Inhaltsverzeichnis
Wissenssoziologie und Materialismus
Das Konzept der Positionalität vereint gemeinhin Theorien, deren Annahmen sich im Wesentlichen auf die spezifischen sozialen, historischen und kontextuellen Hintergründe von Wissenschaft und insbesondere von WissenschaftlerInnen rückbeziehen. Der „Standpunkt“ des Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftlerin steht somit im Mittelpunkt. Damit einher geht die Reflexion auf das „Wie?“ der Wissenschaft: Neben dem „Was?“, das sich auf den Gegenstand beschränkt, wird nun die Art und Weise, wie gewusst und erkannt wird, ins Licht gerückt. Die Position des erkennenden Subjekts, das in der klassischen Konzeption von Wissenschaft dem Gegenstand lediglich gegenübersteht, wird selbst als Teil eines Zusammenhangs wahrgenommen. Die Wissenssoziologie, die in Deutschland maßgeblich von Karl Mannheim und Max Scheler geprägt ist, lässt sich als eine solche Theorie der Positionalität auffassen. Kritik an ihr wurde vor allem von Karl Popper und dem Kritischen Rationalismus auf der einen, sowie von der Kritischen Theorie auf der anderen Seite geübt. Die Unterschiede innerhalb dieser Kritik verdeutlichen sich insbesondere im sogenannten Positivismusstreit, der unter anderem Auskunft über das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Wissenschaft gibt. Zum besseren Verständnis dieses Verhältnisses lohnt sich die Betrachtung der Wissenschaftskritik im Materialismus, die wiederum Rückschlüsse auf einen materialistischen Feminismus ziehen lässt.
Wissenssoziologie
Der Begriff der Wissenssoziologie ist eng mit der Erkenntnistheorie verwandt. Die deutsche, von den Soziologen Max Scheler und Karl Mannheim formulierte Wissenssoziologie setzte sich die „systematische Erforschung der Produktion, Verteilung und Aneignung des Wissens zum Ziel“ (Knoblauch 2014: 90). Während in der ‚klassischen‘ Erkenntnistheorie das erkennende Subjekt vom erforschten Objekt getrennt betrachtet wird und von gegenseitigen Einwirkungen bestimmt ist, ist das Subjekt in der Wissenssoziologie selbst „Teil eines sozialen Zusammenhangs“ (ebd.: 14), der direkte Auswirkungen auf den Erkenntnisprozess hat. Dadurch wird das Wissen insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Sozialität betrachtet. Die soziale Position, die das Subjekt einnimmt, ist der Annahme der Wissenssoziologie nach von großer Relevanz. Betrachtet werden dabei vor allem Philosophien und deren Entstehungskontexte. So wird „zum Beispiel die Neigung der deutschen Philosophie zur Metaphysik“ (ebd.: 15) mit der sozialen Lage der Philosophen begründet. Wissen und Erkenntnis werden damit weg von den Subjekten hin zu den Verhältnissen bewegt, unter denen sie hervorgebracht werden.
Sozialität des Wissens
Der Gegenpol zur Annahme der Sozialität ist die der Subjektivität des Wissens. Letztere wird von der Wissenssoziologie verworfen: Die Tatsache, dass „nicht das Bewusstsein der Menschen, […] ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein […] ihr Bewusstsein bestimmt“ (Marx/Engels 1961: 9), ist die Grundannahme des Materialismus. Diese lässt sich auf die Wissenssoziologie übertragen. Dadurch ist das Wissen größtenteils durch „unbewußte und unterbewußte Elemente beeinflusst“ (Popper 1997: 361). Diese werden von der Wissenssoziologie als verborgene Ideologien aufgegriffen. Bedingt sind diese durch den sozialen Standort, den der Denker bzw. die Denkerin „bewohnt“ (ebd.: 361). Letztlich unterscheiden sich deshalb die Annahmen von DenkerInnen aus verschiedenen ‚Denksystemen‘, die sich, gerade weil sie unterschiedlichen sozialen Standorten entspringen, grundlegend entgegenstehen können. Die „verschiedenen sozial determinierten Systeme“ (ebd.: 362) werden dabei als „Totalideologie“ (ebd.: 362) bezeichnet.
Objektivität des Denkens
Obwohl der Wissenssoziologie zufolge das Denken und die Erkenntnis zwangsläufig in soziale Verhältnisse eingebettet ist, gibt es einen Ausweg aus dieser Verstricktheit. Karl Mannheim erkennt diesen in der sogenannten „sozial freischwebenden Intelligenz“ (Knoblauch 2014: 109). Dazu ist zum einen die Unterscheidung von Relativismus und Relationismus relevant, wie sie von der Wissenssoziologie vorgenommen wird (vgl. ebd.: 109). Da alles Denken zwangsläufig nur von einer bestimmten Perspektive aus stattfinden kann, ist es relativ. Was der Relationismus bezweckt, ist vergleichbar mit dem, was in neueren Theorien der Positionalität das Konzept der →Intersubjektivität ausmacht: Es werden weitere Betrachtungsweisen neben der eigenen in den Prozess der Erkenntnis mit einbezogen, was die „Vorstellung einer Totalität“ (ebd.: 109) ermöglicht. Damit wird indirekt auf die Relationalität der eigenen Erkenntnis reflektiert und diese in das Denken mit eingebunden. Dadurch wird Objektivität in der Wissenssoziologie erst möglich (vgl. ebd.: 109).
Was die oben genannte ‚freischwebende Intelligenz‘ weiterhin auszeichnet, ist die Überwindung der Standortgebundenheit des Denkens durch das Kennenlernen unterschiedlicher Denkstandorte (vgl. ebd.: 109). Mannheim zufolge stellt dies eine Möglichkeit dar, auf die sozialen Verhältnisse zu reflektieren, von denen man selbst umgeben ist.
Karl Popper verwendet hierfür analog zur „Psychotherapie“ den Begriff der „Soziotherapie“ (Popper 1997: 363).
Eine Fortsetzung der von Mannheim und Scheler aufgestellten Theorie findet die Wissenssoziologie bei Peter Berger und Thomas Luckmann. Von ihnen stammt die Theorie des →Sozialkonstruktivismus. Deren Grundannahme lautet, dass Wirklichkeit lediglich „in und durch die Handelnden“ (Knoblauch 2014: 153) existiere und damit eine Konstruktion sei.
Exkurs: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie
Als Rahmen für die Kritik an der Wissenssoziologie ist eine nähere Betrachtung des Positivismusstreits sinnvoll, um die einzelnen Positionen besser zu verstehen. Die in Tübingen veranstaltete Konferenz „Die Logik der Sozialwissenschaften“ war insbesondere von Karl Poppers gleichnamigen Vortrag und Theodor W. Adornos Korreferat bestimmt. Gegenstand der Vorträge sind die verschiedenen Auffassungen von Wissenschaft und deren Methoden; namentlich die des Kritischen Rationalismus (Popper) und der Kritischen Theorie (Adorno) (vgl. Lichtblau 2015: 115).
Karl Poppers Wissenschaftsverständnis
Popper zufolge besteht die Methode der Sozialwissenschaften (analog zu der Methode der Naturwissenschaften) darin, „Lösungsversuche für ihre Probleme“ (Popper 1970: 105) auszuprobieren. Daher rührt auch sein Begriff der Objektivität: Nicht der Wissenschaftler bzw. die Wissenschaftlerin ist objektiv, sondern die Methode, die maßgeblich aus der kritischen Diskussion über die verschiedenen Lösungsversuche besteht (ebd.: 106). Damit ist die Objektivität eine „soziale Angelegenheit“ (ebd.: 112) und keine Eigenschaft der WissenschaftlerInnen. Sein Wissenschaftsverständnis ist somit ein streng logisches.
→ siehe auch: Situiertes Wissen - "Klassische" Wissenschaft und Feministische Wissenschaftskritik: 2 Perspektiven
Adornos Wissenschaftskritik
In seinem Korreferat zu Popper erläutert Adorno seine dialektische Herangehensweise, die der von Popper grundlegend entgegensteht. Wesentlich bei Adorno ist, dass die Widersprüchlichkeit der dialektischen Methode keineswegs eine der Methode, sondern eine in der Sache selbst liegende ist (vgl. Adorno 1970b: 129). Das „Ganze“ (ebd.: 127), was bei Adorno die kapitalistische Gesellschaft meint, ist also in sich notwendigerweise widersprüchlich und kann daher nur dialektisch aufgefasst werden. Deshalb muss hinter die Fakten, die selbst Teil des widersprüchlichen Ganzen sind, geblickt werden. Hier schließt Adornos Kritik an der empirischen Sozialforschung an: Die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse werden von dieser ignoriert, indem ausschließlich die Subjekte erforscht werden (vgl. Adorno 1970a: 84). Diese unterliegen der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft, weshalb eine reine, ‚theorielose‘ Betrachtung lediglich den Schein der Verhältnisse reproduziert. Daher muss Adorno zufolge die (sozialwissenschaftliche) Erkenntnis stets über diese Verhältnisse reflektieren (vgl. ebd.: 100).
Als wesentlicher Unterschied dieser beiden Positionen lässt sich der Kritikbegriff festmachen. Während Popper mit ‚Kritik‘ die Selbstkritik der Wissenschaft meint, ist sie bei Adorno „zugleich Kritik der Gesellschaft“ (ebd.: 135).
Kritik der Wissenssoziologie
Karl Popper und der Kritische Rationalismus
Ausschlaggebend für Poppers Kritik an der Wissenssoziologie ist dessen Objektivitätsbegriff, wie er oben dargestellt wurde. Ganz im Sinne „des sozialen und öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode“ (Popper 1997: 369) ist es seiner Auffassung nach überhaupt nicht das Ziel der Objektivität, die WissenschaftlerInnen möglichst frei von Ideologien und unbewussten Vorurteilen zu machen, sondern mit gegenseitiger Kritik diesen Vorurteilen gewissermaßen die Bedeutung zu entziehen. Ihm zufolge ist die Reflexion auf den sozialen Standort überhaupt nicht hilfreich, um sich von diesem loszulösen; eher verschärft sie die daraus entspringenden Vorurteile (vgl. ebd.: 372f). In dem man sich als ‚vorurteilsfrei‘ wähnt, haben diese ein noch leichteres Spiel. Popper findet hierfür den Begriff der „Selbsttäuschung“ (ebd.: 373).
Der Vorwurf, den Popper gegen die Wissenssoziologie erhebt, lässt sich mit dem Begriff des ‚Relativismus‘ auf den Punkt bringen. Der Subjektivismus der Wissenssoziologie widerspricht seiner Vorstellung nach einer objektiven Wissenschaft, deren Objektivität eben nicht die des Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftlerin ist, sondern die der Methode.
→ siehe auch: Objektivität: Traditionelle und feministische Perspektiven
Wissenssoziologie und Kritische Theorie
Die Kritische Theorie stimmt mit Poppers Kritik weitestgehend überein (vgl. Adorno 1970b: 137). Sie betrachtet die Wissenssoziologie jedoch nicht vom Standpunkt der Wissenschaft, sondern von dem einer materialistischen Kritik. Für Max Horkheimer unterscheidet sich die Wissenssoziologie nicht vom „üblichen Betrieb der ordnenden Wissenschaft“ (Horkheimer 1992: 226). Er erkennt darin die Reduktion der „Selbsterkenntnis des Denkens“ (ebd.: 226) auf „die Enthüllung von Beziehungen zwischen geistigen Positionen und sozialen Standorten“ (ebd.: 226). In diesem Sinne verurteilt Adorno die Wissenssoziologie als „positivistisch“ (Adorno 2003: 31, 38). Sie verkennt die in der Sache selbst liegenden Widersprüche und nimmt damit einen „vor-Hegelischen Standpunkt“ (ebd.: 36) ein. Der Perspektivenpluralismus führt dazu, dass „das Eine und Entscheidende als bloß eine Perspektive unter vielen möglichen erscheint“ (ebd.: 42) und die Kritik der Gesellschaft auf eine Kritik einzelner Symptome reduziert wird (vgl. ebd.: 43). Adorno zufolge ist die Wissenssoziologie schließlich Teil der Ideologie im Marxschen Sinne: „Die eifrige Sorge wegen der Standortgebundenheit der einzelnen Denker entspringt der Ohnmacht, jene einmal erreichte Einsicht in die objektive Verzerrung der Wahrheit festzuhalten“ (Adorno 1970b: 137).
Wissenschaft und Materialismus
Um das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Wissenschaft besser zu verstehen, lohnt sich die genauere Betrachtung der Wissenschaft im Materialismus.
Aus diesem Zitat lässt sich herauslesen, dass die bürgerliche Wissenschaft (hier: die Ökonomik) nichts anderes ist als die Alltagsreligion der kapitalistischen Gesellschaft. Im Hegelschen Sinne ist die Wissenschaft auf der Seite Verstands: Sie verweilt auf der Ebene der Erscheinung, kann jedoch nicht zum Wesen der Gesellschaft vordringen. Bei Hegel ist es letztendlich nur die Vernunft, die begreifen kann, „wie es wahrhaft ist“ (Hegel 1986: 405). Die Wissenschaft kann die inneren Widersprüche der Gesellschaft folglich nicht erkennen, da sie selbst dem Schein der Verhältnisse erliegt.
Materialistischer Feminismus
Karina Korecky gibt in ihrem Vortrag Kritik des Patriarchats - Was ist materialistischer Feminismus? einen Anhaltspunkt dafür, wie ein materialistischer Feminismus formuliert werden könnte. Dabei wird versucht, der Annahme des Dekonstruktivismus, dass es sich beim biopolitischen Körper im 20. Jahrhundert lediglich um eine lineare Entwicklung der Bedeutung des Körpers seit der Aufklärung handle, einen materialistischen Naturbegriff entgegenzustellen und die Bedeutung des Körpers als ein Resultat einer widersprüchlichen Geschichte aufzufassen. Dabei geht es unter anderem um die Relation von Geist und seiner Natur.
Karina Korecky: "Kritik des Patriarchats - Was ist materialistischer Feminismus?" gehalten am 09.06.2017, associazione delle talpe.
Literatur
Adorno, Th. W. (1970a), „Soziologie und empirische Forschung“, in: Th. W. Adorno et al. (1970), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied, 81-102.
Adorno, Th. W. (1970b), „Zur Logik der Sozialwissenschaften“, in: Th. W. Adorno et al. (1970), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied, 125-144.
Adorno, Th. W. (2003), Gesammelte Schriften in 20 Bänden. Band 10: Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt/M.
Hegel, G. W. F. (1986), Werke in 20 Bänden mit Registerband. 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit den mündlichen Zusätzen. Frankfurt/M.
Horkheimer, M. (1992), Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze. Frankfurt/M.
Knoblauch, H. (2014), Wissenssoziologie. Konstanz.
Lichtblau, K. (2015), „Adorno’s position in the positivism dispute: A historical perspective“, in: Journal of Classical Sociology 15(2), 115-121.
Marx, K., F. Engels (1959), Werke. Band 4. Berlin/DDR.
Marx, K., F. Engels (1961), Werke. Band 13. Berlin/DDR.
Popper, K. (1970), „Die Logik der Sozialwissenschaften“, in: Th. W. Adorno et al. (1970), Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neuwied, 103-124.
Popper, K. (1997), Lesebuch: Ausgewählte Texte zur Erkenntnistheorie, Philosophie der Naturwissenschaften, Metaphysik, Sozialphilosophie. Stuttgart.