Donna Haraways kritischer Blick auf die Genderdebatte

Donna Haraway

Donna Jeanne Haraway ist eine emeritierte US-Amerikanische Wissenschaftlerin, deren Arbeit die zeitgenössische feministische Strömung bis heute prägt. Die Forscherin wurde am sechsten September 1944 in Colorado geborene und ist nun lebhaft in Kalifornien. Hier war sie ebenfalls Professorin am Department für History of Consciousness und am Department für Feminist Studies an der University of California. Haraway schrieb zahlreiche Essays und Bücher, welche sich schwerpunktmäßig mit den Themen der Soziobiologie, Verhaltensforschung und situiertem Wissen beschäftigen. Mit dem Konzept des situierten Wissens und der Frage nach der Rolle von Positionalität in der Objektivitätsdebatte fordert Haraway anstelle vorgeblich objektiver Standpunkte eine Wissenschaft, die sich gegen Neutralität und Universalität von Wissen ausspricht und zugibt, von historischen und kulturellen Einflüssen geprägt zu sein.

Das Konzept des situierten Wissens stellt einen Gegenentwurf zur ,,klassischen Wissenschaft" dar.

Zentrale Werke (eine Auswahl)

  • Haraway, Donna (1988). Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspectives. In Feminist Studies 14.3, 1988. S.575-599.
  • Haraway, Donna (1989). Primate Visions: Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science. London: Psychology Press.
  • Haraway, Donna (1976). Crystals, Fabrics, and Fields: Metaphors of Organicism in Twentieth-Century Developmental Biology. Yale: Yale University Press.
  • Haraway, Donna (1990). A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology and Socialist Feminism in the 1980s. In: Linda Nicholson (Hrsg.): Feminism, Postmodernism. New York: Routledge. S.190–233

,,Geschlecht, gender, genre – Sexualpolitik eines Wortes“

Prägend in Haraways Lebenswerk waren ebenfalls ihre wissenschaftlichen Beiträge zur Genderforschung. Diese führte sie unter anderem in ihren Schriften zum situierten Wissen sowie in gesonderten Zeitungsartikeln und Interviews aus.

„,Gender‘ war als Kategorie zur Untersuchung dessen entwickelt worden, was unter ‚Frau‘ zu fassen sei, um das zuvor für selbstverständlich Gehaltene zu problematisieren.“ (Haraway 1987: 801, zit. n. Coward 1983)

Diese Worte Haraways zum Thema Gender können als Leitgedanke ihrer feministischen Arbeit gewertet werden. Haraway untersuchte unterschiedliche (feministische) Strömungen, die sich mit dem Thema Gender auseinandersetzten, und kritisierte ihre Definitionen zum Teil scharf. Im Folgenden sollen Haraways Beiträge zum Gender-Diskurs näher erläutert werden.

Der Begriff der Geschlechtsidentität nimmt Gestalt an

Im Kapitel „Das Paradigma der Geschlechtsidentität“ aus ihrem Aufsatz ,,Geschlecht, gender, genre – Sexualpolitik eines Wortes“ (1987) beschreibt Donna Haraway die Entstehung des Begriffs der Geschlechtsidentität. Mitte des 19. Jahrhunderts setzten sich in der vorherrschenden „bürgerlichen, männerbeherrschten und rassistischen Gesellschaft“ (Haraway 1987: 796) Europas erstmals Feministinnen mit einem neu konzipierten Geschlechtsbegriff auseinander. Wie zuvor auch Humanwissenschaften in den USA, beschäftigten auch sie sich mit der Bedeutung von Sex und Gender. Trotz des progressiven Impulses beeinflusste die von sozialer Ungleichheit geprägte Gesellschaft allerdings immer noch den neu definierten Geschlechterbegriff. Dennoch entfachte dieser revolutionäre Grundgedanke eine Welle von immer mehr Menschen, die sich mit dem veralteten, historischen gesellschaftlichen Muster und Geschlechterbegriff kritisch auseinandersetzten. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden in diesem Kontext zunehmend mehr wissenschaftliche Arbeiten über dieses gesellschaftlich immer relevanter scheinend werdende Thema. Vor allem die Möglichkeit erster Geschlechtsumwandlungen trieb die Gesellschaft von ihrer konservativen Denkweise zu einer aufgeklärteren, vor allem auch emanzipierten Gesellschaft, weiter voran. All diese wichtigen Zwischenschritte resultierten schließlich in einer „Idee und [einem] Begriff des Paradigmas der Geschlechtsidentität“ (ebd.: 796).

,,Man wird nicht als Frau geboren…“

Haraway schreibt, dass der ursprünglich aus dem Englischen kommende Begriff Gender im europäischen Raum übersetzt ,,sexuell verortetes Subjekt“ (Haraway 1987: 802) bedeutet. Hierbei meint sie, dass die Positionierung des Menschen im sozialen Raum, den dieser in der Gesellschaft einnimmt, definiert wird. In Bezug auf den Titel des Textes: ,,Man wird nicht als Frau geboren“ möchte die Autorin aufzeigen, dass die Identifikation mit einem bestimmten Geschlecht nicht angeboren und folglich veränderlich ist. Es wird geprägt von gesellschaftlichen Einflüssen und Zuschreibungen. Aufschlussreich ist in diesem Kontext auch, was Haraway in ihrem Essay ,,Situiertes Wissen – Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“ über Selbstidentität und das Erkennende Selbst schreibt. Hierbei betont sie, dass das Bewusstsein einer Person, sich einer bestimmten Identität zugehörig zu fühlen, nicht von nirgendwo kommt. Haraway erläutert: ,,Wir sind uns selbst nicht unmittelbar präsent. Selbsterkennung erfordert eine semiotisch-materielle Technologie, die Bedeutung mit Körper verknüpft“ (Haraway 1995: 85). Die (selbst-) Zuschreibung und Identifikation von Menschen wird also von der Gesellschaft beeinflusst, beziehungsweise geschaffen.

Das Zitat, auf das sich Haraway im Titel bezieht, stammt ursprünglich aus dem noch immer aktuellen Buch ,,Le Deuxieme Sexe“ der Philosophin und Feministin Simone De Beauvoir die schon 1949 schrieb: ,,On ne naît pas femme – on le devient.“

Gender im Feminismus und Marxismus

,,Streitpunkt zwischen Marxismus und Feminismus ist die Formulierung einer politisch effektiven Analyse des Entstehens, Bestehens und Veränderns des Alltagslebens, seine Befreiung von der Herrschaft durch Geschlecht, Rasse und Klasse“ (Haraway 1982: 200)

In den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels ist nicht die Rede vom sozialen Geschlecht, welches von der Gesellschaft konstruiert wird (vgl. Haraway 1987: 795). Obwohl sie so weitsichtige und fortschrittliche Denker waren, haben die beiden Gesellschaftstheoretiker eine Definition des sozialen Geschlechts Gender nicht dargelegt.

Haraway erläutert dies einerseits damit, dass Frauen im traditionellen Marxismus nicht als vollwertige Menschen, sondern als Wesen, die eine ,,unsichere Existenz zwischen Natur und Gesellschaft“ (ebd.: 795) führen, gesehen wurden. Die damals allgegenwärtige „natürliche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung“ deren Ursache in der ,,unerforschbaren natürlichen Heterosexualität wurzele“ (ebd.: 795), machte es Marx und Engels nicht möglich, die untergeordnete Stellung der Frau zu erkennen und zu erläutern. Hinzu kam, so Haraway, dass Karl Marx und Friedrich Engels die Ursache der Unterdrückung und Abhängigkeit von Frauen, die verheiratet waren, im Privateigentum sahen (vgl. ebd.: 795). Diesbezüglich untersuchten sie lediglich die Zwangslage von Frauen in der kapitalistischen Gesellschaft, nicht jedoch in der Beziehung zwischen den Geschlechtern (vgl. ebd.: 795). Des Weiteren adressierten die Theoretiker die unbezahlte Care-Arbeit, wie das Aufziehen der Kinder, Hausarbeit oder Pflege der Alten, die die Frauen zusätzlich zu leisten hatten, in ihrer Gesellschaftskritik nicht (vgl. ebd.: 798).

Haraway argumentiert, dass Karl Marx und Friedlich Engels zwar die Probleme der modernen bürgerlichen Gesellschaft und die Unterdrückung der arbeitenden Klasse als diese wahrnahmen, die wesentlichen Bausteine, die die männliche Herrschaft sicherten, erkannten sie allerdings nicht. Sie hätten einen ,,materialistischen feministischen Standpunkt“ (Haraway 1982: 203) gebraucht, der zu jener Zeit in der Gesellschaft jedoch noch nicht Fuß gefasst hatte.

Objekte als Ressource

,,Natur ist lediglich das Rohmaterial von Kultur: Sie wird angeeignet, versklavt, verherrlicht oder auf andere Weise für die […] Logik des kapitalistischen Kolonialismus zur Verfügung gemacht.“ (Haraway 1995: 93)

In ihrem Essay: ,,Situiertes Wissen: die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“ geht Donna Haraway auf den Umgang mit zu erforschenden Objekten um. Sie erkennt eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Disziplinen auf dem breiten wissenschaftlichen Spektrum: Die Darstellung von Forschungsobjekten als passive und inaktive Gegenstände, denen erst durch Wissenschaft eine Bedeutung zugesprochen wird. Diese Annahme kritisieren vor allem Feministinnen, die so das Konzept von Gender als soziales Geschlecht gefährdet sehen. Mit der verfestigten Ansicht vom biologischen Geschlecht (,,Sex“) wird der ,,fragile[n] Raum für sozialen Konstruktivismus und kritische Theorie samt der […] Möglichkeit einer aktiven verändernden Intervention“ (S.92) eliminiert. Haraway sieht die Ursprünge für dieses Bild, das erforschte Objekt als Ressource für wissenschaftliche Projektion zu nutzen, in der Geschichte der patriarchalen Gesellschaft. Diese „verwandelt alles in eine anzueignende Ressource“ (ebd.: 92), wodurch dem betrachteten Objekt jeglicher Selbstwert abgesprochen wird.

Objekte als Akteure/Agenten

Haraway fordert, dass das Wissensobjekt nicht länger als Ressource, sondern als aktiver Agent angesehen wird: die Erforschten sollen nicht als ,,Leinwand oder Grundlage oder Ressource und schließlich niemals als Knecht eines Herren“ (ebd.: 93) betrachtet werden, da ihnen so ihrer Handlungsfähigkeit abgesprochen wird. Um objektive Erkenntnisse zu erlangen ist es jedoch nötig, diese Handlungsfähigkeit anzuerkennen, denn ,,die Kodierungen der Welt stehen nicht still, sie warten nicht darauf, gelesen zu werden“ (ebd.: 94) Im wissenschaftlichen Diskurs zum Thema ,,Sex“ und ,,Gender“ bedeutet dies, dass der Körper selbst, als Objekt der Forschung, eine aktive Rolle übernimmt. Wenn der Körper der Frau folglich nicht mehr auf seine Biologie reduziert werden kann, sondern wenn Körper und Geist ein untrennbarer Komplex sind, dann hat die ,,biologische Konzeption des Weiblichen […] fast keine passiven Eigenschaften mehr“ (ebd.: 95). Der Körper ist somit keine Ressource, sondern ein Agent, der selbstbestimmt existieren kann.

Quellen

  • Haraway, D. (1987), ,,Geschlecht, gender, genre – Sexualpolitik eines Wortes“, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 28(166), 795-805.
  • Haraway, D. (1982), ,, Klasse, Rasse, Geschlecht als Objekte der Wissenschaft. Eine marxistisch-feministische Darstellung der sozialen Konstruktion des Begriffs der produktiven Natur und einige politische Konsequenzen“, in: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften 23(132), 200-214.
  • Haraway, D. (1995), ,,Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: Hammer, Carmen/Stieß, Immanuel: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/New York: Campus: 73-97.
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