Inhaltsverzeichnis
Die historische Entwicklung der Intersektionalität
1. Ursprünge der Intersektionalitätsforschung
Der Ansatz der Intersektionalität besitzt seinen Ursprung in verschiedenen sozialen Bewegungen und hat von dort aus den Weg in das akademische Feld gefunden. Der Intersektionalitätsansatz wird bis heute diskutiert und weiterentwickelt (vgl. Bronner & Paulus 2021: 65). Die ersten Debatten und Bewegungen fangen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert an (vgl. ebd.: 66). Wobei gesagt werden muss, dass bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die proletarische Frauenbewegung um Clara Zetkin und auch Schwarze Aktivistinnen* in den USA auf die doppelte Diskriminierung der Frauen* aufmerksam gemacht haben (vgl. Sauer 2022: 9). Es kann aus verschiedenen Richtungen geschaut werden, wenn man die ersten Einflüsse aufzeigen möchte. Jedoch können gerade diese verschiedenen Richtungen problematisch sein, da es bei der Intersektionalität gerade nicht um eine Richtung geht. Dennoch ist dies für eine Annäherung an das Thema sinnvoll (vgl. Bronner & Paulus 2021: 65f.).
Schaut man aus einer klassenbezogenen Perspektive, sind zwei verschiedene Diskussionen zu nennen, die verschiedene Kategorien mitberücksichtigt haben. Zum einen die Hausarbeitsdebatte und zum anderen die Patriarchatsideologie. In der Hausarbeitsdebatte in angloamerikanischen Kreisen wurde in den 1960er Jahren der Anreiz gesetzt, Hausarbeit politisch zu denken. Es ging im Wesentlichen um die Frage, ob Hausarbeit produktive Arbeit sei. Hierbei verschränkten sich die Kategorien Class und Gender. Auch bei der Debatte um die Patriarchatsideologie Mitte der 1960er Jahre geht es um die Zusammenhänge der beiden Kategorien. Die Inhalte der Patriarchatsideologie wurden dahingehend kritisiert, dass mit ihrer dualistischen Sichtweise, der Mann* sei Opfer des Kapitals und die Frau* Opfer des Patriacharts, der Weg versperrt bleibt, die Geschlechterverhältnisse differenzierter zu untersuchen. Auch die Klassenlagen können mit dieser Sichtweise nicht sichtbar gemacht werden (vgl. ebd.: 66-68).
Aus Sicht einer racebezogenen Perspektive kann auf die „Kritiken der Women of Color-Bewegungen, der Triple-Oppression und Mehrfachunterdrückungsthese sowie der Debatten innerhalb des Postkolonialismus“ (ebd.: 68) verwiesen werden. Besonders die Kategorien Class und Gender sind hier miteinander verflochten (vgl. ebd.: 68). Der Intersektionalitätsbegriff besitzt seinen Ursprung in dem Nordamerikanischen Black Feminism der 1970er Jahre sowie der Critical Race Theory. Die wirkliche Namensgebung erfolge jedoch erst etwas später. Innerhalb des Black Feminism kritisierten Schwarze Frauen* die Bürgerrechts- und Frauenbewegung, da sie sich mit ihren Lebensrealitäten davon ausgeschlossen fühlten (vgl. ebd.: 69). Bekannte Vertreterinnen* des Black Feminism sind Bell Hooks, Patricia Hill Collins, Michele Wallace, Angela Davis, Alice Walker und Toni Morrison (vgl. Ludvig 2003: 52f.).
Das Combahee River Collective, welches 1974 in Boston gegründet wurde, verfasste deshalb im Jahr 1977 ein Statement, in dem sie sich als Schwarze, Lesbische und sozialistische Feministinnen positionierten (vgl. Walgenbach 2012: 3). Mit diesem Statement verdeutlichten sie die Verflechtungen der einzelnen sozialen Kategorien:
Die Mitglieder des Combahee River Collectives kritisierten, dass Schwarze Frauen* weder in der Schwarzen Befreiungs- und Bürgerrechtsbewegung mit ihrer Lebensrealität wahrgenommen, noch Schwarze oder lesbische Frauen* in den feministischen Bewegungen mitberücksichtigt werden (vgl. Bronner & Paulus 2021: 69).
Seit den 1970er Jahren wurde auch im deutschsprachigen Raum immer wieder die Frauenbewegung und auch die Frauenforschung dahingehend kritisiert, dass sie das Verständnis von Frau* vereinheitlichen und viele verschiedene Lebenswelten verschiedener Frauen*, wie etwa die der Migrantinnen*, Jüdinnen*, Frauen* mit Behinderung oder Arbeiterinnen* außer Acht lassen würden (vgl. ebd.: 69). Auch in Deutschland gelten Schwarze Theoretikerinnen* als Wegbereiterinnen* der Intersektionalitätsforschung. Beispielsweise Untersuchten sie das Zusammenwirken von Rassismus und Sexismus (vgl. Walgenbach 2012: 5).
Unter der Critical Race Theorie ist eine aktivistisch-akademische Bewegung der Rechtswissenschaft zu verstehen. Diese erweiterte die Rechtsforschung um antirassistische Schwerpunkte, vergleichbar mit dem Einbringen der Genderthematik durch die feministische Rechtwissenschaft. Die Critical Race Theorie konzentrierte sich dabei auf den Bereich des Rechts und nicht um die Einflüsse auf andere Disziplinen. Sie möchte das Recht als aktives Instrument nutzen, um gegen Rassismus vorzugehen. Die Critical Race Theorie hat im politisch-aktivistischen Kontext die Intersektionalität mitgeprägt. Crenshaw war Mitbegründer dieser Bewegung (vgl. Chebout 2012: 1f.). Sie führte den Namen der Intersektionalität im Jahr 1989 ein, zu dessen Erklärung sie die Metapher einer Straßenkreuzung zur Hilfe nahm (vgl. Walgenbach 2012: 12). Die Metapher der Straßenkreuzung findet bis heute, wenn auch nicht unumstritten, Anklang in den heutigen Debatten (vgl. ebd.: 14). Des Weiteren kam es in den 1990er Jahren zu Diskussionen über die Themen Triple-Oppression und Mehrfachunterdrückungsthese. Inhalt dieser Diskussionen war es, wie die Zusammenhänge der Kategorien Gender, Ethnizität, Class und später auch Sexualität analysiert werden sollen (vgl. Bronner & Paulus 2021: 69). Außerdem sollten noch die feministischen Arbeiten zum Postkolonialismus genannt werden. Hier wurde schon bereits in den 1970er Jahren die verschiedenen Kategorien zusammengedacht, wenn auch nicht unter dem Namen Intersektionalität (vgl. ebd.: 70).
Aus genderbezogener Perspektive gibt es verschiedene Ansätze, welche in die Intersektionalitätsforschung hineinspielen. Hierzu zählen das Differenzparadigma, der Konstruktivismus, die kritische Männerforschung, Sex-Gender-Unterscheidung, Doing Gender, Dekonstruktivismus und Heteronormativität. Das Differenzparadigma gilt nicht mehr als ein aktueller Forschungsstand, da es die Zweigeschlechtlichkeit essentialisiert. Auch die Sex-Gender-Unterscheidung wurde mittlerweile weiterentwickelt, indem der biologische Begriff Sex als ein sozialer Akt dekonstruiert wurde. Der Ansatz des Doing Gender wurde 1995 um weitere Differenzkategorien erweitert, sodass er sich für die Intersektionalitätsforschung öffnete. Es entstand der Begriff des Doing Difference. Der dekonstruktivistische Ansatz mit seinen Analysen des Nicht-Gesagten bietet sehr gute Anknüpfpunkte für die Intersektionalitätsforschung (vgl. ebd.: 71-75). Zuletzt führen Winkler und Degele die bodybezogene Perspektive ein, in der die Kategorie Körper als vierte Differenzkategorie ergänzt wird. Die Behindertenbewegungen Ende der 1970er Jahre in den USA und Großbritannien setzten ebenfalls erste Akzente in der Intersektionalitätsforschung. Durch die politischen Bewegungen kam die Auseinandersetzung an die Universitäten, so auch in Deutschland ab den 2000er Jahren mit den Disability Studies. Sowohl im akademischen Feld als auch innerhalb der politischen Bewegungen kam und kommt es zu einer Mitberücksichtigung der Verstrickung mit anderen Kategorien (vgl. ebd.: 76f.).
Weitere wichtige Wegbereiterinnen* für die Intersektionalitätsforschung in den USA waren Gloria Anzaldúa, Cherrie Moraga, Gloria T. Hull, Patricia Bell Scott und Barbara Smith. Sie übten in den 1970er und 80er Jahren Kritik an der Frauenforschung und Frauenpolitik, die sich an weißen heterosexuellen Mittelstandsfrauen orientierten. Auch in Deutschland wurde seit den 1980er Jahren die Frauenbewegung unter anderem von Migrantinnen* und Jüdinnen* kritisiert (vgl. Walgenbach 2012: 4 & 6). Des Weiteren gibt es auch seit den 1970er Jahren die Frauengruppe der sich selbstbezeichneten „Krüppelfrauen“, die sich ebenfalls in der deutschen Frauenbewegung einbringen (vgl. ebd.: 4 & 6f.).
Im deutschen akademischen Raum etablierte sich die Intersektionalitätsforschung durch die Geschlechterforschung zu Beginn der 2000er Jahre. Von dort aus verbreitete sich der Intersektionalitätsansatz in verschiedenen Disziplinen, wie beispielsweise in der Soziologie, Kulturwissenschaft, Rechtswissenschaft, Psychologie und Erziehungswissenschaft (vgl. center for intersectional justice 2019: 10). Die Anfänge der Intersektionalitätsforschung in Deutschland waren begleitet mit heftigen Kontroversen über das starre Bild der Straßenkreuzung von Kimberlé Crenshaw und dem Fokus auf Identitäten und nicht auf Strukturen, die für diese Identitäten verantwortlich sind (vgl. Sauer 2022: 11). In der Sozialen Arbeit wird versucht, den Ansatz mit in die Praxis zu nehmen. Dies geschieht durch ein aktives Mitdenken und Analysieren der intersektionalen Diskriminierungen durch die Fachkräfte. Bewusstseinsprozesse sollen in Gang gesetzt werden. Allerdings wird an den Hochschulen das Intersektionalitätskonzept oft nur am Rande behandelt (vgl. Bronner & Paulus 2021: 121).
2. Wichtige Werke und Forschungsbeiträge
Viele verschiedene Autor*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen haben zur Verbreitung des Intersektionalitätsansatz beigetragen. Drei Personen mit ihren Ansätzen werden im Folgenden vorgestellt.
2.1 Kimberlé Crenshaw
Als die Namensgeberin der Intersektionalität gilt die US-Amerikanische Juristin Kimberlè Crenshaw (vgl. Collins 2023: 40). Ihre Arbeiten sind im US-Amerikanischen Black Feminism verwurzelt. Anfang der 1990er Jahre veröffentliche sie zwei ausschlaggebende Artikel über Intersektionalität. Dies war der begriffliche Anfang der Intersektionalität als ein analytisches Forschungswerkzeug und kritische Praxis (vgl. ebd.: 40f.). Den Intersektionalitätsbegriff erarbeitete sie sich anhand juristischen Fallanalysen (vgl. Walgenbach 2012: 12).
Mitte des 20. Jahrhunderts kam es durch soziale Bewegungen zu einem Infragestellen von vorhandenem Wissen. Infolgedessen produzierten verschiedene Gruppen der sozialen Bewegungen widerständiges Wissen, welches ihre Lebensrealitäten abbildete, die bisher nicht berücksichtigt wurden. Höhere Bildung war für den sozialen Wandel ein wichtiger Faktor. Es wurden Forderungen für eine Umgestaltung des Lehrplans gestellt, welche auch umgesetzt wurden. Mit dem Begriff der Intersektionalität gab Crenshaw den institutionellen Transformationsprozessen in Bildungseinrichtungen einen Namen (vgl. Collins 2023: 40f.). Crenshaws Aktivismus in den 1990er Jahren an der Hochschule und an der juristischen Fakultät führte ihr ein Problem vor Augen. Die Dinge, die sie verändern wollte, ließen sich nicht aus einer entweder antirassistischen oder feministischen Perspektive beheben. Sie stellte fest, dass die gemeine Sprache keine geeigneten Begrifflichkeiten bereitstellen konnte, um auf Probleme von Schwarzen Frauen* aufmerksam machen und sie anschließend behandeln zu können. Aus diesem Grund führte Crenshaw den Begriff der Intersektionalität ein, um die von ihr beschriebenen Konflikte beschreiben können. Sie benutzt den Begriff als Metapher (vgl. ebd.: 42).
Der Begriff hat sich bis heute durchgesetzt, was unter anderem mit seiner metaphorischen Verwendung begründet. Jede*r kann sich Metaphern gedanklich gut vorstellen. Metaphern sind Teil unser aller Denken und Handeln. Jede*r kennt Straßenkreuzungen aus dem alltäglichen Leben und kann sich diese gut vorstellen. Straßenkreuzungen sind auch ein Ort, an dem unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Weisen aufeinandertreffen. Zusätzlich Metaphern können auch als Instrument bei einem sozialen Wandel verwendet werden, da sie es den Menschen ermöglicht, ihre Gedanken von etwas Bekanntem auf etwas Unbekanntes zu richten (vgl. ebd.: 43-45). Auch wenn sich der Begriff der Intersektionalität durchgesetzt hat, ist er nicht unumstritten. Es gibt unter anderem den Kritikpunkt, dass der Intersektionalitätsbegriff nicht offen genug sei. Die Metapher der Straßenkreuzung führt zu einem Verständnis von Kategorien, die in ihrem Kern stabil sind. Jedoch, so die Kritik, sind soziale Kategorien in sich heterogen (vgl. Walgenbach 2010: 248). Jedoch lassen sich die theoretischen Überlegungen von Crenshaw nicht auf die Metapher der Straßenkreuzung reduzieren, vielmehr sieht sie verschiedene Bedeutungsebenen von Intersektionalität (vgl. Walgenbach 2012: 13-14).
2.2 Patricia Hill Collins
Patricia Hill Collins beschäftigt sich in ihren Werken damit, ein sozialtheoretisch umfassendes Verständnis von Intersektionalität zu erarbeiten. In ihrem Buch Black Feminist Thought analysiert sie die Lebensrealitäten von Afroamerikanerinnen*. Sie entwickelt in diesem Werk ein „Konzept der Matrix of Domination, der Herrschaftsmatrix“ (Kerner 2009: 47). Darunter versteht sie die hierarchisch organisierten Machtbeziehungen einer Gesellschaft. Innerhalb dieser Machtbeziehungen gibt es sich überschneidende Unterdrückungssysteme. Darunter fallen die sozialen Kategorien, wie z.B. race, gender und class. Neben diesen Unterdrückungssytstemen gibt es in der Matrix der Herrschaft auch verschiedene Machtbereiche. Collins führt hier vier verschiedene Bereiche an: den strukturellen Bereich, den disziplinarischen Bereich, den hegemonialen Bereich und den interpersonalen Bereich. Der Fokus in ihrem Modell liegt dabei auf der Zusammenführung der verschiedenen Bereiche und Formen der Macht (vgl. ebd.: 47).
2.3 Bell Hooks
Die Schwarze Kulturtheoretikerin kritisierte in den 1970er und 1980er Jahren die Forderungen und Theorien der weißen Feministinnen*, da diese im Namen aller Frauen* sich nur an den Interessen einer exklusiven Frauengruppe orientierten. Diese exklusive Gruppe sind weiße, heterosexuelle Frauen* aus der westlichen Mittelklasse. Sie stehen somit nur für partikulare Interessen ein und haben durch ihre Position in der Gesellschaft auch die Mittel, ihren Interessen in Universitäten, Verlagen oder Massenmedien Gehör zu verschaffen. Ein Beispiel das Hooks anführt, ist die unterschiedliche Bedeutung der Familie, des Zuhauses. Für weiße Feministinnen* aus der Mittelschicht war die Reproduktionsarbeit verbunden mit Isolation und Monotonie. Für Schwarze Frauen* war es aber laut Hooks in dem Kontext der Sklaverei ein Ort der Humanität, des Rückzugs (vgl. Walgenbach 2012: 4f.).
3. Literaturverzeichnis
Bronner, K., Paulus, S. (2021), Intersektionalität: Geschichte, Theorie und Praxis- Eine Einführung für das Studium der Sozialen Arbeit und der Erziehungswissenschaft, Opladen, Toronto.
Center for intersectional justice (2019), Intersektionalität in Deutschland – Chancen. Lücken und Herausforderungen, Berlin.
Chebout, L. (2012), „Back to the roots! Intersektionality und die Arbeiten von Kimberlé Crenshaw“, in: Portal Intersektionalität; URL: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/chebout/ [abgerufen am 11.03.24].
Collins, P. H. (2023), Intersektionalität als kritische Sozialtheorie, 1. Aufl., Münster.
Taylor, K. Y. (2017), How we get free – Black Feminism and the Combahee River Collective, Illinois.
Kerner, I. (2009), „Alles intersektional? Zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus“, in: Feministische Studien: Zeitschrift für interdisziplinäre Frauen und Geschlechterforschung (27)1, 36-50.
Ludvig, A. (2003), „Kritische Intervention des Black Feminism in Theorie und Praxis“, in: R. Niekant, U. Schuchmann (Hg.), Feministische Erkenntnisprozesse – Zwischen Wissenschaftstheorie und politischer Praxis. Wiesbaden, 51-68.
Sauer, B. (2022), „Intersektionalität als feministisches Konzept. Eine solide Grundlage für politisches Handeln?“, in: L. Möller, D. Lange (Hg.), Intersektionalität in der Politischen Bildung: Entangled Citizens. Wiesbaden, 7-20.
Walgenbach, K. (2010), „Postscriptum: Intersektionalität – Offenheit, interne Kontroverse und Komplexität als Ressourcen eines gemeinsamen Orientierungsrahmens“, in: H. Lutz et al. (Hg.), Fokus Intersektionalität – Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzepts. Wiesbaden, 245-256.
Walgenbach, K. (2012), „Intersektionalität eine Einführung“, in: Portal Intersektionalität; URL: http://portal-intersektionalitaet.de/theoriebildung/ueberblickstexte/walgenbach-einfuehrung/ [abgerufen am 11.03.24].