Sitzung 4 - Postmoderne Perspektiven - Differenz und Kritik

Wie soll empirische Sozialforschung nach dem postmodern turn aussehen?

Handout zur Sitzung: handout_sitzung_4.pdf

Kathy Charmaz (1995) – Between Positivism and Postmodernism:

Frage des Textes: Was bedeutet der postmodern turn für die empirische Sozialforschung? Welchen Standpunkt sollen qualitativ Forschende dem gegenüber einnehmen?

Sie unterscheidet zwischen „affirmativem Postmodernismus“, dem noch daran gelegen ist, die Wissenschaft zu reformieren und „negativem/dekonstruktivem Postmodernismus“, der die Autorität von Wissenschaft grundsätzlich ablehnt.

These: Teile der postmodernen Kritik können verwendet werden, um die empirische Forschung zu verbessern. Negativer Postmodernismus aber untergräbt die Grundlagen empirischer Forschung. (49) Es ist daher notwendig, einen Standpunkt zwischen Positivismus und Postmoderne einzunehmen.

Beiträge des Postmodernismus (53):

  • Mahnung zu einer selbst-reflexiven Haltung.(43)
  • Betonung der Rolle von medialen Bildern bei der (Re)produktion von Bedeutung.
  • Forschung als situiert in einem sozialen Kontext betrachten. Das heißt, die Ergebnisse gelten nicht universell, sondern sie sind provisorisch, gelten nur in einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen (räumlich, zeitlich) (54)
  • Dekonstruktion der Autorität von Wissenschaft
  • Problematisierung des Verhältnisses zwischen Forschenden und Beforschten
  • Disziplinäre Grenzen verschwimmen
  • Ausprobieren neuer Stile und Formen der Präsentation von wissenschaftlichen Ergebnissen

→ Fortführung und Intensivierung bestehender Trends, von denen der Symbolische Interaktionismus bereits ein Teil ist.

Charmaz‘ Kritik am Postmodernismus:

Charmaz nimmt den Großteil der postmodernen Kritik mit auf und sieht sie als kompatibel mit dem konstruktivistischen Paradigma des S.I. an. Von einer extremen („negativen“) postmodernen Kritik sieht sie allerdings ihre Disziplin bedroht, die sie dann verteidigt – zum einen die Ethnologie als Methode und zum anderen empirische Wissenschaft insgesamt. Problematisch ist die Infragestellung wissenschaftlicher Autorität und die Problematisierung des Verhältnisses zwischen Forscher*in und Beforschten dann, wenn sie

a) auf die Ansicht hinausläuft, alle Ansichten seien gleichwertig. b) dazu aufruft, keine Ethnographie mehr zu betreiben.(49)

  • Wir sollten weiterhin empirische Forschung betreiben.
  • Es ist möglich, empirisch zu forschen, ohne positivistisch zu denken. Die Ethnografie im Kontext des Symbolischen Interaktionismus folgt keinem positivistischen, sondern einem konstruktivistischen Paradigma. Sie ist aus der alten Kritik am Positivismus heraus entstanden. Ihr Forschungsgegenstand ist die Bedeutung. Sie wollen die Bedeutung rekonstruieren, die die Dinge für eine Person haben. (50)
  • Wenn es darum geht, die Lebenswirklichkeit von Menschen abzubilden, ist die Arbeit des Symbolischen Interaktionismus „nützlicher“ als die von Journalist*innen, Fernsehmoderator*innen oder quantitativ Forschende. Durch die Beziehung zu den Menschen und die gründliche Interpretationsarbeit – empirische Gütekriterien - ist eine größere Nähe gegeben und so eine Interpretation, die sich näher am Original bewegt. Keine Gleichwertigkeit. (50f)
  • die Kritik, die von postmoderner Seite an der Methode der Ethnographie geübt wird, ist weitgehend unzutreffend oder pauschalisierend (S. 57-60).
Fragen:
  • An welcher Stelle geht die postmoderne Kritik über die alten Vorwürfe an den Positivismus hinaus? (48)
  • Was ist unter ‚seeing social data as texts‘ zu verstehen? (48)
  • Bedeutet das Vertreten eines negativen Positivismus wirklich, die empirische Forschung aufzugeben? (49)
  • Was ist an der postmodernen Kritik zwischen der Beziehung von Forschendem und Beforschtem zu halten? (57)
  • Ist es nicht widersprüchlich, dass Postmoderne auf Diversität bedacht ist und dann aber Vorschriften an die Forschung gibt, wie die Methode auszusehen hat?

Adele Clarke (2012): Der postmodern turn

Frage des Textes: Wie ist es möglich, neue Forschungsmethoden zu entwickeln, die nach dem postmodernen turn den Kritikpunkten der empirischen Forschung gerecht werden und die Komplexität der Realität erfassen können?

These: Die Methodologie muss über das Analysieren des Subjekts hinausgehen und den Fokus mehr auf die Forschungssituation und den Forschungsdiskurs richten.

Der postmodern turn: postmodern turn → fächerübergreifendes Phänomen (26).

Postmoderne bedeutet Komplexität, „Nichtfassbarkeit“ (26), dem gegenüber steht die Modernefür Universalität, Rationalität, Vereinfachung

Im Zentrum der postmodernen Forschung steht das Wesen des Wissens, dieses ist sozial und kulturell produziert (26). Clarke spricht hier von situiertem Wissen (27).

„Andere“ Ansätze machen über einen neuen Fokus auf Heterogenität in der Wissenschaft und Wissensgenerierung aufmerksam → „Differenz“-Brüche (27)

Kritik an der Postmoderne ist nach Clarke vor allem im Vorwurf eines ultimativen Nihilismus, Partikularismus und konstruktivistischer Denkansätze zu sehen (28).

Die Kritik unrealisierbarer ethnographischer Forschung nach dem postmodern turn ist unberechtigt. Sozialforschung hat sich seither nur verändert, weshalb neue Forschungsmethoden notwendig sind (28f.).

Philosophischer Pragmatismus als Grundlage neuer Methoden. Clarke bezieht sich auf den Pragmatismus nach Dewey http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=713&tx_gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontroller%5D=Lexicon&cHash=b0591b7c92c243347198b90bd5151a6c (aufgerufen am 16.05.2017 18:49)

Durch die Situationsanalyse werden bestimmte postmodernen Problemfelder in der Analyse miteinbezogen (30).

Kritik an Vereinfachungsstrategien seitens SoziologInnen in der empirischen Forschung (30)

„Komplexität für Situiertheit“ (30) (Forschungsmethoden, die Individuen stärker in den Mittelpunkt rückt) ist für Clarke wichtig, allerdings ist für sie das Fokussieren des Sozialen im sozialen Leben (30f.) elementarer Aspekt ihrer Arbeit. Forschende sollen in ihrer Analyse den Fokus stärker auf die gesamte Forschungssituation richten (30). Hierzu gehören Objekte, die die Situation konstituieren und durch die methodische Aufmerksamkeit in Situationen besser erfasst werden müssen (31).

Methoden müssen die Komplexität von Situationen erklären, die Heterogenität und Komplexität unserer Welt erkennen und über „das wissende bzw. erkennende Subjekt“ hinausgehen (31)

Fragen:
  • Was versteht man unter philosophischem Pragmatismus (29) und der Situationsanalyse (30)?
  • Inwiefern ist die Situationsanalyse eine postmoderne Methode?
  • „Ich würde sogar behaupten, dass wir noch mindestens ein Jahrhundert lang üben müssen, um die vorfindlichen Verschiedenheiten (differences) […] wirklich empirisch ernst zu nehmen“ (Clarke, 2012: 32) Was bedeutet es die Verschiedenheiten ernst zu nehmen? Was bedeutet es, sie nicht ernst zu nehmen?
  • Was meint Clarke mit dem ‚Haken‘ der Postmoderne? (32)

Christina Thürmer-Rohr (1995): Denken der Differenz – Feminismus und Postmoderne

Frage des Textes: Wie können durch reflektiertes, skeptisches Denken die aus der Moderne entstandenen Kategorien hinterfragt und aufgelöst werden?

Denken der Differenz bedeutet für Thürmer-Rohr ein Denken, das „von der Hybris der Moderne befreien und von deren Herrschaftsansprüchen entwöhnen kann“ (87).

Feminismus und Postmoderne:

Viele heterogene Positionen in der emanzipatorischen Bewegung

Differenz → Schlüsselbegriff der Postmoderne

Sie äußert des weiteren Kritik daran, dass Frauen der weißen westlichen Welt „das Subjekt des Feminismus aus [ihrer] Perspektive […] bestimmen“ (88) und dass es durch ein miteinbeziehen der „Anderen“ unmöglich wird, ein einheitliches Bild von „der Frau“ zu bekommen.

Thürmer-Rohr stellt drei Grundpositionen des Feminismus gegenüber (88):

  1. Eine liberale Form, die eine bedingungslose Geschlechtergleichstellung fordert
  2. Eine gynozentrische Position, die Zweigeschlechtlichkeit als natürlichen und fraglosen Bestandteil des Menschen sieht. Die Forderung ist keine Aufhebung der Geschlechtertrennung, sondern ihre Rekonstruktion.
  3. Eine dekonstruktivistische/postmoderne Position, die Geschlecht als eine aufzulösende Kategorie sieht und im Gegensatz zur gynozentrischen Position der Zweigeschlechtlichkeit klar widerspricht.

Auf Basis der dekonstruktivistischen Position argumentiert Thürmer-Rohr, dass Geschlecht eine von allen AkteurInnen geschaffene und reproduzierte Kategorie ist und hinterfragt die Kategorie Frau (90). Wie postmodernen Kritik: Denken der Differenz → Kritik an Kategorien, Klassen, Einheit und Ordnung (93). Das Denken der Differenz kritisiert die Ausgrenzung der „Anderen“ (91). Es bedeutet für Thürmer-Rohr Auflösen von Ursprungsdenken, Einheiten und Identitäten.

Postmodern ist das Denken der Differenz, weil es sich kritisch mit den Ergebnissen der Idee einer modernen Idealgesellschaft auseinandersetzt (91) und Generalisierungen und Verallgemeinerungen anzweifelt (94).

Problem: die modernen Herrschaftskategorien sind im Denken und Handeln der westlichen Kultur verankert. „Viele profitieren und leiden gleichzeitig, leiden an dem, wovon sie profitieren, profitieren von dem, woran sie leiden.“ (94)  Doppelerfahrung („die Anderen“ als Betroffene und Beteiligte)

Feminismus bedeutet Gesellschaftskritik (95)

Ansprüche des Denkens der Differenz: Offenheit, Respekt, Skepsis (96) Auflösen von Identitäten bedeutet den Versuch der Nichtpraktizierung von Herrschaft

Fragen:
  • Was macht die Postmoderne mit dem Feminismus, wenn man davon ausgeht, dass die emanzipatorischen Bewegungen aus der Aufklärung der Moderne entstanden sind?
  • Warum ist ein Denken der Differenz postmodern?
  • Wie sieht/sähe ein Feminismus der Postmoderne aus? (88f.)
  • Wie sieht Geschlecht* in der Postmoderne aus bzw. was bedeutet Geschlecht?
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