Sitzung 5 Ambivalenz

Die Suche nach Ordnung

Ambivalenz

  • „die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen, ist eine sprachspezifische Unordnung: ein Versagen der Nenn-(Trenn-) Funktion, die Sprache doch eigentlich erfüllen soll“ (Bauman 2016: 11)
  • Erfahrung von Ambivalenz ist begleitet von Angst und hat somit Unentschiedenheit zur Folge
  • ►sie wird als Unordnung erfahren
  • Ambivalenz entsteht aus der Hauptfunktion der Sprache: dem Nennen und Klassifizieren
  • Ambivalenz ist ein dauerhafter Begleiter der Sprache (Normalzustand)
  • Unter Klassiefizieren versteht Bauman trennen und absondern
  • „klassifizieren heißt, der Welt eine Struktur geben“ (Bauman 2016: 12)
  • ►d.h. die Zufälligkeit von Ereignissen einschränken oder versuchen sie zu eliminieren
  • Sprache strebt danach die Ordnung aufrecht zu erhalten und Zufall und Kontingenz zu leugnen bzw. zu unterdrücken („Eine ordentliche Welt ist eine Welt, in der man weiterweiß“)
  • Deshalb wird Ambivalenz als Bedrohung und Unbehagen wahrgenommen
  • Sie bringt die Berechnung von Ereignissen durcheinander
  • Eine Situation wird dann ambivalent, „wenn die sprachlichen Werkzeuge der Strukturierung sich als inadäquat erweisen“ (Bauman 2016: 12)
  • Ergebnis: Gefühl der Unentschiedenheit, Unentscheidbarkeit und letztlich ein Verlust an Kontrolle
  • Benennungs-/Klassifizierungsfunktion der Sprache soll Ambivalenz verhindern
  • Durch saubere Trennung der Klassen, präzise definitorische Grenzen und Unzweideutigkeit
  • Bauman: unwahrscheinlich, dass Ambivalenz ausstirbt
  • Denn Klassifizieren besteht immer aus Handlungen des Einschließens und Ausschließens► Gewaltakt, der immer ein gewisses Ausmaß an Zwang benötigt
  • Ambivalenz ist ein Nebenprodukt der Klassifikation
  • „Der Kampf gegen Ambivalenz ist daher selbstzerstörerisch und selbsterzeugend. Er ist unaufhaltsam, weil er seine eigenen Probleme erzeugt, während er sie zu lösen sucht“ (Bauman 2016: 14)

Der Kampf um Ordnung

  • Die Moderne hat sich die Ordnung als Aufgabe gestellt
  • Sie ragt unter den vielen unmöglichen Aufgaben, die sich die Moderne gestellt hat, heraus
  • Die Aufgabe der Ordnung hat die Moderne zu dem gemacht was sie ist
  • Moderne ist eine Zeit in der Ordnung reflektiert wird:
  • ►„ein Gegenstand des Nachdenkens, des Interesses, einer Praxis, die sich ihrer selbst bewußt ist, bewußt, eine bewußte Praxis zu sein und auf der Hut vor der Leere, die sie zurücklassen würde, wenn sie innehalten oder auch nur nachlassen würde“ (Bauman 2016: 17)
  • Die Existenz ist modern, da sie sich in Ordnung und Chaos spaltet
  • Der Kampf um die Ordnung „ist ein Kampf der Bestimmung gegen die Mehrdeutigkeit, der semantischen Präzision gegen Ambivalenz, der Durchsichtigkeit gegen Dunkelheit, der Klarheit gegen Verschwommenheit“ (Bauman 2016: 20)
  • Ordnung ist ständig im Überlebenskampf, denn die Alternative zur Ordnung ist Chaos
  • „Ordnung ist, was nicht Chaos ist; Chaos ist, was nicht ordentlich ist“ (Bauman 2016: 16) ►moderne Zwillinge
  • Existenz ist modern, wenn sie vom Drang geleitet wird sich selbst zu entwerfen
  • Dem bloßen Dasein kann nicht mehr getraut werden es muss beherrscht, unterworfen, neu gemacht werden und an menschliche Bedürfnisse angepasst werden
  • Moderne Praxis und Substanz moderner Politik ist die Anstrengung Ambivalenz auszulöschen
  • ►alles genau definieren und alles zu unterdrücken, was sich nicht definiert werden kann
  • Die moderne Praxis duldet keine Leere► deshalb ist Intoleranz die natürliche Neigung der modernen Praxis
  • Moderne rühmt Fragmentierung als ihre bedeutendste Leistung
  • Fragmentierung ist jedoch als Werkzeug des Ordnung-Schaffens ungeeignet
  • Das Produkt des modernen fragmentierten Ordnungsdrangs ist letztlich mehr Ambivalenz
  • „Probleme werden durch das Problem-Lösen geschaffen, neue Gebiete des Chaos werden durch die Ordnungs-Aktivität erzeugt. Fortschritt besteht zuerst und vorrangig im Veralten der Lösungen von gestern“ (Bauman 2016: 32)
Fragen
  • Warum ist der Kampf gegen die Ambivalenz laut Bauman selbstzerstörerisch und letztlich unaufhaltsam?
  • Bauman bezeichnet die Ambivalenz als „Abfall der Moderne“ (Bauman 2016: 34). Was versteht er hierunter?

Die Postmoderne oder: Mit Ambivalenz leben

Übergang der Moderne in postmodernes Stadium

  • Zwei Arten von Zweifel
  • Die erste Art Zweifel untergräbt die Autorität der Wissenschaft nicht
  • ►schützt die Autorität der Wissenschaft
  • ►Spannt die Unwissenheit vor den Wagen der Wissenschaft
  • Die zweite Art des Zweifels, stellt die Überlegenheit der Wissenschaft über jedes andere Wissen in Frage
  • Verschwinden dieses Zweifels als Zweifel verdeutlicht den Übergang der Moderne in ihr postmodernes Stadium
  • Stadium wird erreicht, wenn die Moderne erkennt, dass „der Erwerb von Wissen sich in keiner anderen Form ausdrücken kann als im Bewusstsein von mehr Unwissenheit“ (Bauman 2016: 384)
  • Weiteres Merkmal für den Übergang der Moderne in ihr postmodernes Stadium ist, dass die beiden getrennten Zweifel miteinander verschmelzen
  • Hoffnung beruht jetzt auf der Pluralität und nicht auf dem Überleben des am besten Angepassten
  • Postmoderne lässt sich als Zeitalter der Gemeinschaft begreifen
  • „der Lust auf Gemeinschaft, der Suche nach Gemeinschaft, der Erfindung der Gemeinschaft, der Imaginierung der Gemeinschaft“ (Bauman 2016: 388)
  • Suche nach Gemeinschaft führt häufig zu noch mehr Zerstreuung und Fragmentierung und endet in mehr Heterogenität
  • Jede Suche oder Drang nach Übereinstimmung führt zu neuen Zersplitterungen und Trennungen
  • Chance auf Erfolg liegt in der Anerkennung der Heterogenität der Nicht-Übereinstimmungen

Differenz

  • Moderne Intention hat die Differenz zur Beleidigung gemacht ►zur unverzeihlichsten Sünde
  • Postmoderne sieht die Differenz mit Behagen und Freude: „Differenz ist schön und darum doch um nichts weniger gut“ (Bauman 2016: 402)
  • Postmoderne Mentalität kann nichts ersetzen, eliminieren oder verdrängen
  • ►die Postmoderne ist zur Ausschließung unfähig
  • „Auf die moderne Entschlossenheit, den Konsens zu suchen oder zu erzwingen, kann die postmoderne Mentalität nur mit ihrer gewohnheitsmäßigen Toleranz der abweichenden Meinung reagieren“ (Bauman 2016: 403)
  • Toleranz kann Angriffe jedoch nur abwehren, wenn sie in Solidarität umgewandelt wird
  • ►Anerkennung, dass die Differenz die einzige Universalität ist
  • Solidarität bedeutet „die Bereitschaft zu kämpfen; und an der Schlacht teilzunehmen um der Differenz des anderen willen, nicht der eigenen“ (Bauman 2016: 404)

Privatisierung der Interessen

  • Privatisierung der Interessen hat die postmoderne Gesellschaft immun gegen systemische Kritik und radikalen gesellschaftlichen Dissens gemacht
  • ►postmoderne Gesellschaft interpretiert jede bestehende und zukünftige soziale Frage als private Sorge
  • ►Privatisierung der menschlichen Probleme
  • Politik reduziert Verantwortlichkeiten auf Fragen der öffentlichen Sicherheit
  • Ausrichtung des Lebens am Markt
  • Gemeinschaftsangelegenheiten und Verwaltung des kollektiven Lebens gerät aus dem Blick
  • Dissens ist entpolitisiert und löst sich in verstärkten persönlichen Ängsten und Sorgen auf

Die politische Tagesordnung der Postmoderne

  • Idee der Postmoderne ist eine Existenz, die durch Tatsache bestimmt ist, dass sie hinterher kommt (post ist)
  • „Postmoderne bedeutet nicht notwendig das Ende, die Diskreditierung oder Verwerfung der Moderne. Postmoderne ist nicht mehr (aber auch nicht weniger) als der moderne Geist, der einen langen aufmerksamen und nüchternen Blick auf sich selbst wirft, auf seine Lage und seine vergangenen Werke, nicht ganz überzeugt von dem, was er sieht, und den Drang zu Veränderung verspürt“ (Bauman 2016: 429)
  • Postmoderne ist eine Moderne, die sich mit der eigenen Unmöglichkeit abfindet und sich selbst kontrolliert
  • ►gibt bewusst auf, was sie einst unbewusst getan hat

Werte der postmodernen Mentalität

  • Freiheit, Verschiedenheit und Toleranz sind die neuen Werte der postmodernen Mentalität
  • Postmoderne Freiheit bezieht sich vor allem auf die Entscheidungsfreiheit der Konsumenten
  • Wahlfreiheit von jedem ist jedoch stark eingeschränkt
  • Vor allem wenn die Bedürfnisse der Gemeinschaft in individuellen Erwerb übersetzt werden (Beispiel Umweltprobleme)
  • Für Verschiedenheit muss gekämpft werden
  • Insbesondere das Recht auf kommunale Verschiedenheit, welche auf einer gemeinschaftlichen gewählten und von der Gemeinschaft ermöglichten Lebensform beruht, muss das Ziel sein
  • „Neue Toleranz bedeutet Irrelevanz der kulturellen Wahl für die Stabilität der Herrschaft. Und Irrelevanz hat ihr Echo in Indifferenz“ (Bauman 2016: 432)
  • ►Toleranz in der vom Markt gelenkten Postmoderne führt zu Entfremdung
  • ►sie führt nicht zur Solidarität, sondern sie fragmentiert statt zu vereinen
  • ►Trägt zur Aufsplitterung der Gemeinschaft bei
  • Die befürworteten Werte und Mittel der Postmoderne verweisen auf die Politik (Demokratie, Staatsbürger) als einziges Mittel zur Verwirklichung
  • Die Politik hat die Chance die Gesellschaft nicht den Gesetzen des Marktes zu überlassen, sondern zu einer besseren Gesellschaft beizutragen
  • „alles, was an dem postmodernen Versprechen attraktiv ist, ruft nach mehr Politik, nach mehr politischem Engagement, nach mehr politischer Effektivität individuellen und kommunalen Handeln“ (Bauman 2016: 436)
Fragen
  • Wieso ist die Postmoderne ein Ort der Gelegenheit sowie gleichzeitig ein Ort der Gefahr (Bauman 2016: 413)?
  • Warum ist die einst als Gefahr angesehene Ambivalenz laut Bauman zu einer der Stützen der Postmoderne (Bauman 2016: 441) avanciert?

Literatur

Bauman, Zygmunt 2016 (1991): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. 3. Auflage der Neuausgabe von 2005. Hamburg. HIS.

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