Inhaltsverzeichnis
Einführung
2018 hat Bayern als erstes Bundesland sogenannte AnkER-Zentren für Geflüchtete eingeführt. Auch im Saarland und in Sachsen gibt es mittlerweile AnkER-Zentren.1) Die restlichen Bundesländer wollten bis jetzt keine AnkER-Zentren einrichten, in den meisten Bundesländern gibt es jedoch funktionsgleiche Einrichtungen. AnkER steht für Ankunft, Entscheidung und Rückführung.2) Das Besondere an AnkER-Zentren im Vergleich zu vorherigen Asylunterkünften: Dort sind alle relevanten Behörden an einem Ort vertreten. Dazu gehören die Zentrale Ausländerbehörde, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), welches über den Asylantrag entscheidet, und die Verwaltungsgerichte, die die Entscheidung im Zweifelsfall überprüfen.3)
Entscheidend ist dabei, dass die Asylsuchenden durch die Bündelung der Behörden an einem Ort die Einrichtung nicht verlassen müssen, während ihr Asylverfahren läuft. Vielmehr noch: Sie sollen die Einrichtung ausdrücklich nicht verlassen. Denn hinter der Einrichtung der AnkER-Zentren liegt das politische Ziel, Asylverfahren zu kürzen: Geflüchtete ohne „Bleibeperspektive“ sollen so schnell wie möglich abgeschoben werden; Menschen, deren Asylantrag angenommen wurde, soll hingegen schneller eine Zukunftsperspektive geschaffen werden. In der Realität stecken Geflüchtete teilweise mehrere Jahre in den Unterkünften fest, ohne Privatsphäre, ohne Zukunftsperspektive, fast ohne Kontakt zu Einheimischen.4) Deshalb gibt es auch viel Kritik an AnkER-Zentren. Geflüchtete und zivilgesellschaftliche Vereine klagen gemeinsam gegen die aus ihrer Sicht unwürdigen und teils menschenrechtsverletzenden Bedingungen in den Einrichtungen. Viele politische Verbände fordern die Abschaffung von AnKER-Zentren und ähnlich konzipierten Einrichtungen. Die Politik nutze das Thema Unterbringung, „um verstärkt auf die Isolation, Entrechtung und Ausgrenzung geflüchteter Menschen hinzuwirken”,5) heißt es in einem gemeinsamen Brief von Diakonie Deutschland, dem Deutschem Caritasverband, der Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, PRO ASYL und vielen weiteren Organisationen.
AnkER-Zentren sind zentrale Infrastrukturen des deutschen Asylsystems. In ihrem Werk „Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste“ hat Eva Barlösius eine soziologische Konzeption von Infrastrukturen vorgelegt. Dieses Wiki untersucht, ob sich Eva Barlösius´ Konzeption von Infrastrukturen eignet, um AnkER-Zentren zu analysieren. Besonderer Fokus liegt dabei auf den vier Eigenschaften von Infrastrukturen, die Barlösius in ihrer Konzeption hervorhebt: Vorleistung, Sozialität, Regelwerk und Verräumlichung. Welche Erkenntnisse lassen sich daraus über AnkER-Zentren gewinnen? Diesen Fragen gehen die Autorinnen des Wiki nach, eine erschöpfende Beantwortung der Frage ist jedoch nicht möglich. Die Analyse der AnkER-Zentren bleibt also beispielhaft und eignet sich nicht dazu, allgemeine Aussagen zu treffen. Auch Barlösius beschränkt sich in ihrem Werk „Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste” auf einige wenige Beispiele, ohne dass ihre Theorie an wissenschaftlicher Relevanz verliert. So liefert auch diese beispielhafte Analyse einige wichtige Erkenntnisse, die wissenschaftlich relevant und politisch aktuell sind.
AnkER-Zentren und Barlösius' Infrastrukturtheorie
Infrastrukturelle Vorleistungen
Infrastrukturen legen „die Bahnen für zukünftiges Handeln aus” (Barlösius, 2019: 50).6) Denn die materiellen und immateriellen Strukturen geben vor, wie etwas in Zukunft bewältigt werden kann und wird. Damit eröffnen sie manche Entwicklungen und blockieren andere. Sie fördern bestimmte Formen des sozialen Handelns, „nicht selten drängen oder zwingen sie sogar dazu” (ebd.). In den meisten AnkER-Zentren haben die Bewohner:innen keine eigenen Zimmer, sondern müssen sie sich mit anderen teilen. Die Hausordnungen der Erstaufnahmeeinrichtungen in Baden-Württemberg legen außerdem dar, dass die Bewohner:innen keine Schlüssel für ihre Zimmer haben. Ob gewollt oder nicht, sind sie also stets im Kontakt mit anderen Geflüchteten und haben kaum Privatsphäre. Hier fördert die Infrastruktur also eine Form von sozialem Handeln, die viel Kontakt bedeutet. Wie Berichte aus Lagern zeigen, kann das zu psychischem Stress, Konflikten und Gewalt führen.7)
Gleichzeitig verhindert das infrastrukturelle Regelwerk der AnkER-Zentren andere Formen sozialen Handelns. Während die Bewohner:innen untereinander ständig im Kontakt sind, wird ihnen der Kontakt zu Menschen von außerhalb sehr erschwert (siehe infrastrukturelles Regelwerk). Soziale und gesellschaftliche Teilhabe der Geflüchteten wird dadurch auf ein Minimum reduziert. Auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene erbringen die AnkER-Zentren infrastrukturelle Vorleistungen. Abschottung und Isolation der Geflüchteten verhindert Integration und kulturellen Austausch. Gleichzeitig erfüllen sie die politischen Ziele derer, die Abschiebungen möglichst schnell und effizient gestalten wollen. An dieser Stelle wird deutlich, dass Vorleistungen immer auch eine politische Komponente beinhalten. Die Infrastrukturen ermöglichen bestimmte politische Ziele (schnelles und effizientes Abschieben), während sie andere Vorstellungen (Integration und dezentrale Unterbringung) unmöglich machen. Infrastruktur bedarf deshalb „einerseits der Legitimation, andererseits wirkt sie legitimierend” (Barlösius, 2019: 65).8) Warum? „Weil sie Ermöglichungsstrukturen schafft, die soziale Gewinner wie Verlierer produziert” (ebd.).9) Es muss demnach legitimiert und begründet werden, warum es in Ordnung ist, dass Geflüchtete als Verlierer rausgehen. Dafür werden oft wirtschaftliche oder technische (vgl. Barlösius, 2019),10) aber auch politische Gründe genannt. Häufig wird der Umgang mit Geflüchteten zu einer Frage der inneren Sicherheit gemacht. Die Kriminologin Sanja Milivojevic, die sich intensiv mit der Überwachung von Grenzen befasst, erläutert das: „Es gibt weltweit eine Entwicklung, die Migration immer stärker zur Sicherheitsfrage macht. […] Und die Mobilität bestimmter Menschen wird als möglicher Gefahrenherd ausgemacht. Daraufhin werden Möglichkeiten geschaffen, um ihre Einreise zu verhindern, einzudämmen und zu regulieren.„11) Konservative politische Kräfte befürchten, dass Geflüchtete den deutschen Sozialstaat belasten würden.12)13) Dies impliziert letztendlich, dass die Isolation und die Abschottung in den AnkER-Zentren politisch gewollt sind, weil sich das Ziel schneller und effizienter Abschiebungen damit besser erreichen lässt. 2017 beschreibt das Bundeskanzlerin Merkel wie folgt: „Wir arbeiten daran, dass Rückführungen möglichst aus den Erstaufnahmeeinrichtungen erfolgen können; denn wir wissen: Wenn Menschen erst einmal durch ehrenamtliche Helfer in Kommunen integriert werden, dann ist die Rückführung sehr viel schwerer und schwieriger.“.14)
Infrastrukturen zeigen auf, was in Zukunft möglich ist und was nicht. Außerdem lenken sie Entwicklungen in bestimmte Bahnen. AnKER-Zentren tragen dazu bei, dass eine integrative und dezentrale Aslyl- und Integrationspolitik erschwert wird, Abschottung und Isolation hingegen verstärken sie.
Infrastrukturelle Sozialität
Die Infrastrukturelle Sozialität ist das Ergebnis der spezifischen „sozialen Wechselwirkungen” (Barlösius, 2019: 54)15), die im Rahmen der Infrastruktur stattfinden. Barlösius lenkt den Blick auf die sozialen Qualitäten von Infrastrukturen, indem sie untersucht, welcher soziale Umgang in der „Praxis“ der Infrastruktur zutage kommt. Typisch für den Sozialstaat sei die klare Trennung in Betreibende und Nutzende einer Infrastruktur (vgl. ebd. 53)16), die auch bei AnkER-Zentren festzustellen ist. Besonders große und komplexe Infrastrukturen mit dieser Art von Trennung und Rollenverteilung würden tendenziell einen unpersönlichen Umgang der Menschen dort entstehen lassen (vgl. ebd.).17) Die Sozialität einer Infrastruktur ist eng geknüpft an deren Vorleistung, d.h. was für wen bereitgestellt und wie es genutzt wird. Wenn die zu erbringenden Leistungen und Angebote eher auf eine „Masse” ausgerichtet als auf den Einzelnen abgestimmt sind, resultiert daraus eher eine formalisierte, unpersönliche Beziehung (vgl. ebd. 54).18)
Diese kurze theoretische Beleuchtung weist bereits darauf hin, welcher Art der Behandlung Geflüchtete in AnkER-Zentren höchstwahrscheinlich begegnen: als Gegenstand eines abstrakten verwaltungstechnischen Verfahrens werden sie zu einer „Masse” homogenisiert und dem Zweck der Infrastruktur entsprechend einheitlich und distanziert behandelt.
Diese Art der Behandlung muss sich auch auf das Befinden und Verhalten der Untergebrachten in den AnkER-Zentren auswirken, gerade weil die dort vorherrschende Sozialität maßgeblich über ihr Leben bestimmt. Die Geflüchteten müssen sich für die Zeit ihres Asylverfahrens (und des Wartens auf ihre Verteilung auf die Folgeunterkünfte) fast ausschließlich in der Gemeinschaftsunterkunft aufhalten und können in dem Zeitraum keine Schule besuchen oder einer Arbeit nachgehen (letzteres zumindest in den ersten 9 Monaten).20) Somit können sie sich den unpersönlichen „sozialen Wechselbeziehungen” (zwischen Betreibenden und Nutzenden) und der an den Vorleistungen der Infrastruktur orientierten „Reduktion“ ihrer selbst weder lokal noch psychisch entziehen; denn anstatt einer sinnbringenden Tätigkeit nachzugehen, müssen die meisten ihre Tage mit dem Warten auf eine ungewisse Zukunft zu verbringen. Weitere Auswirkungen auf die Sozialität der AnkER-Zentren als Infrastruktur haben deren räumlicher Charakter (siehe Infrastrukturelle Verräumlichung) sowie verschiedene Regeln, die dort die Kooperation zwischen Behörden und Asylsuchenden ordnen und über das Zusammenleben der Geflüchteten bestimmen (siehe Infrastrukturelles Regelwerk). Generell betrachtet zeichnet sich die Lebenssituation der Asylsuchenden in AnkER-Zentren aus durch:
- Isolation (von Allem außerhalb des Zentrums durch geografische Lage, Besuchseinschränkungen bzw. -verbote und kein bzw. schlechtes bereitgestelltes WLAN),
- fehlende Privatsphäre (bspw. geteilte Zimmer und gemeinschaftliche Toiletten nicht abschließbar),
- eingeschränkte bzw. fehlende Selbstbestimmung (bspw. Mahlzeiten durch Einrichtungen gestellt (Sachleistungsprinzip), Verbot des Einführens von Lebensmitteln von außerhalb der Einrichtung; Wohnsitznahmepflicht in AnkER-Zentren und Aufenthaltspflicht im Umkreis),
- unzureichender bzw. fehlender Schutz (vor Übergriffen unter den Geflüchteten und vor plötzlichen Kontrollen der Sicherheitsbeamten),
Da die Infrastruktur selbst nur auf die Verwaltung und Lebenserhaltung von Asylsuchenden ausgelegt ist, zeichnet sich die Sozialität einerseits durch routinierte, unpersönliche Kommunikation zwischen Betreibenden und Nutzenden aus, andererseits durch die von Mangel und Einschränkungen geprägte Disziplinierung und Abschreckung der dort Untergebrachten.
Barlösius zufolge kann Infrastruktur jedoch auch über „gemeinsam geteilte Werte und Interessen” (Barlösius, 2019: 54)23) aller Involvierter funktionieren: durch Eigenengagement und Selbstverwaltung kommt dabei ein eher persönlicher Charakter von infrastruktureller Sozialität zutage. Hier ließen sich Hilfsorganisationen und Vereine mit ihren freiwilligen Engagierten einordnen, deren Ziel es ist, Geflüchtete individuell zu beraten, im Alltag zu unterstützen und sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Bei dieser gemeinsamen Zusammenarbeit kann es zu einer hochgradigen Überschneidung von Vorleistung und Sozialität kommen, da zumindest eines der Ziele die Ermöglichung und Praktizierung eines gewissen sozialen Austauschs ist. Ein Umgang mit Asylsuchenden als Individuen mit bestimmten Fähigkeiten, Erwartungen, Bedürfnissen und Ängsten birgt das Potential, gegen die abstrakte, vereinheitlichende und unpersönliche infrastrukturelle Sozialität der AnkER-Zentren zu wirken. Dazu müssten jene Verbände und Engagierte allerdings als Teil dieser Infrastruktur agieren oder zumindest über freien Zugang verfügen, was Stand jetzt nicht der Fall ist (vgl. Tietje, 2021: 51–52).24)
Infrastrukturelles Regelwerk
Zum Infrastrukturellen Regelwerk gehören Barlösius zufolge „Zugangs-, Erstellungs-, Vorhaltungs- sowie Gebrauchsregeln“ (Barlösius, 2019: 56).25) Diese Regeln können formell oder informell sein. Wer Zugang zu einer Infrastruktur hat und wer nicht, ist ein zentrales Kriterium, da es viel über die Sozialität einer Infrastruktur aussagt. Im engen Sinne ist die Frage nach den Zugangsregeln in AnkER-Zentren schnell geklärt. Schließlich sind AnkER-Zentren Infrastrukturen, die explizit für Asylsuchende geschaffen wurden. Zugang haben also nur Asylsuchende, nur sie wohnen und leben in den Einrichtungen. Darüber hinaus gehören zu den Zugangsregeln aber auch noch weitere Regeln. Wer hat darüber hinaus Zugang zu den AnkER-Zentren? Viele Berichte über AnkER-Zentren oder Erstaufnahmeeinrichtungen legen dar, dass Bewohner:innen keinen Besuch empfangen dürfen.26) Das Besuchsverbot gilt auch für Ehrenamtliche und zivilgesellschaftliche Vereine, die die Geflüchteten unterstützen oder beraten wollen. Ausnahmen gibt es nur in seltenen Fällen und mit viel Aufwand.
Außerdem verwehren die Regeln der AnkER-Zentren den Bewohner:innen Zugang zu Infrastrukturen außerhalb der Einrichtungen. Die Bewohner:innen dürfen die ersten neun Monate nicht arbeiten und haben nur sehr eingeschränkten Zugang zu Bildungsangeboten.27) Der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung ist durch diese Regelungen kaum möglich. Eigentlich haben Schutzsuchende einen rechtlichen Anspruch auf Rechtsberatung. Doch in der Realität können nur die wenigsten Bewohner:innen der AnkER-Zentren tatsächlich unabhängige Rechtsberatung in Anspruch nehmen. Ein Grund dafür ist unter anderem die Lage der AnkER-Zentren. Denn wenn Menschen in großen Lagern abgeschottet und außerhalb der großen Städte untergebracht werden, haben sie kaum Chancen, Kontakt zu Anwälten und Anwältinnen aufzunehmen, die sich meistens in den Städten befinden. Die Wege sind lang und kompliziert, Busse fahren nur selten und außerdem kostet das alles – die Fahrten, Rechnungen von Anwält:innen – Geld. 28) Die Geflüchteten haben jedoch meist kaum Geld, da sie nicht arbeiten dürfen und Sozialleistungen hauptsächlich in Form von Sachleistungen bekommen. 29) Außerdem führt die Isolation in den Zentren dazu „dass es weder Erfahrung noch Unterstützung gibt, wie man eine Anwältin am besten kontaktiert“.30) Stattdessen führt das Bamf grundlegende Rechtsberatung durch, diese wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen jedoch als unzureichend kritisiert.31) Die Zugangsregeln sind sowohl nach außen als auch nach innen sehr exklusiv, das Ergebnis für die Bewohner:innen: sie leben isoliert vom Rest der Gesellschaft.
Die Erstellungs- und Vorhaltungsregeln definieren „welche infrastrukturellen Vorleistungen zu erbringen, in welcher Qualität und Quantität diese sicherzustellen und wie diese zu erzeugen sind” (Barlösius, 2019: 56).32) Zu den Vorleistungen gehört (siehe oben) das politische Ziel, Asylsuchende - sollte ihr Asylantrag abgelehnt werden - schneller und effizienter abzuschieben. Durch die „Bündelung der zuständigen Behörden, BAMF, Verwaltungsgerichte, Ausländerbehörden und Bundesagentur für Arbeit“33) soll dieses Ziel erreicht werden. Das ganze Asylverfahren soll im AnkER-Zentrum stattfinden, Ankunft Verteilung, Entscheidung und Rückführung.34) Geflüchtete sollen also im AnkER-Zentrum bleiben, bis endgültig über ihren Asylantrag entschieden wurde. Erst danach werden Geflüchtete, vorausgesetzt ihr Antrag wurde angenommen, auf die Kommunen verteilt. Wer keinen Schutzstatus erhält, wird direkt aus dem AnkER-Zentrum abgeschoben.
„Die Gebrauchsregeln wenden sich hauptsächlich an die Nutzerinnen und Nutzer der Infrastrukturen” (Barlösius, 2019: 56)35), also an die Geflüchteten. In den meisten Unterkünften gelten strenge Hausordnungen. Bewohner:innen einer funktionsgleichen Einrichtung in Freiburg erzählen, dass sie keine Schlüssel für ihre Zimmer bekommen und dass sie Tag und Nacht mit Taschen- und Zimmerkontrollen rechnen müssen. Die Bewohner:innen dürfen außerdem keine Bild- oder Videoaufnahmen von ihren Zimmern machen, politische Betätigungen jeglicher Art sind auf dem Gelände verboten. „Selbst einfache Haushaltsgegenstände wie einen Gebetsteppich oder ein Glas Erdnussbutter dürfen sie nicht mit auf ihr Zimmer nehmen.”36).
Im infrastrukturellen Regelwerk manifestieren sich die gesellschaftlichen und infrastrukturellen Vorleistungen von AnKER-Zentren. Geflüchtete sollen isoliert und abgeschottet von der Restbevölkerung leben, damit sie keine Gefahr darstellen, und schnell abgeschoben werden. Außerdem erschweren sie zivilgesellschaftlichen Akteuren den Zugang zu AnkER-Zentren und erschweren es damit all denen, die Veränderungen anstreben.
Infrastrukturelle Verräumlichungen
Infrastrukturen verfügen immer über einen „Raumbezug“, der jedoch unterschiedlich gestaltet sein kann. In ihrer Konzeption führt Barlösius drei verschiedene Arten an: „raumbildende (und damit Grenzen konstituierende), raumüberwindende und überräumliche Infrastrukturen.“ (Barlösius, 2019: 59).37) In der Gründungsphase der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft dienten die räumlichen Aspekte von Infrastrukturen besonders der Erschließung eines Territoriums, des Nationalstaats, sowie seiner Strukturierung anhand der Etablierung eines übergreifenden Netzes (vgl. ebd. 84–86).38)
AnkER-Zentren können als erstrangig raumbildende Infrastruktur charakterisiert werden: sie sind das Ergebnis der „[r]äumliche[n] Fixierung und Lokalisierung“ (ebd. 60)39) von Vorleistung, Sozialität und Regelwerk. Im Vordergrund steht die Konzentration auf einen festgelegten Ort anstatt des Austauschs zwischen verschiedenen Orten. Letzteres trifft auf raumüberwindende Infrastrukturen zu, die darauf ausgerichtet sind, „Orte miteinander zu verbinden und darüber größere soziale Einheiten zu schaffen.” (ebd.: 60).40) Auch AnkER-Zentren und „funktionsgleiche Einrichtungen” bilden ein Netz, das sich in das bundesweite Netz der Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende eingliedert. Die in den einzelnen Einrichtungen integrierten Außenstellen des Bamfs oder des Jugendamts bspw. agieren ebenfalls nur als ein Teil ihrer externen, die Bundesrepublik strukturierenden Infrastruktur. Betont werden soll jedoch, dass gerade AnkER-Zentren so konzipiert wurden, als vollausgestattete autonome „Inseln” Asylanträge zeiteffizient zu bearbeiten. In diesem Sinne werden ihre raumüberwindenen Eigenschaften von den raumbildenen Eigenschaften überschattet und treten vermutlich gerade für die dort untergebrachten Geflüchteten in den Hintergrund. Überräumliche Qualitäten, wie sie beispielsweise das Internet besitzt (vgl. ebd. 61)41), lassen sich nicht feststellen.
Folgendermaßen treten die raumbildenden Eigenschaften der AnkER-Zentren u.a. zutage:
- Geografische Lage. Ihre häufig dezentrale Lage am Stadtrand oder im Gewerbegebiet erfüllt die „disziplinierende Funktion der geographischen Isolation von Migrant*innen” (Tietje, 2021: 51).42) Dieser Kritik nach können die Behörden abseits des öffentlichen Lebens vergleichsweise unangefochten agieren und Abschiebungen unbemerkt stattfinden.
- Bauliche Anlage. Die Grundstücke sind meist von hohen Zaun umgeben und die Zugänge werden von Sicherheitspersonal kontrolliert, wodurch nach Aussagen von dort Untergebrachten der Eindruck eines Lagers, gar Gefängnisses entsteht (vgl. Göler 290).43) Mittels diese Markierung der absoluten territorialen Begrenzung wird ebenfalls der Ort als solcher betont.
- Behördliche Zentralisierung. Die Konzentration aller für das Asylverfahren relevanten Stellen und Behörden in den AnkER-Zenten untermauert die Ortsbindung, weil nun kaum Anlass für die Geflüchteten besteht, die Unterkunft für den Besuch von Behörden oder Beratungsstellen zu verlassen. Des weiteren ist der Zugang für externe Beratung und freiwillige Helfende oft nur eingeschränkt möglich oder ganz untersagt (vgl. Tietje, 2021: 51–52)44), was die Autonomie und Exklusivität der Infrastruktur und ihrer „räumlichen Fixierung” unterstreicht.
Bei der Abschottung nach innen und außen werden die Grenzen errichtenden Qualitäten der in erster Linie raumbildenden Infrastruktur der AnkER-Zentren besonders deutlich. In der räumlichen Wirkungskraft und Gestalt der Infrastruktur spiegeln sich die drei Hauptfunktionen von Lagern wieder: Trennung von Gesellschaft und den dort Untergebrachten (lokal, aber auch rechtlich), Kontrolle der Mobilität der Untergebrachten und Abschreckung.45)
Fazit
Infrastrukturen und gesellschaftlicher Konflikt
Anhand von Barlösius’ Konzeption von Infrastrukturen als „soziale Ordnungsdienste” können AnkER-Zentren analysiert und spannende Erkenntnisse gewonnen werden. Zu jeder der vier Eigenschaften von Infrastrukturen findet sich mehr als genug Material, aus dem sich ein plastisches Bild des Untersuchungsgegenstands zusammensetzt. Natürlich wurde in dieser Analyse nur auf allgemeine Merkmale der Infrastruktur AnkER-Zentren eingegangen - es bedarf Untersuchungen einzelner solcher Einrichtungen, um ein scharfes Bild zu zeichnen. Barlösius’ Beschäftigung mit Infrastrukturen gründet unter anderem in ihrer Überzeugung, dass Infrastrukturen zur Gesellschaftsdiagnose herangezogen werden können. Anhand von Infrastrukturen können demnach gegenwärtige soziale Zustände analysiert und gedeutet sowie Prognosen über die Zukunft aufgestellt werden (vgl. Barlösius, 2021: 14–15).46)
Was uns AnkER-Zentren über die moderne deutsche Gesellschaft und besonders über ihre Einstellung gegenüber Geflüchteten verraten, kann hier nicht fundiert beantwortet werden, und stellt einen nächsten lohnenden Schritt für Untersuchungen dar. Fest steht, dass AnkER-Zentren und funktionsgleiche Einrichtungen äußerst umstritten sind: verschiedene Akteure mit ihren eigenen komplexen Interessen bringen unterschiedliche Perspektiven zum Ausdruck, in der aktiven Gestaltung der Infrastruktur, in Opposition zu ihr oder in ihrer Erduldung. Politiker:innen, Bürger:innen, Asylsuchende, Behörden und Verbände treffen hier zusammen und verhandeln über die gegenwärtigen Zustände und damit auch über die Zukunft von Migrant:innen in Deutschland. Dies spricht dafür, dass Infrastrukturen zur Analyse von gesellschaftlichen Konflikt herangezogen werden können, der im Fall der AnkER-Zentren konkrete Gestalt annimmt.
Infrastrukturen und gesellschaftliche Transformation
Barlösius zufolge zeigen Infrastrukturen gesellschaftlichen Wandel auf (vgl. ebd. 32); so legt sie (unter anderem) am Beispiel von „Dörflichkeit” die Möglichkeit eines Wandels von der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft dar (vgl. ebd. 91–111). Die vorliegende Analyse eignet sich nicht, um Aussagen dahingehend zu treffen. Auf welche „gesellschaftliche Transformation“ (ebd. 17) die Infrastruktur AnkER-Zentrum reagiert bzw. welche sie antreibt, ist hier schwer beantwortbar, da nur ein kurzer zeitlicher Abschnitt (2018 bis Sommer 2021) betrachtet wurde. Dies sollte leichter fallen, sobald die sich in den letzten Jahrzehnten verändernde Konzeption und Umsetzung von Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende in den Blick genommen wird. Nichtsdestotrotz können folgende Annahmen geäußert werden: Als im „Sommer der Migration” (Tietje, 2021: 49) 2015 beispiellos viele Menschen nach Europa und Deutschland flohen und die bis dato bestehende Infrastruktur nicht mehr ausreichte, mussten allerorts neue Erstaufnahmeeinrichtungen und Folgeeinrichtungen eröffnet werden, die schließlich in AnkER-Zentren (und funktionsgleiche Einrichtungen) umgewandelt wurden. Was ursprünglich nur der provisorischer Unterbringung und Verwaltung von Asylsuchenden diente, wurde über die Jahre trotz humanitärer Bedenken beibehalten, ausgebaut und gefestigt. Die Politik reagiert auf die durch stärkere Migration gekennzeichnete gesellschaftliche Transformation mit einer Art von Infrastruktur, die wie dargelegt auf Abschreckung und Isolation setzt und zur freiwilligen Rückkehr motivieren will.47) Es ist eine Frage, ob Politik solche Transformationen lenken oder gar aufhalten kann; eine andere Frage ist es, wie es den schutzsuchenden Menschen dabei ergeht, die ihre ersten Monate (bis Jahre) in einem neuen, ungewohnten Land im Kontext dieser Infrastruktur gezwungen sind zu verbringen.
Infrastrukturen und soziale Teilhabe
Dies verweist auf die sozialen Implikationen, denen Barlösius in ihrer Konzeption von Infrastrukturen besonderen Nachdruck verleiht. Der soziologische Blick auf Infrastrukturen ermöglicht die Untersuchung ihrer Wirkung auf das soziale Leben und aus welcher Form bereits bestehender „sozial-räumliche[r] Ordnung” (Barlösius, 2019: 10)48) sie entspringen. In dieser Analyse wurde bereits versucht, die an AnkER-Zentren gekoppelte Sozialität hervorzuheben und Schlüsse bezüglich der spezifischen Auswirkungen für das alltägliche Leben der dort Untergebrachten zu ziehen. Ein weiterer Schritt wäre, explizit die Möglichkeiten und Grenzen der sozialen Teilhabe von Geflüchteten in AnkER-Zentren zu untersuchen. An mehreren Stellen kamen wir zu dem Schluss, dass Geflüchtete dort ein eingeschränktes, isoliertes Leben führen müssen und deswegen ihr Zugang zur Gesellschaft versperrt ist (nicht zuletzt da Arbeit, Schule, Sprachkurse, Integrationskurse etc. erst nach Verleihung des Bleiberechts zugänglich gemacht werden).
Diese These der Gegner:innen von AnkER-Zentren könnte an spezifischen Beispielen soziologisch geprüft werden, wobei es unwahrscheinlich ist, dass die Ergebnisse große Differenzen aufweisen. Auf andere Fragen hingegen könnte die Soziologie vielleicht neue Antworten liefern: setzt soziale Integration Teilhabe voraus oder ist Teilhabe nur eine „bestimmte Art der Realisierung sozialer Gerechtigkeit“ (Barlösius, 2019: 26)?50) Und ist Infrastruktur der einzige Stifter von sozialer Teilhabe? Auch stellt sich die Frage, wer in der Verantwortung steht, für soziale Teilhabe zu sorgen oder zumindest die besten Voraussetzungen dafür zu schaffen. Manche würden vielleicht auf „Infrastrukturverantwortung“ (vgl. ebd. 40)51) verweisen: etwas wird als so elementar für die „soziale Ordnung” verstanden, dass es aufrecht erhalten oder geschützt werden muss. Sobald es um gemeinschaftlichen Nutzen geht, wird die Aufgabe in staatliche Verantwortung gestellt (vgl. ebd.).52) In den Forderungen der gegen AnkER-Zentren protestierenden Verbände sowie in wissenschaftlichen Publikationen wird deutlich, dass es sich in deren Augen klar um den Verantwortungsbereich des Staates (bzw. der Länder, Kommunen und Städte) handelt (vgl. bspw. Aufruf der Paritätische53) (Tietje et.al., 2021: 7)54). Ist „Daseinsvorsorge” als Staatsaufgabe heute noch angemessen oder aktuell? Kann das politische Zurückziehen aus der Verantwortung für Asylsuchende in den Wandel des Sozialstaates eingeordnet werden?