht es hier.

Die Gegenwart der Subalternen

Die These: Heute ist die Arbeiterklasse subaltern, also „schweigend“ (7). Illustration der These: Journalistin interviewt Arbeiterin in dem Spielfilm "Tout va bien". Man hört nicht, was diese sagt, sondern stattdessen eine Stimme aus dem Off. Die Stimme aus dem Off soll die Meinung der stumm daneben stehenden zweiten Arbeiterin darstellen. Diese denkt, dass dieses Interview nur weiter „billige Vorurteile“ verbreiten wird.

Denn nicht das, was sie sagen, ist entscheidend, sondern das, was gehört wird. (8)

Eine unfreiwillige Übersetzung

Historisch liegt die Nähe von Subalternität und Proletariat nahe. Schon Gramsci soll den Begriff Proletariat durch den der Subalternen ersetzt haben. Gramscis definiert Subalternen als Gruppen der Gesellschaft, die der Hegemonie der Herrschenden ausgesetzt waren, „in sich uneins und von gesellschaftlicher Repräsentation ausgeschlossen.“ (8) Ihm zufolge werden Subalterne durch die folgenden Merkmale markiert:

  • der Ausschluss erfolgt auch aufgrund von fehlender Artikulationsfähigkeit
  • jede subalterne Gruppe bleibt für sich, weil auch hier keine gemeinsame Sprache besteht

Der Begriff der Subalternen hat sich jedoch mit der Zeit von dem Begriff des Proletariats entfernt. Erstere seien „diffus und uneins“, und somit nicht fähig zur gemeinsamen Organisation (im Gegensatz zum Proletariat).

Übersetzung als trans-latio

In diesem Kapitel beschreibt Steyerl, dass der Prozess der Globalisierung eine Verlagerung der Subalternen in die Peripherien erzwang. Steyerl zufolge haben sich neue Gruppen der Subalternen in dieser Phase „nahezu industriell produziert“(10). Sie stellt den Nutzen der Versuche der Subaltern Studies Group, verlorene, subalterne, oft indigene Stimmen durch Archivrbeit zu rekonstruieren, in Frage. Spivak, so Steyerl, hegte durchaus Sympathien mit dem Vorhaben, war sich aber nicht sicher, ob die Rekonstruktion so einfach sei. Archive seien Horte der Macht und die Stimmen, die rekonstruiert werden sollen, so immer im Verhältnis zu denen, von denen sie aufgeschrieben wurden, zu lesen. Sie können also nicht für sich selbst gelesen werden. Als nächstes wendet Steyerl sich Spivaks erster Kritik der Rolle der „Experten“, z.B. Gilles Deleuze oder Michel Foucault, zu. Diese würden dadurch, dass sie andere für sich selbst sprechen lassen, sich selbst erhöhen. (11) Spivak schließt ab, indem sie meint, dass also die Rekonstruktion der Stimme der Subalternen prinzipiell nicht möglich sei. Dies betrifft vor allem die Stimmen von weiblichen Subalternen. Hier wird das Beispiel der Witwenverbrennung in Indien und die Instrumentalisierung der Aussagen der Frauen angeführt. Letztendlich heißt das also für Spivak: „Die Subalterne kann nicht sprechen“ (12). Der Grund für die Unfähigkeit des Sprechens sie letzendlich: „Die Ordnung der Diskurse erlaubt die Artikulation bestimmter Sachverhalte nicht, das sie selbst auf diesem Schweigen beruht.“

Autistische Monaden

Politik der Repräsentation: Wie können sich Subalterne trotz allem emanzipieren (wenn das Sprechenkönnen eigentlich bedeutet, dass sie nicht mehr subaltern sind, siehe S. 12)? Die Lösung hierfür scheint strategischer Essenzialismus. Hierfür kann sich eine Gruppe Subalterner auf eine gemeinsame Identität berufen und so politische Handlungsfähigkeit etablieren. Dies führt laut Spivak jedoch zu einer Vielzahl von Problemen:

  1. immer weniger strategisch und immer essenzialistischer
  2. Kulturrepräsentation ist nicht gleich politische Repräsentation
  3. „konsumierbare Differenzen“ passten sich gut in Kapitalismus ein
  4. „Kakophonie von Monaden“: einzelne Gruppenidentitäten in Konkurrenz zueinander
In dieser Sprachlosigkeit ist eines besonders unsagbar geworden: Die Solidarität jenseits der Identität.

Potenzial zur Gleichheit würde verleugnet, stattdessen dient das Narrativ der Diversität als imperiale Machttechnik. Solidarität sei also subaltern geworden. (14)

Zurück zur Ausgangsfrage: Ist die Arbeiterklasse subaltern geworden? Antwort: Globale Arbeiterklasse existiert nicht. Es sollte ein politisches Subjekt jenseits von „Staat, Kultur und Identität“ geben und das Augenmerk bzw. der Fokus auf das Sprechen sollte zum (zu)hören gelenkt werden, um das „gemeinsame Schweigen“ zu bemerken. Das Ziel ist also sich vom „autistischen 'Für-sich-selbst-Sprechen'“ zu lösen und dieses besagte Schweigen zu erkennen.(16)

Undeutsch. Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft. 2016. Fatima El-Tayeb. Transcript Verlag, Bielefeld

Fatima El-Tayeb wurde 1966 in Uelzen geboren. Sie ist Historikerin und Drehbuchautorin. Außerdem war sie Mitorganisatorin des Research Projektes „Black European Studies“ (BEST) an der Johannes-Guttenberg-Universität Mainz. Sie ist Professorin für Afrikanisch-Amerikanische Literatur und Kultur an der University of California in San Diego. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Rassismus in Europa, Queer Theory, Populärkultur und Widerstand. kupf.at_wp-content_uploads_2016_11_undeutschgr.jpg

Undeutsch

In ihrem Buch setzt sich El-Tayeb kritisch mit rassistischen Machtstrukturen in Deutschland und Europa auseinander und zeigt diese an verschiedenen Beispielen auf. Das jüngste Beispiel ist hier die Kölner Silvesternacht 2018. Sie zieht eine Verbindung zwischen der Weigerung des hegemonialen, mehrheitsdeutschen Diskurses, strukturellen Rassismus anzuerkennen und die koloniale Vergangenheit zu bearbeiten und gleichzeitig „andere“ Stimmen nicht zu hören bzw. nicht hören zu wollen.

Einleitung

Europäer*innen leugnen die Existenz von strukturellem Rassismus. Gleichzeitig ist klar, dass weiß=europäisch und nichtweiß=nicht-europäisch steht. El-Tayeb konstatiert, dass Zuwanderer nie „richtig“ deutsch sein können. Von „postmigrantisch“ könne keine Rede sein. Mit der „Flüchtlingskrise“ wurden rassifizierte und migrantisierte Deutsche in der Öffentlichkeit an den Rand gedrängt, stattdessen wird die Debatte von „Lichtgestalten“, auch als „Gutdeutsche“ betitelt, dominiert. Auf der anderen Seite dieser „biodeutschen“ Gleichung stehen die „Dunkeldeutschen“, deren Gewaltpotenzial laut El-Tayeb nicht hinreichend erkannt wird. 1)

Rassifizierte und migrantisierte Deutsche sind in den Debatten gänzlich unsichtbar.

„Fremdenfeindlichkeit“ und Rassismusamnesie

El-Tayeb meint, dass Fremdenfeindlichkeit in Deutschland als euphemistischer Ausdruck für Rassismus genutzt werde. Sie fügt darüber hinaus hinzu, dass Alltagsrassismus auch vor Ankunft von Geflüchteten existiert habe.

Rassismus braucht keine Fremden, um zu existieren, er produziert sie. (14)

Im Weiteren beschreibt sie, dass progressive Gruppen verunsichert auf einen möglichen Verlust „absoluter Diskurshoheit“ (14) reagieren würden. Dies kann man laut El-Tayeb an den Reaktionen zur Kritik an Kinderbüchern, denen vorgeworfen wird, rassistische Sprache zu verwenden, erkennen. Diese Debatte erlangte 2013 viel mediale Aufmerksamkeit. 2) Assimilation für Migrantisierte sei unmöglich, weil sie letztendlich doch für immer die „Fremden“ bleiben. El-Tayeb beschreibt diesen Prozess in Deutschland als eine „zwanghafte ewige Wiederholung“: Die erste Begegnung mit Fremden, von ihr als „Rassismusamnesie“ betitelt, gefolgt von rassistischer moralischer Panik, die einhergeht mit der Verdrängung der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerungen. Darüber hinaus definiert sie Multikulturalismus als „diskursive Strategie, die (diesen) Zustand verwaltet und kontrolliert“ (16).

Neoliberaler Multikulturalismus und koloniale Altlasten

El-Tayeb bezieht sich wiederholt auf die Situation den USA. Dort herrsche eine post-racial Narrativ, der einen „farbenblinden liberalen Multikulturalismus“ (16) vorgaukele. Widerstand sei nicht mehr nötig, geradezu übertrieben. Statt Rassismus als obsolet zu betrachten, lädt El-tayeb dazu ein, das globale System als „racial capitalism“ zu analysieren. Diese Analysekategorie wurde unter anderem von Cedric Robinson geprägt und die Analyse vor allem von postcolonial und critical race studies geleistet, was aber im europäischen Kontext nicht anerkennt werde, so El-Tayeb. Die Autorin beschreibt neoliberalen Multikulturalismus als einen Prozess, der den „bedingte[n] Einschluss vormals ausgeschlossener Gruppen - sofern sie sich als einschlussfähig erweisen“ (17) erlaubt. Sie führt aus, dass sich westliche Herrschaft, US-amerikanische Militärgewalt und europäisches Menschenrechtsmanagement (17) seit den frühen 90ern ähneln würden. Darüber hinaus kritisiert sie, dass Auswirkungen (neo-)kolonialer europäischer Herrschaft im hegemonialen Diskurs ignoriert und somit nicht analysiert würden.

Grenzen hegemonialer Selbstkritik

El-Tayeb wirft der kontinental-europäischen Linken vor, rassistische Strukturen nicht systematisch auf den Grund zu gehen. So bleibe der weitverbreitete universalistische Aufklärungshumanismus bei der Annahme hängen, dass der weiße europäische Mann der paradigmatische Mensch sei. Die marxistische Theorie ignoriere „Rasse“ weiter als fundamentale Herrschaftskategorie. Das Einzige, zu dem die Linken fähig seien, sei, sich in hegemonialer Selbstkritik zu üben. Dabei bedienen sie sich an einem „internalistische[n] Narrativ“(Stuart Hall), der eine narzisstische Geschichtsauffassung mit einem essenzialistisch definierten, weißen, christlichen Europa als Norm beinhaltet. El-Tayeb plädiert für eine andere, neue Analyse mit Differenz als Kategorie: Komplexitäten und Wiedersprüche können erfasst werden, müssen/können aber nicht aufgelöst werden3)

Weiße Wissenschaft und gesellschaftlicher Rassismus

Was tun, wenn (fast) ausschließlich weiße Männer zu Debatten eingeladen sind? Beispiel von El-Tayeb: Brief an die Organisator*innen, dass sie bei einer solchen Zusammensetzung der Debattierenden nicht teilnehmen wolle, weil:

  • ein „farbenblinder“ Ansatz 4), welcher „durch rassistische Strukturen produzierte Ausschlüsse und Hierarchien ignoriert“ und somit reproduziert
  • Rassifizierte bleiben Objekte der Debatte, statt teilhabende Subjekte zu sein
  • Universalisierung der dominanten Position/Entpositionalisierung/Verallgemeinerung weißer, männlicher Erfahrung

Antwort der Veranstalter*innen: es gehe bei der Konferenz um eine wissenschaftliche, nicht politische Auseinandersetzung mit dem Thema

  • erste Annahme: Rassifizierte können keine Analyse anwenden
  • zweite Annahme: weiße, heteronormative Wissenschaft nicht politisch und nicht subjektiv

Was ist nötig? Wissenschaftskritik üben und Forschung als diskursbestimmend und nicht neutral anerkennen. (22)

Deutschland postmigrantisch?

Laut El-Tayeb würde „richtiges“ postmigrantisch bedeuten, Migrantisierte nicht mehr als das den/die Andere*n zu sehen und ihre wissenschaftlichen Beiträge voll anzuerkennen und nicht weich zu schleifen (23). Deutschland begreift sich als postfaschistisch, postsozialistisch, postkolonial. Letztendlich spielen diese Themen jedoch kaum eine Rolle im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs und auch nicht in (institutionalisierter) Erinnerungskultur. Der öffentliche Raum bietet aufgrund „punktueller Offenheit“ dennoch Möglichkeit zur Intervention marginalisierter Gruppen (25). Alternative Erinnerungsräume sind aber oft nur temporär und flüchtig. Die Frage ist, was wird letztendlich institutionalisiert? Wer bekommt öffentliche Gelder? Die Integration „anderer“ Geschichte als solches ist nicht möglich, ohne gleichzeitig „Unterwerfung unter bestehende Dominanzstrukturen“ zu verlangen. Um diese Unterwerfung zu vermeiden, müssten die Strukturen selbst müssen hinterfragt werden.

Schluss

Zitat von Seyla Benhabib:

Wir werden in Netzwerke von Gesprächen, von Erzählungen hineingeboren, von Familien- und Geschlechter-Geschichten hin zu linguistischen und zu den übergeordneten Erzählungen kollektiver Identität. Uns wird bewusst, wer wir sind, indem wir an diesen Gesprächen teilhaben. Nichtsdestotrotz, ebenso wie sich aus dem Erlernen der grammatikalischen Regeln einer Sprache die Fähigkeit zur Bildung einer unbegrenzten Anzahl korrekter Sätze ergibt, so begrenzen Sozialisation oder Akkulturalisierung nicht die Lebensgeschichte eines Individuums oder seine oder ihre Fähigkeit, neue Aktionen oder neue Sätze in die Konversation einzubringen. (2002, 15)

El-Tayeb kategorisiert „Rassismus als systemimmanente Strategie, mit gesellschaftlichem Wandel umzugehen“.

Besorgte Bürger_innen und das Recht auf Sicherheit

El-Tayeb wirft im Schluss die Frage auf, wer sich eigentlich sicher fühlt. Grundlegend herrscht die Annahme, dass jeder Mensch sich in Deutschland sicher fühlen könne. Sie merkt jedoch an, dass die Grenzen des Akzeptablen unterschiedlich gesetzt werden: El-Tayeb fühlt sich als schwarze, lesbische Frau in Deutschland nicht sicher, da ihr Leben in Augen der Mehrheit weniger Wert habe. (212) Das Recht auf Sicherheit ist also ungleich verteilt.

Dazu führt sie ein einprägsames Zitat ein:

„Privilegien neigen dazu, unsichtbar zu sein, wenn man sie hat, und unübersehbar, wenn sie einem fehlen“ (213)

Antischwarzer Rassismus und das staatliche Gewaltmonopol

El-Tayeb stellt dar, dass rassistische Polizeigewalt in Deutschland Alltag sei und gibt das Beispiel des Hamburger Polizeiskandals 1994 (214). Sie stellt weiter dar, dass Pädagog*innen oft als Multiplikator*innen von Rassismus und Vorurteilen fungieren. (215)

  • Schwarze Deutsche als „unfreiwillige und unbezahlte Statistiker_innen in Sachen Deutschsein unterwegs“ (217).
  • Rassismus wird immer wieder als Problem erkennt, aber dann wird nicht tief genug gegraben: ewiger Kreislauf?

„Europa und die Mittelmeerregion“ revisited

Europa müsse Verantwortung nicht nur in Gegenwart und Zukunft, aber auch historisch anerkennen. (219) El-Tayeb beschreibt das Phänomen der „fließenden Grenzen“. Länder im Süden Europas sind von Finanzkrisen betroffener mit folgenden wirtschaftspolitischen Auflagen, wie sonst nur für den Globalen Süden (z.B. Griechenland). El-Tayeb konstatiert außerdem, dass der „Normalzustand“ eines autoritär beherrschten pro-westlichen Nordafrikas und Nahen Ostens das Fortbestehen ungleicher, neokolonialer Ordnung sichere. (220) Angeleht an das Buch „Orientalismus von Edward Said erklärt El-Tayeb, dass jede Region in diesem eurozentrischen System ihre Rolle zu spielen habe.

Dennoch merkt sie an, dass kein System es je geschafft habe, Menschen jegliche Ausdrucksformen zu nehmen und so gebe es immer Widerstand. El-Tayeb fordert, dass Europa die eigene koloniale Vergangenheit angeht und dies mit Integration der „Opfersicht“. Es gebe immer eine Antithese zum demokratischen Westen und die wandelt sich beliebig; momentan gilt der Islamismus als wirksames Feindbild (222). Koloniale Ausbeutung ermögliche europäischen Wohlstand. El-Tayeb wirft die Frage auf, ob Demokratie überhaupt ohne Rassismus möglich ist.

Deutschland intersektional und postmigrantisch

Europa muss lernen, von seinen „Anderen“ zu lernen. Momentan werden Probleme wie Sexismus und Antisemitismus jedoch mit Schuldzuschiebung zu Muslimen externalisiert, so El-Tayeb. (225) Sie führt das Beispiel der Kölner Silvesternacht an. Hier konnte sich die Herrschaftsgruppe als Wahrer von Recht und Ordnung darstellen; weiße Männer wurden von Tätern zu Beschützern.

El-Tayeb fordert Intersektionalität als politisches Analysemodell, das Machtstrukturen analysiert und Widerstandsstrategien theorisiert und produziert, einzuführen bzw. vermehrt zu nutzen (226):

  • Angela Davis: Politisierung der Identität
  • Kimberlé Crenshaw: Komplexität von Gruppenidentität bedeutet nicht, dass kollektives Handeln nutzlos oder nicht möglich ist; frustrierender und nötiger Prozess der Koalitionsbildungen („Interdependenztheorie“)
  • Diskurs in Deutschland um Intersektionalität bis jetzt oberflächlich
  • Dichotomie zwsichen (westlicher) Demokratie und (östlich/orientalischem) Totalitarismus muss aufgebrochen werden (228)

Momentan seien Gegendiskurse, insofern sie den Mainstream erreichen, meist gefiltert. Die „Kunst des Zuhörens und Zurücknehmens“ sei für Mehrheitsdeutsche ungewohnt. Diese sähen sich oft nicht als Teil des Problems und insistieren auf eurozentrische Position, weil sie meinen, objektiv zu sein. (230)

»Postmigrantisch« in diesem Sinne ist sowohl eine Zustandsbeschreibung als auch eine Handlungsaufforderung, eine Aufforderung zur Auseinandersetzung mit dem neuen Deutschland, »die fundamentale Aushandlung von Rechten, von Zugehörigkeit, von Teilhabe und von Positionen«

Diskussion der Texte

Weiterführende Fragen zu Steyerls Aufsatz "Die Gegenwart der Subalternen"

  • Endet laut Spivak strategischer Essentialismus also immer in einer Identitätspolitik, die auf Differenzen beharrt und Kapitalismus befeuert?
  • Was ist der Nutzen davon, dieses „gemeinsame Schweigen“ (16) zu hören? Welche Handlungsfähigkeit ergibt sich daraus?
  • Etwas fordernd formuliert: Können laut Spivak Subalterne also nie sprechen und „Experten“ alles nur „falsch“ machen? Niemanden zu Wort kommen lassen oder wenn doch, dann betreiben sie Selbsterhöhung und fungieren als „Bauchredner“ (11)?

Weiterführende Fragen zu El-Tayebs Buch "Undeutsch"

  • Wie kann im Uni-Kontext vermieden werden, in „hegemoniale Selbstkritik“ (19) zu verfallen? Ist dies, wenn wir uns auf El-Tayeb beziehen, überhaupt vermeidbar?

Ansätze zur Beantwortung der Frage:

Mit hegemonialer Selbstkritik geht die Annahme einher, dass „europäische intellektuelle Tradition genug Handhabe biete, das System von innen heraus zu korrigieren“. Außerdem ist dabei eine Definition von Europas „Innen“ und „Außen“ impliziert, weshalb Kritik rassifizierter Europäer*innen als von außen kommend wahrgenommen wird. Diese Definition von „Innen“ und „Außen“ muss also aufgelöst werden. Erst einmal ist es natürlich hilfreich, Literatur rassifizierter Personen auf die Lektürenliste von Seminaren und Vorlesungen zu setzen. Dies kann nicht genügen, sofern die Wahrnehmung weiter vorhanden ist, dass diese Perspektive eine „äußere“ darstelle. Wichtig scheint hier auch ein anderes Lesen, ein Lesen, welches Pluralität und verschiedene Perspektiven fördert, also als gleichwertig wahrnimmt. Wie ein offeneres Lesen gelernt werden kann ist hier die Frage. Die meisten Studierenden sind mit einem universalistischen Aufklärungshumanismus sozialisiert worden, die Literaturlisten in den meisten Seminaren werden noch stets von männlichen, meist weißen Autoren dominiert. Es kann hierfür sinnvoll sein, die Hintergründe aller Autor*innen zu studieren, nicht nur die der rassifizierten Autor*innen. Würde dies nur einseitig geschehen, wird die bis hierhin „innere“ Perspektive weiter als die neutrale und objektive wahrgenommen. Wird die Positionalität der Autor*innen betont, muss dies also in alle Richtungen geschehen, sonst verstärkt dies nur die wahrgenommene Subjektivität auf der einen und die scheinbare Objektivität auf der anderen Seite. Dann sollte versucht werden, Analysemodelle von Autor*innen aus verschiedenen Hintergründen anzuwenden, um gesellschaftliche Systeme zu untersuchen. So zum Beispiel „Orientalismus“ von Edward Said oder „Intersektionalität“ von Kimberlé Crenshaw.

Zusammenführung der beiden Texte

  • Würde El-Tayeb Steyerls Aussage zustimmen? Subalterne können nicht sprechen.
  • Was ist Steyerls und was El-Tayebs Weg oder Strategie, um eine rassistische Gesellschaft in eine nicht rassistische zu transformieren?
  • Wie würden Steyerl und El-Tayeb Identitätspolitik bewerten? Gibt es für sie die „eine“ Identitätspolitik?

Vorschlag zur Bearbeitung der Texte im Seminar

AUFGABE Ausarbeiten einer Unterrichtsstunde, die sich mit folgenden Themen beschäftigt: Rassismus in Deutschland/Postkolonialismus. Sie können in der Kleingruppe selbst entscheiden, welche Klassenstufe die Zielgruppe ist. Was wäre ein passendes Alter, um mit dem Thema einzusteigen? Angepasst an das Alter, sollte das Thema unterschiedlich besprochen werden.

  1. Was sollte integriert werden? Mit welchem Wissen/Fragen sollen die Schüler*innen den Klassenraum verlassen? Formulierung von Lernzielen.
  2. Welche Konzepte anwenden? Gruppenarbeit, Diskussion in der Klasse, Präsentationen von Schüler*innen etc.? Was muss bei unterschiedlichen Lernkonzepten beachtet werden?
  3. Was sind mögliche Problematiken? Wie könnten diese gelöst werden?
  4. Würden unterschiedliche Konzepte nach El-Tayeb oder Steyerl entstehen? Widersprechen sich die Beiden oder ergänzen sie sich?

Danach Vorstellung und Besprechung der Ergebnisse in der großen Runde. Welche Fragen und Schwierigkeiten sind aufgetaucht?

Weiterführende Diskussionen in Büchern, Artikeln und Videos

Struktureller Rassismus? Alltagsrassismus? Wer spricht? Wer wird gehört? Wie über eigene Privilegien reflektieren?

Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit?

Aufarbeitung Kolonialismus in Deutschland:

Neokoloniale Praktiken und was man dagegen tun kann:

  • Der Regisseur Milo Rau hat einen Film über Kolonialismus heute gemacht: Ein Jesus-Film

Ausgrenzende Sprache und Praktiken in der Wissenschaft:

  • Artikel auf ze.tt über ausgrenzende Sprache in Uni-Seminaren

Quellen

Steyerl, Hito 2011. Die Gegenwart der Subalternen. In: Spivak, Gayatri Chakravorty. Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: 7-16.

El-Tayeb, Fatima 2016. Undeutsch: Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft, Bielefeld. transcript: Einleitung (7-28) und Schluss (207-232).

Bilder:

Bild 1: Butzmann, Dominik 2019. Hito Steyerl. Future Affairs Berlin 2019 - „Digital Revolution Resetting Global Power Politics?“ (47959578672)

Bild 2: https://kupf.at/wp-content/uploads/2016/11/undeutschgr.jpg

1)
Für eine Bestätigung oder Verstärkung ihrer These kann man sich die jüngsten Attentate in Halle oder Hanau ins Gedächtnis rufen.
2)
Beispielhafte Reaktionen hierauf waren unter anderem folgende: In der taz, in der Zeit oder im Tagesspiegel.
3)
Dieser Ansatz wird auch im women of color Feminismus angewendet
4)
es sei nicht relevant, ob die Debatterienden rassifiziert würden oder nicht
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