Intersektionalität als kritische Sozialtheorie – Einführung in das Wiki

Intro

„Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ‚Verwobenheiten’ oder ‚Überkreuzungen’ (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen“ (Walgenbach 2012: 81).

Katharina Walgenbach rückt in dem Zitat das zentrale Anliegen von Intersektionalität ins Zentrum: die Bereitstellung eines geeigneten Analyserahmens zur Erfassung der Multidimensionalität von Diskriminierungen. 1989 entwickelte die Juristin Kimberlé Crenshaw den Terminus Intersektionalität (von englisch intersection – Kreuzung), um auf diese begriffliche sowie analytische Leerstelle hinzuweisen. Davon ausgehend wurden in den letzten drei Jahrzehnten diverse Überlegungen zum Intersektionalitätsbegriff sowie zu Konzeptionen von Intersektionalität angestellt und veröffentlicht. Diese berühren theoretische, methodologische, praktische, erkenntnistheoretische, aktivistische, politische sowie pädagogische Fragestellungen.

Im Seminar haben wir uns mit folgenden Fragen beschäftigt:

  • Was umfasst der Begriff der Intersektionalität?
  • Was ist (für uns) eine kritische Sozialtheorie?
  • Inwiefern ist die Intersektionalität eine kritische Sozialtheorie?

In unseren Abschlusswikis werfen wir einen vertieften Blick auf verschiedene Formen von Kritik und Theorie, auf Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnisse, auf Epistemologie und Wissenschaft, auf Gesellschaftstheorie und Gestaltungsanspruch und schlussendlich auf Schwarze feministische wie queerfeministische Perspektiven.

Intersektionalität als…
Methodologischer Zugang
Haltung der/des Wissenschaftler*in
Erkenntnistheoretischer Zugang
Theoretisches Paradigma
Zentrale Stichworte: Kritik, Aktivismus, Emanzipation, epistemische Gewalt – epistemischer Widerstand, Kritische Theorie, Intersektionalität, Mehrebenenanalyse, Identität, Totalität, Relationalität, Verhältnis von Theorie & Praxis, Verhältnis von Erkenntnissubjekt & Erkenntnisobjekt

1. Übersicht über die Abschlusswikis

Intersektionalität

Die historische Entwicklung der Intersektionalität

Im ersten Wiki wird die historische Entwicklung der Intersektionalität skizziert. Dabei liegt der Hauptfokus auf den Ursprüngen der Intersektionalität gegen Ende der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nachfolgend werden einzelne zentrale Werke von Kimberlé Crenshaw, Patricia Hill Collins & Bell Hooks näher beleuchtet.

Die Verbildlichung der Intersektionalität

Im zweiten Wiki werden verschiedene Metaphern und Verbildlichungen von Interesektionalität vorgestellt und diskutiert. Als Konsequenz stellt sich die Frage, welche Bedeutung metaphorisches Wissen beispielsweise bei der Verschiebung von epistemologischen Grenzen spielt, oder ob Verbildlichungen aktuelle Interesektionaltitätsdebatten verändern können.

Zu Kritik, Kritischer Theorie & „kritischen“ Theorien

Kritik

In diesem Wiki werden verschiedene Arten von Kritik vorgestellt. Angefangen bei den vier Arten von Kritik nach Rahel Jaeggi bis hin zur Kritik als Wahrheit bzw. als Tugend. Aufbauend auf den verschiedenen Grundverständnissen wird die Rolle der Kritik im weiteren Verlauf des Wikis in der Perspektive der Kritischen Theorie und generell in den kritischen Theorien dargelegt.

Traditionelle und Kritische Theorie

Im letzten Wiki der Rubrik «Zu Kritik, kritischer Theorie & kritischen Theorien» werden die Traditionelle Theorie und die Kritische Theorie vorgestellt und voneinander abgegrenzt. Ein Fokus liegt dabei auf der Frage, inwiefern der Intersektionalitätsbegriff für eine Gesellschaftskritik im Sinne der Kritischen Theorie tauglich ist.

Zu Sozialtheorien, Gesellschaftstheorien & Soziologie

Intersektionalität zwischen Gesellschaftstheorie und politischem Gestaltungsanspruch

Im ersten Beitrag der Kategorie «Sozialtheorien, Gesellschaftstheorie & Soziologie» werden die theoretischen Ansätze von Cornelia Klinger & Katharina Walgenbach vorgestellt. Es stellt sich anschließend die Frage, in welcher Hinsicht die Intersektionalität konkrete gesellschaftspolitische Ansprüche formulieren kann und welche Herausforderungen dies impliziert. Dafür werden exemplarisch verschiedene Maßnahmen in den USA und Europa veranschaulicht und kritisch eingeordnet.

Das Potenzial quantitativer Sozialforschung für Intersektionalität

Im sechsten Wiki wird die Frage beantwortet, inwiefern quantitative Methoden als geeignete Möglichkeit bei der Erforschung von Intersektionalität erscheinen. Dafür werden die Logik der quantitativen Forschung, der momentane Stand der Anwendung von quantitativen Methoden in der Intersektionalität und das Potential von quantitativen Methoden in der Intersektionalität herausgearbeitet.

Feministische soziologische Theorien & Debatten zu Kritischer Theorie & Ungleichheit

Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Kritische Theorie

Als Beitrag zu den Debatten der Kritischen Theorie wird vorgestellt, inwiefern die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb der Analyse der Kritischen Theorie thematisiert worden ist. Dazu werden sowohl das „Ernährer-Hausfrauen-Modell“, als auch die Rolle der Frauen und Männer in der bürgerlichen Gesellschaft vorgestellt und untersucht.

Unterdrückung und Widerstand - schwarze feministische und queere Kritische Theorie

Das letzte Wiki zur Unterdrückung und zum Widerstand Schwarzer afro-amerikanischer Frauen gibt einen Einblick in die Schwarze feministische und queerfeministische Kritische Theorie. Dabei werden u.a. die Theorien von Judith Butler und Theodor W. Adorno vorgestellt.

2. Abschlussdiskussion

Zentrale Stichworte der Abschlussdiskussion: Totalität, kritisch: keine feststehende Eigenschaft, Macht- und Herrschaftsverhältnisse, emanzipatorisch, Interdisziplinarität, (Selbst-)Reflexivität, Verantwortung, Intersektionalität als mixed methods

Grundsätzlich haben wir im Laufe des Semesters in der Auseinandersetzung mit dem Intersektionalitätsparadigma sozialphilosophische sowie gesellschaftstheoretische Fragestellungen berührt. In diesem Zusammenhang haben wir uns mit Fragen der Erkenntnis, des Verstehens, des Forschens, des Verhältnisses von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt beschäftigt.

Wir konnten im Seminar bei der Integration des Intersektionalitätsbegriffs in die kritische Theoriebildung zwei divergierende Ansätze ausmachen: Zum einen versuchen intersektional ausgerichtete Gesellschaftstheorien, die an einem Begriff von gesellschaftlicher Totalität festhalten und in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule stehen, den Intersektionalitätsbegriff für eine feministische Kritische Theorie fruchtbar zu machen. Zum anderen finden sich im angloamerikanischen Raum Konzepte von Intersektionalität, die vordergründig aktivistisch affiziert sind und von sozialen Bewegungen ausgehen. Diese Ansätze sind stärker diskursanalytisch ausgerichtet und zentrieren Fragen der Repräsentation und Perspektiven von Betroffenen. Beide Ansätze verstehen sich als „kritische“ Theorien, die einen emanzipatorischen Anspruch teilen. Gleichzeitig führen beide Ansätze zu verschiedenen Frage- und Problemstellungen, denen wir uns im Seminar in verschiedenen thematischen Sitzungen angenähert haben. Wir haben die Divergenzen und Konvergenzen beider Ansätze mittels der Fragen Was ist der Gegenstand der Kritik? Wo setzt die Kritik jeweils an? herausgearbeitet. In beiden Fällen fungiert Intersektionalität als Modus der Kritik. Zunächst lässt sich zwischen einer holistischen (systemtheoretischen) oder reduktionistischen (atomistischen, individualistischen) Kritik unterscheiden. Erstere setzt an der Makroebene an, wohingegen Letztere die Mikroebene in den Blick nimmt. Darüber hinaus kann die Kritik an der kulturell-symbolischen Ordnung (diskurstheoretisch, kulturalistisch, ideologiekritisch) ansetzen, den Sozialcharakter der Individuen analysieren (Subjektebene, das Unbewusste im Sich-Verhalten der Subjekte, Psychoanalyse) oder als Ökonomiekritik fungieren.

Des Weiteren haben wir über die Begriffe Herrschaft und Macht gesprochen. Können die Begriffe synonym verwendet werden? Oder artikulieren sich darin verschiedene Vorstellungen vom Gegenstand der Kritik und dessen historischer Genese? Was bedeutet das für die Intersektionalität, je nachdem ob sie sich als machtkritisch oder herrschaftskritisch versteht? Diese Fragen konnten wir im Laufe des Seminars nicht abschließend beantworten. Im Zuge dieser Diskussion wurde Kritik an Judith Butlers Theorie geübt, die in der theoretischen Leerstelle begründet liege, Herrschafts- und Machtverhältnisse nicht in ihrer historischen Entstehung nachvollziehen zu können. Es wurde eine Kritik an Machtkritik antizipiert, die untersucht, inwiefern in Machttheorien die Tendenz angelegt sei, dass alles sich in Machtstrukturen auflöse und folglich enthistorisiert würde. Ein*e Semarteilnehmer*in brachte das Gegenargument vor, dass Judith Butlers theoretisches Augenmerk auf verschiedenen Subjektivierungsformen liege, also der Frage, wie Machtstrukturen in Subjekten wirken. Diese Auseinandersetzung kreist um die Frage, ob die Intersektionalität, um Kritische (Sozial-)Theorie zu sein, an einem Begriff von gesellschaftlicher Totalität festhalten muss.

Wir kamen im Seminar zu dem Schluss, dass mittels einer intersektionalen Perspektive eine Kritik an dominanten eurozentrischen Wissenssystemen und damit zusammenhängend eine methodische Kritik ausformuliert werden kann. In diesem Zusammenhang haben wir uns mit Formen epistemischer Gewalt sowie Möglichkeiten epistemischen Widerstands auseinandergesetzt. Intersektionalität versucht das Problem anzugehen, sehr heterogene nicht miteinander identische theoretische Perspektiven zusammen zu denken. Konzeptionen von Intersektionalität können daher auch als Vision einer neuen Art von Wissenschaft gelesen werden. Dafür bedarf es der Abgrenzung von und Kritik an herkömmlichen Wissenschaftsverständnissen. Diesbezüglich haben wir im Seminar Fragen nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis sowie nach der Haltung des/der Wissenschaftler*in behandelt. In dem Moment, wo sich die Theorie als Praxis versteht, kann die Theorie auf sich selbst reflektieren und ihre eigene Genese nachvollziehen. Selbstreflexivität und das permanente Überprüfen des eigenen kritischen Potentials haben wir als zentrales Merkmal kritischer Sozialtheorien festgemacht. Es handelt sich dabei nicht nur um einen interdisziplinären Ansatz insofern, als dass verschiedene Disziplinen integriert werden, sondern dass diese zu etwas „Neuem“ zusammenfinden. Als Beispiel wurde der „Freudomarxismus“ der ersten Generation der Frankfurter Schule genannt, der nicht lediglich ein Zusammendenken von Soziologie und Psychoanalyse darstellt. In Bezug auf die Haltung des/der Wissenschaftler*in nimmt der Begriff der Verantwortung eine wichtige Rolle ein. Folglich geht es darum, dass Wissenschaftler*innen in Erkenntnis- und/oder Theoriebildungsprozessen sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Das setzt ein Bewusstsein über die eigene soziale Positionierung voraus. So gerät eine Vorstellung von Wissen in den Blick, die als situiertes Wissen bezeichnet werden kann. Zuletzt haben wir über die Verknüpfung von Intersektionalität und Politik diskutiert. Diese ist nicht synonym mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis, da an dieser Stelle ein konkretes realpolitisches Ziel gesetzt wird. Eine intersektional ausgerichtete Realpolitik kann folglich als reformistisch bezeichnet werden und verwirft das Ziel einer Aushebung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang im Sinne der Kritischen Theorie. So geraten konkrete Zielausrichtungen intersektionaler Ansätze in den Blick, die neben theoretischen und methodologischen auch realpolitische, aktivistische sowie pädagogische Kontexte umfassen. Je nach Kontext stellt sich die Frage nach der Verantwortung anders dar.

3. Offene Frage- & Problemstellungen

  • Läuft die Ungebundenheit des Intersektionalitätsbegriffs Gefahr, zu einem „leeren Signifikanten“ zu werden?
  • Kann der Intersektionalitätsbegriff von liberalen Positionen vereinnahmt werden und verliert dadurch sein emanzipatorisches Potential?
  • Kann eine intersektionale Gesellschaftskritik an das uneingelöste Versprechen der Kritischen Theorie – nicht nur auf der Theorieebene zu verbleiben, sondern Praxis zu werden – anschließen?
  • Muss die Intersektionalität, um als eine Kritische (Sozial-)Theorie zu firmieren, an einem Begriff von gesellschaftlicher Totalität festhalten?
  • Ist Macht- und Herrschaftskritik logisch und zwangläufig emanzipatorisch?
  • Wie gestaltet sich Verantwortungsübernahme in Forschungs- und Theoriebildungsprozessen konkret aus?
  • Beinhaltet der Begriff der Selbstreflexivität bereits Verantwortungsübernahme?
  • Soll der Begriff der Verantwortung in Bezug auf eine intersektionale Forschungspraxis folglich beibehalten oder verworfen werden?

4. Literatur

  • Crenshaw, K. (2019), „Das Zusammenwirken von Race und Gender ins Zentrum rücken: Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken“ [1989], in: N. A. Kelly (Hg.), Schwarzer Feminismus – Grundlagentexte. Münster, 143-184.
  • Walgenbach, K. (2012), „Intersektionalität als Analyseperspektive heterogener Stadträume“, in: E. Scambor, F. Zimmer (Hg.), Die intersektionelle Stadt. Geschlechterforschung und Medien an den Achsen der Ungleichheit. Bielefeld, 81-92.
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