Diskursivität in qualitativen Interviews: Methodische Herangehensweisen zu übergeordneten Diskurszusammenhängen

1 Einführung

In der empirischen Sozialforschung stehen sich die quantitativen und qualitativen Wissenschaftsfelder häufig in einer Auseinandersetzung über ihren Deutungsanspruch in der Gesellschaft und ihre Wertigkeit bei der Analyse sozialer Phänomene gegenüber. Eine Kombination beider Methoden ist vor allem unter der Voraussetzung denkbar, dass die qualitative Forschung explorativ zur Erforschung eines Feldes oder eines sozialen Phänomens eingesetzt wird, um anschließend in einer quantitativen Analyse zu repräsentativen Ergebnissen zu gelangen. Hieraus ergibt sich meist auch die Reihenfolge der Anwendung von qualitativen und quantitativen Untersuchungen. In der quantitativen Sozialforschung sollte die Grundgesamtheit bekannt sein, um eine repräsentative Stichprobenauswahl zu treffen und zu einem repräsentativen Ergebnis zu gelangen. Die Verteilung von Merkmalen in der Grundgesamtheit ist bei der qualitativen Forschung keine Voraussetzung, vielmehr kann die nähere Definition der Grundgesamtheit ein Ergebnis der Untersuchung darstellen. Zunächst werden anhand qualitativer Methoden Hypothesen generiert und Theorien entwickelt. Anhand quantitativer Methoden sollen die Hypothesen dann überprüft und Verallgemeinerbarkeit hergestellt werden.

Können der qualitativen Forschung durch ihren ihr zugeschriebenen, explorativen Charakter repräsentative Ergebnisse abgesprochen werden? Wie können die Stärken und Konzepte der qualitativen Methoden genutzt werden, um auch hier Generalisierbarkeit zu schaffen, die losgelöst von statistischer Repräsentativität zu betrachten ist?

Neben der Generierung von Theorien, Konzepten und der Bildung von Typiken bietet die Diskursivität gesellschaftlicher Themen einen Weg, um größere gesellschaftliche Zusammenhänge sichtbar zu machen. Die Diskursanalyse ist ein Beispiel, wie eine Brücke zwischen dem explorativen Charakter qualitativer Forschung und der Verallgemeinerung von Ergebnissen geschlagen werden kann.

In diesem Beitrag soll eine spezifische Anwendung der Diskursanalyse vorgestellt werden. Es geht darum, wie in qualitativen Interviews Zugriff auf Diskursivität möglich wird. Es soll der Frage nachgegangen werden, wie qualitative Interviews eingesetzt werden können, um Zugang zu gesellschaftlichen Diskurszusammenhängen zu erlangen und so verallgemeinerbare Aussagen treffen zu können. Im Folgenden wird gezeigt, welche spezifischen Methoden den Zugang zur Diskursivität in Interviews erleichtern und welche Auswertungsmethodik genutzt werden kann.

Um zu veranschaulichen, welche Bedeutung Diskurse für die Generierung verallgemeinerbarer Aussagen über gesellschaftliches Wissen und soziale Praxen haben, soll zunächst kurz auf die wissenssoziologische Diskursanalyse eingegangen werden.

2 Wissenssoziologische Diskursanalyse: Entstehungshintergrund und Anspruch

Zu Beginn der 1990er-Jahre hat sich in der Soziologie und in den Politikwissenschaften ein breites Interesse für Diskursforschung entwickelt. Hintergrund war die wichtiger werdende Wissenschafts- und Techniksoziologie sowie eine kritische Auseinandersetzung mit öffentlichen Diskussionsprozessen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Demgegenüber standen eher isoliert Diskursforschungen im Sinne Michel Foucaults, die das Verhältnis zwischen Diskurs, Macht und Wissen ins Zentrum rückten und wiederum sehr heterogene Herangehensweisen verfolgten. Die kritische Diskursanalyse wurde zu dieser Zeit noch kaum aufgegriffen. (vgl. Keller 2013: 12)

Mit der von Reiner Keller entwickelten wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) gelang eine Verbindung der Diskursforschung der Sozialwissenschaften der frühen 1990er-Jahre und der foucaultschen Vorgehensweise unter stärkerem Einbezug von Macht und Kämpfen um gültiges Wissen. „Die WDA wurde in diesem Kontext mit der dezidierten Absicht entwickelt, die von Michel Foucault aufgeworfenen Fragen nach dem Wissen bzw. den gesellschaftlichen Macht/Wissensregimen, den Kämpfen um Definitionsmacht, den darin entstehenden und eingesetzten Dispositiven, den sich daraus entfaltenden und dem zugrunde liegenden Strukturierungen von Teilnehmern und Aussageweisen im Blick zu behalten bzw. wieder in den Blick der Diskursforschung und der Wissenssoziologie zu nehmen.“ (Keller 2013: 12/13) Keller bezog sich hierfür auf den wissenssoziologischen Theorierahmen der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" von Berger und Luckmann. Er verbindet zwei Theorietraditionen, indem er die hermeneutische Wissenssoziologie (Sozialkonstruktivismus) mit der Diskurstheorie von Foucault verknüpft. Damit strebt Keller die Anschlussfähigkeit der Diskursforschung an gesamtgesellschaftliche Fragestellungen und Vorgehensweisen der Sozialwissenschaften an. Auch gesellschaftliche Konflikte und Spannungen um Wirklichkeitskonstruktionen und Situationsdefinitionen werden stärker in den Fokus gerückt. (vgl. ebd. 13) In der WDA erhält der Wissensbegriff eine zentrale Stellung. Die Vorstellung, dass Wirklichkeit immer eine diskursive Konstruktion darstellt, wird betont. In den Mittelpunkt gestellt wird auch die Funktion von Akteur*innen, die mit ihrem Sprachgebrauch und ihren Handlungen Diskurse (re)produzieren, strukturieren und verändern. (vgl. ebd. 13–14) Gleichermaßen strukturiert der Diskurs die Wahrnehmung und das Wissen der Individuen. Keller führt ein Akteurskonzept ein „mit dem soziale Akteure sowohl als diskursiv konstituierte wie als regelinterpretierend Handelndem als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden.“ (ders. 2011: 11)

Das Verhältnis von Diskurs und Individuum spielt auch in den Ausführungen von Siegried Jäger zur kritischen Diskursanalyse eine wichtige Rolle. Er schreibt: „Das Individuum macht den Diskurs nicht, eher ist das Umgekehrte der Fall.“ (Jäger 2006: 88) Im Gegensatz zu Keller sehen Jäger und Foucault das Individuum nicht als aktive Akteur*in im Diskurs. Die Beziehung zwischen Diskurs und Individuum ist asymmetrisch angelegt. Hier zeichnet sich ein deutliches Unterscheidungsmerkmal der WDA ab.

Zudem stellt die Interpretationsarbeit in der Diskursforschung einen wichtigen Schritt dar, zu der eine sozialwissenschaftliche Hermeneutik gehört (vgl. Keller 2013: 13-14). Die Interpretation muss über hermeneutisch reflektierte Vorgehensweisen erfolgen, dabei versteht sich die WDA als Form der Grounded Theory, durch die sie zur Selbstkontrolle fähig ist. (vgl. ders 2011: 12)

Das erste Grundkonzept zur wissenssoziologischen Diskursanalyse, das von Keller 2001 veröffentlicht wurde, stieß auf große Resonanz im deutschsprachigen Raum und wird bis heute in zahlreichen sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten als theoretische und methodische Grundlage herangezogen. (vgl. Keller 2013: 9) Auch in der Archäologie, der Kriminologie und den Sprachwissenschaften findet die WDA als Analyserahmen Anwendung.

3 Die Methode: Diskursivität in Interviews

In der qualitativen Forschung ist das Durchführen von Interviews zentrales Mittel der Erkenntnisgewinnung. Auch wenn Interviews besonders häufig zur Anwendung kommen, liegen hier in besonderem Maße auch die Probleme qualitativer Untersuchungen. Durch die genaue Transkription, Verschlagwortung, (evtl.) Codierung und die anschließende Interviewanalyse kann der Zeitaufwand für ein einziges qualitatives Interview enorm hoch sein. Der hohe Zeitumfang, der durch die ausführliche Auswertung entsteht, führt zu hohen Kosten. Infolgedessen können häufig nur wenige Interviews realisiert werden. Auch durch die niedrige Zahl an Interviews wird der qualitativen Forschung meist die Repräsentativität der Ergebnisse abgesprochen. Zu dieser Einschätzung kommt hinzu, dass die Interviewsituation häufig als formal und künstlich gilt. Situative Faktoren, wie Rollenerwartungen auf Seiten der Interviewführenden und der Befragten sowie Erwartungshaltungen auf Seiten der Forscher*innen, machen Äußerungen der Interviewten beeinflussbar. Letztlich gibt es zahlreiche Faktoren, weshalb qualitative Interviews als nicht verallgemeinerbar gelten. (vgl. Schneider 2002: 1–2)

Jens Schneider hat sich mit der Verbindung von Diskursivität und Repräsentativität in qualitativen Interviews auseinandergesetzt und zeigt, wie die genannten Nachteile unter bestimmten Bedingungen positiv nutzbar gemacht und sogar zu verallgemeinerbaren Ergebnissen führen können. „Voraussetzung dafür ist allerdings die besondere Berücksichtigung der Diskursivität des gewonnenen Datenmaterials und eine genaue Vorstellung dessen, was in Interviewsituationen kommunikativ auf und zwischen beiden Seiten passiert.“ (ebd. 3) Wenn auf die Kommunikation zwischen den Beteiligten ein besonderes Augenmerk gelegt wird und der diskursive Kontext der Thematik des Interviews sowie die Diskursstrategien der Befragten reflektiert und in die Analyse einbezogen werden, kann trotz des methodischen Problems der geringen Interviewzahl eine Repräsentativität der Ergebnisse erzielt werden.

Es stellt sich auch die methodische Frage, ob Gruppendiskussionen oder Einzelinterviews geeigneter für einen diskursiven Zugang sind. Die Erfassung diskursiver Formationen und sozialer Deutungsmuster erscheint durch Gruppendiskussionen mit natürlichen Gruppen möglich. Auf diese Weise können hauptsächlich diskursive Ordnungen erfasst werden, die in dieser speziellen Gruppe geteilt werden, darüber hinausgehende Diskurszusammenhänge sind schwer zu erfassen. Es handelt sich im Sinne Mannheims um konjunktive Erfahrungsräume, also um Gruppenmitglieder mit ähnlichen Erfahrungsräumen und sprachlichen Gemeinsamkeiten. Unterschiedliche Diskursstrategien und -ordnungen sowie Verschiedenheiten zwischen sozialen Gruppen treten in den Hintergrund. Der Zugang zu natürlichen Gruppen gestaltet sich oft schwierig. Einen weiteren Nachteil von Gruppendiskussionen stellt die geringe Steuerungsmöglichkeit von Seiten der Forschenden dar, die, wie in Abschnitt 4.2 dargestellt wird, wesentlich für die Methode des diskursiven Interviews ist. Insgesamt können Einzelinterviews als geeigneter beurteilt werden, da sie, neben Steuerungsmöglichkeiten, auch bei der Auswertung Vorteile bieten. (vgl. Ullrich 1999: 8–9) Einzelinterviews ermöglichen einen kontrastierenden Vergleich von diskursiven Aussagen, der zu einer „ganzheitlichen“ Erfassung von Diskursen verhilft.

3.1 Kommunikationsfaktoren im Interview

Da der Kommunikation in diskursiven Interviews eine besondere Rolle zukommt, sollen im Folgenden einige relevante Faktoren diskutiert werden, auf die in der Vorbereitung auf das Interview und in der Interviewsituation geachtet werden soll. Ein reflektierter Umgang mit der kommunikativen Situation nimmt dabei stets eine wichtige Position ein.

Zunächst ist zu beachten, dass mit der Interviewsituation spezifische Rollenerwartungen verknüpft sind. Von den Interviewführenden wird erwartet, Fragen zu stellen oder zumindest Denk- und Redeanstöße zu geben. Gleichzeitig ist hingegen Zurückhaltung und Passivität gefordert. Die Kontrolle der Situation liegt weitgehend auf der Seite der Forschenden. Die Befragten dagegen sind an die Fragen und die Interviewform gebunden. Sie stellen das „Untersuchungsobjekt“ dar, weshalb ihre Person und ihre Äußerungen im Mittelpunkt des Interesses stehen. (vgl. Schneider 2002: 3) Schneider beschreibt die Rollen im Interview deshalb als ungleich, aber symmetrisch. Es gebe keine Hierarchie zugunsten der Interviewführenden, sondern „eine Interaktion ‚auf gleicher Augenhöhe‘.“ (ebd.) Prinzipiell kann eine ausgeglichene Kommunikationsebene als förderlich angesehen werden. Die Interviewführenden sollten sich schon im Voraus Gedanken darüber machen, welche Art von Kommunikation und welche Kommunikationsebene förderlich für die Forschungsfrage sind. So kann eine persönliche Kommunikation abseits der eingenommenen Rollen wünschenswert sein, um eine vertraute Atmosphäre zu schaffen, aber auch gezielt vermieden werden, wenn formale Antworten gewünscht sind. (vgl. ebd.) Dabei muss reflektiert werden, ob eher persönliche oder offizielle (dienstliche) Äußerungen hervorgelockt werden sollen und welche Rolle soziale Erwünschtheit bei der Beantwortung der Fragen spielt. In Abschnitt 4.2 wird näher auf Befragungstechniken, Leitfadenkonstruktion und Fragestil eingegangen.

3.2 Diskursivität in qualitativen Interviews

„Der Diskurs ist […] eine Ordnung oder Formation von Aussagen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Raum strukturieren, oder anders ausgedrückt, der Diskurs ist ein regelgeleitetes System. Demnach sind Diskurse eine Menge von Aussagen, die demselben Formationsgebiet zugehören.“[1] (Fu-Berlin Glossar: Diskurs) Die an Foucault angelehnte Definition des Diskursbegriffs macht deutlich, dass es sich nicht einfach um einen spezifischen Gebrauch von Wörtern handelt, sondern dass es einer Formation und Verflechtung von Aussagen und Praxen bedarf, um soziale Strukturen zu produzieren, die bestimmen, was als Wahrheit, Realität, Normalität und was als Abweichung in einer Gesellschaft gilt. Es geht darum, wie durch Sprache die Wahrnehmung von Wirklichkeit zu einer bestimmten Zeit beeinflusst oder gar vorgegeben wird. Der Diskurs schreibt vor, was als sagbar gilt und was nicht gesagt werden darf. Auch welche Akteur*innen in welchem Kontext was sagen dürfen, ist durch die diskursive Praxis beeinflusst. (vgl. Keller 2011: 128) „Ein wesentliches Charakteristikum dieser diskursiven Formationen ist, dass sie auch unabhängig von speziellen situativen Zusammenhängen funktionieren“ (Schneider 2002: 6). Angesichts der Erfahrungsvielfalt der Individuen wäre die Kommunikation und ein gegenseitiges Verstehen in einer komplexen Gesellschaft ohne einen diskursiven Sprachgebrauch gar nicht möglich. Doch haben nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft den gleichen Zugang zu gesellschaftlichen Redeweisen. Es stellt sich die Frage, wer den Diskurs aktiv gestalten kann und wer ihn passiv übernimmt. Die Gestaltung des Diskurses bedeutet Macht und Einfluss auf gesellschaftliche Deutungsansprüche. Von Interesse sind folglich insbesondere sogenannte Diskurseliten, die den Sprachgebrauch bzw. Diskurs beeinflussen und strukturieren. (vgl. ebd.) Jens Schneider hat deshalb in seiner ersten Anwendung des diskursiven Interviews, einer Untersuchung zu nationaler Identität, Repräsentant*innen von Institutionen befragt, denen eine besonders große Wirkung auf Diskurse zugeschrieben wird. Er führte qualitative Interviews mit, wie er schreibt, „Meinungsmacher*innen“ aus der Politik- und Medienlandschaft in Berlin durch, also Journalist*innen und Politiker*innen.

Schneider stellt fest, dass die diskursiven Sprachanteile besonders hoch sind, wenn es sich um abstrakte Themen handelt, die wenig direkten Bezug zur alltäglichen Lebenswirklichkeit der Gesellschaftsmitglieder haben.[2] Bei abstrakten Inhalten dominieren häufig bestimmte Schlagworte bzw. diskursive Formationen die öffentliche Beschäftigung mit der Thematik. Dabei kommt es häufig zu einer ritualisierten Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, wodurch individuelle Formulierungen und Positionierungen erschwert werden. (vgl. ebd. 7)

Bei der Methode des diskursiven Interviews kann es deshalb sogar sinnvoll sein, dass die Interviewführenden bestimmte diskursiv gebrauchte Schlagworte vorgeben. Allerdings sollte das prinzipiell nur auf Basis von begründeten Vorüberlegungen geschehen und in der folgenden Interviewanalyse berücksichtigt werden. Die Intention der Verwendung und Einbindung von diskursiven Begriffen sollte durchdacht sein. Das alleinige Aufgreifen des Begriffs durch die Befragten kann nicht als Ergebnis gewertet werden. Von Interesse sind vielmehr Reaktion und Art der Anwendung des Schlagworts sowie der Gebrauch von Diskursstrategien durch die Interviewten. Es kann beispielsweise darauf geachtet werden, ob der eingebrachte Begriff wie selbstverständlich aufgegriffen und verwendet wird oder ob er kritisch hinterfragt und eventuell sogar in seiner inhaltlichen Aussagekraft angefochten und delegitimiert wird. Durch solche methodischen Überlegungen lässt sich beispielsweise die diskursive Gültigkeit von Sprechakten überprüfen. (vgl. ebd.)

Für die Methode des diskursiven Interviews ist ebenfalls die hegemoniale Kraft von diskursiven Formationen ein bedeutender Aspekt. Durch die bereits erwähnte ritualisierte Auseinandersetzung mit Themen in der gesellschaftlichen Debatte werden persönliche Positionierungen und individuelle Sprechweisen behindert. Durch die Dominanz diskursiver Systeme kommt es mitunter zu „verbaler Hilflosigkeit“ und einer „Diskrepanz zwischen Form und Inhalt“ (ebd. 9), dies kann teilweise durch eine fehlende Auseinandersetzung mit der Thematik bedingt sein. Eher ist bei dominanten diskursiven Ordnungen aber davon auszugehen, dass es sich um eine unbewusste Übernahme von Sprechweisen handelt. Auffällig wird die hegemoniale Kraft von Diskursen beispielsweise, wenn verwendete diskursive Formationen nicht mit der persönlichen Meinung oder der eigentlichen Intention des Gesagten übereinstimmen. Schneider stellt in seiner Untersuchung fest, dass es besonders bei politischen Positionierungen und Äußerungen zu Widersprüchlichkeiten zwischen Form und Inhalt kommt. Dies sei darauf zurückzuführen, dass „politische Standortbestimmungen […] vorrangig mit Hilfe von diskursiven Markierungen vorgenommen werden, die unabhängig von der jeweiligen persönlichen Auffassung funktionieren“ (ebd.).

Eine politische Position kann die Ausdrucksweise zusätzlich erschweren. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn spezifische (diskursive) Begriffe in bestimmten politischen Kreisen verwendet werden, es keine etablierte oder trainierte Wortwahl für andere (komplementäre) politische Position gibt und es sich um politisch sensible Themen handelt. (vgl. ebd. 10) Dementsprechend kann die diskursive Gültigkeit von Sprechweisen und die hegemoniale Kraft von diskursiven Ordnungen besonders gut mit Menschen aus dem politischen Feld untersucht werden.

Die Macht von Diskursen auf die individuelle Wahrnehmung von Wirklichkeit und die sich daraus ergebende Meinungsbildung wird auch deutlich, wenn man den Zusammenhang zwischen Diskurs und Kognition beleuchtet. Unsere Wahrnehmung wird durch Sprache und durch ein kulturell ansozialisiertes Bewertungssystem vorstrukturiert. Nur auf diese Weise können Menschen die Komplexität der Realität verarbeiten und alltägliche Erfahrungen einordnen. Die kognitive Vorstrukturierung bei der Wahrnehmung von Wirklichkeit führt auch dazu, dass wir eher wahrnehmen, was wir bereits kennen und einordnen können, und Dinge, die nicht in unsere Bewertungsschemata passen, gar ausblenden. (vgl. ebd. 13) „Diskurse […] sind Teil dieser komplexen, kulturell geprägten kognitiven Struktur, aber sie bilden auch ein ‚Feld strategischer Möglichkeiten‘ (Foucault), das den Individuen in der sozialen Praxis eine Variationsbreite möglicher sozialer, politischer oder kultureller Selbstpositionierungen anbietet […]“ (ebd.) Mitglieder der Gesellschaft können also durchaus als Akteur*innen gesehen werden, die Diskursstrategien innerhalb des Diskurses anwenden und sich zum Beispiel entlang der vorgegebenen Diskurslinien (politisch) positionieren. Eine strategische Macht über Diskurse ist dabei nicht gegeben. Diese bleiben vor allem diskursmächtigen Institutionen und Diskurseliten vorbehalten, bei denen auch Diskursstrategien zur Anwendung kommen, die Macht und Einfluss auf diskursive Formationen und somit auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit haben.

Ein bedeutender Aspekt für die Methode des diskursiven Interviews sind gerade die strukturellen Gemeinsamkeiten des Sprachverhaltens von Gruppen, die sich inhaltlich (Auswahl der Themen), semantisch (Zuweisung von Bedeutung) und paradigmatisch (Auswahl der Begrifflichkeiten) äußern können. Die Sprachpraxis von Individuen spiegelt strukturelle Eigenschaften einer Gruppe, Kultur oder Gesellschaft wider. Dies kann ein sehr bedeutender methodischer Zugang für Interviews sein, in denen der Blick auf die diskursiven Teile des Gesagten gerichtet sind, denn die strukturellen Eigenheiten der Gruppe sind damit in ihrer Gesamtheit für die sozialwissenschaftliche Analyse zugänglich. (vgl. ebd.) Schlüsse auf Gemeinsamkeiten von Gruppen sind folglich auch mit Einzelinterviews möglich, ohne dass dafür Gruppendiskussionen zum Einsatz kommen müssen.

4 Methodische Herangehensweisen zur Diskursivität in qualitativen Interviews

Das diskursive Interview stellt eine spezifische Methode der qualitativen Forschung dar, die die Generalisierbarkeit von qualitativen Interviewergebnissen gewährleisten soll. Gleichzeitig kann die Methode auch als ein Beitrag zur Diskursanalyse betrachtet werden. Es handelt sich also dahingehend um ein neues Verfahren, in dem aus qualitativen Interviews bekannte Techniken sowie neue Interviewformen und methodische Mittel zu einer neuartigen Forschungsmethode verbunden werden.

Da auch Elemente der Grounded Theory wie zum Beispiel das Theoretical Sampling oder die Fallkontrastierung, zum Einsatz kommen, bilden die einzelnen Forschungsphasen (Auswahl, Befragung und Auswertung) keinen linearen Prozess. Vielmehr werden sie in einem teilweise zirkulären Vorgang stringent aufeinander bezogen.

4.1 Auswahlverfahren

Prinzipiell sind diskursive Formationen über die Sprachpraxis jedes am Diskurs teilhabenden Individuums zugänglich. Genaue Überlegungen und vorab definierte Kriterien zur Auswahl der Befragten sind nichtsdestotrotz erforderlich. In der quantitativen Forschung wird die Repräsentativität eines Samples mathematisch bzw. aufgrund der Verteilung von Merkmalen begründet. In der qualitativen Forschung spielt vor allem die Position der Befragten im sozialen Feld eine wichtige Rolle bei der Auswahl. Auch wenn das Augenmerk in Interviews auf der Diskursivität liegt, spielt der perspektivische Zugang zum untersuchten Feld eine elementare Rolle. Es macht einen Unterschied, ob ein Feld vom Rand oder vom Zentrum aus untersucht wird. Repräsentativität ist insofern wichtig, dass das Auswahlobjekt für etwas Spezifisches steht und einen besonderen Forschungswert darstellen soll. (vgl. Schneider 2002: 14) Die Überlegungen zur Repräsentativität der Auswahl sind jedoch nicht mit der quantitativen Forschung vergleichbar, in der versucht wird, einen real nicht existenten Ideal- bzw. Durchschnittstyp zu kreieren. In der qualitativen Forschung muss sich an dem tatsächlich vorhandenen Typus orientiert werden, der spezifische Eigenschaften in besonderer Weise repräsentiert. Schneider greift das Konzept von John Bornemann auf und spricht von Prototypen, denen ein besonderer Vertretungsanspruch durch ihre Position im untersuchten Feld erwächst. Ein Prototyp muss dabei weder durchschnittlich, noch typisch sein. Je nach Erkenntnisinteresse kann ein Prototyp sich auch am Rand des untersuchten sozialen Felds befinden, da hier bestimmte Eigenschaften und Praktiken häufig besonders sichtbar werden. Auch Mechanismen und Praktiken des Wandels lassen sich eher am Rand eines sozialen Felds ausmachen. Je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse können Randpositionen ebenfalls interessant sein, um Zugehörigkeits- und Ausschlussmechanismen eines Felds zu entschlüsseln. (vgl. ebd. 15) „[Die] Position ist das Produkt bestimmter Strukturen, Beziehungen und Bedingungen“ (ebd. 15-16), denn jede Position existiert nur in Abhängigkeit zu anderen Positionen im sozialen Feld. Strukturen und Beziehungen des Felds werden durch die Fokussierung auf die soziale Position der Befragten für die Forschung zugänglich. „Die Auswahl der für eine Untersuchung herangezogenen Personen basiert also im Idealfall auf der genauen Definition des Blickwinkels und desjenigen Ausschnitts aus dem Feld, der im Zentrum der Analyse stehen soll.“ (ebd. 16) Es kann auch ein Prototyp in die Analyse einbezogen werden, der den definitorischen Mittelpunkt repräsentiert. Dieser kann insbesondere nützlich sein, um weitere Positionen im Feld einordnen zu können und Beziehungsaspekte zwischen mehreren Positionen zu beleuchten. Gewisse Personen sind zum Beispiel aufgrund ihrer Funktion in der Gruppe besonders als definitorischer Mittelpunkt geeignet. Die Vorauswahl sollte auch im Verlauf der Forschung immer wieder kritisch hinterfragt werden. (vgl. ebd.)

Sowohl Prototypen am Rand als auch in der Mitte des Felds können bei der Auswahl der Interviewpartner*innen herangezogen werden. Die Position der Interviewten im sozialen Feld sowie die Definition der Prototypen kann Ergebnis der Analyse sein. Soll die soziale Position jedoch auch Auswahlkriterium darstellen, kann es sich je nach zu untersuchendem Feld als schwierig erweisen, die Positionen im Voraus der Untersuchung zu kennen. Um einen Überblick über Rand- und Zentrumspositionen bei der Auswahl der Befragten zu gewinnen, kann die Methode des Theoretical Samplings zum Einsatz kommen. Vor Beginn der Erhebung können die Interviewten anhand theoretisch begründeter Kriterien ausgewählt werden. Nach der Vorgehensweise des Theoretical Samplings kann die weitere Auswahl dann während der Untersuchung ergänzt werden, sodass die Befragten, die nach theoretisch gewählten Kriterien bestimmt wurden, nur eine Eingangsauswahl darstellen, die im Forschungsprozess systematisch ergänzt wird. Die Methode des Theoretical Samplings ermöglicht, je nach Erkenntnisinteresse, sowohl eine vollständige Erfassung einzelner Diskursstränge als auch eine breite Erfassung des Diskurses durch das Ermitteln unterschiedlicher Diskursstränge innerhalb eines Diskurses. Durch das Theoretical Sampling bzw. die theoretische Sättigung wird eine hinreichend hohe Fallzahl gewährleistet, um bei der Auswertung einen fallkontrastierenden Vergleich vorzunehmen.

4.2 Fragestil und Befragungstechniken

Um den Zugang zu Diskursivität in qualitativen Interviews zu erleichtern, können spezifische Methoden bei der Erstellung des Interviewleitfadens sowie der Kommunikation im Interview zum Einsatz kommen. Bei der methodischen Konzeption des Interviews ist es sinnvoll, bestimmte Befragungstechniken anzuwenden. Eine starke Strukturierung des Interviewleitfadens ist sinnvoll, da es für diskursive Interviews erforderliche Steuerungs- und Evokationseingriffe ermöglicht. (vgl. Ullrich: 13)

Der Fragestil kann eher zu formalen oder zu persönlichen Antworten anregen. Dabei hat ein stark vorformulierter Leitfaden den Vorteil, dass Distanz und Nähe besser kontrolliert werden können. So kann zum Beispiel durch ein planmäßiges Duzen künstlich Nähe geschaffen werden, was zu persönlichen Antworten motiviert. In der Untersuchung von Jens Schneider stellte sich die Frage, ob die Interviewten in ihrer Position als Repräsentant*innen ihrer Institutionen oder als Privatperson befragt werden sollten. Mit beiden Rollen sind unterschiedliche Sprachpraxen und Ausdrucksformen verbunden. So wird als Privatperson beispielsweise weniger auf politische Korrektheit geachtet. Ein stark vorstrukturierter Fragebogen kann auch gezielt Schlagworte aus dem öffentlichen und politischen Diskurs beinhalten. Alltagsdiskursive Elemente können auf diese Weise gezielt in den Interviewleitfaden eingebaut werden. (vgl. Schneider: 3–5)

Gleichzeitig besteht in qualitativen Interviews das Interesse an möglichst viel Offenheit und Spontanität gegenüber den Aussagen der Befragten. Dadurch kann sich ein Spannungsverhältnis zwischen Strukturierungsnotwendigkeit auf der einen Seite und dem Bedürfnis nach Offenheit auf der anderen Seite ergeben. (vgl. Ullrich: 13) Auch in einem stark strukturierten Leitfaden können offene Fragen eingebaut werden, die eine aufgeschlossene Gesprächssituation erlauben und Offenheit gegenüber diskursiven Strategien und Kompetenzen der Befragten ermöglicht. Die Art der Interviewführung kann sich je nach Verlauf des Gesprächs und entsprechend der jeweiligen Interviewpartner*innen flexibel anpassen. (vgl. ebd.)

Selbstverständlich spielt auch in diskursiven Interviews soziale Erwünschtheit eine Rolle. Ein Problem kann die von den Befragten intendierte, „richtige“ Positionierung gegenüber den Forschenden innerhalb des Diskurses sein bzw. das Einnehmen eines Diskursstrangs oder die Angst, etwas Abwegiges, Falsches oder Abweichendes zu äußern. (vgl. ebd. 6) Besonders bei stark vorformulierten Fragebögen und der Einbeziehung von Schlagworten ist deshalb auf Neutralität und Offenheit gegenüber anderen Positionen zu achten.
Ein weiterer Vorteil eines stark formulierten Leitfadens ist die dadurch bestehende Möglichkeit zur Evokation von diskursiven Zusammenhängen und der Möglichkeit zu direkten Begründungsaufforderungen. Auch Konfrontationen der Befragten mit Widersprüchen in den gemachten Aussagen stellen so eine methodische Option dar. Gewöhnlich sind solch fordernde Fragen in qualitativen Interviews nicht vorgesehen. (vgl. Ullrich 1999: 11–12) Inwiefern diese Befragungstechniken sinnvoll sind, hängt vom Erkenntnisinteresse und der spezifischen Interviewsituation ab. Durch die hegemoniale Kraft diskursiver Sprachpraxis und dementsprechend fehlende individuelle oder politische Formulierungen kann es, wie bereits erwähnt, zu einer Diskrepanz zwischen Form und Inhalt kommen. Die Intention des Gesagten entspricht dann nicht dem durch den Diskurs festgelegten Sprachgebrauch. Zusätzliche geforderte Begründungen können beispielsweise methodisch sinnvoll sein, um fehlleitende Diskursstrategien von Diskurseliten aufzudecken.[3]

Nichtsdestotrotz sollten Begründungsaufforderungen nur sparsam verwendet werden. Es besteht die Gefahr, in eine Dauerdiskussion zu gleiten oder den Befragten das Gefühl zu geben, in einen Rechtfertigungsdruck zu geraten, der wiederum zu Antwortverweigerung oder zur Berücksichtigung sozialer Erwünschtheit der Antworten führen kann. Die Konfrontation mit Widersprüchen oder die Aufforderung zur Begründung der Aussagen sollten, wenn überhaupt, erst gegen Ende des Interviews eingesetzt werden, um von selbst kommende Begründungen nicht zu übergehen, die insgesamt als wertvoller und glaubwürdiger einzuschätzen sind. Voraussetzung für solche Befragungstechniken sollte in jedem Fall eine vertrauensvolle und konstruktive Gesprächsatmosphäre sein. (vgl. ebd. 18)

Im Folgenden sollen einige methodische Mittel vorgestellt werden, die die Wahrscheinlichkeit von Stellungnahmen und Begründungen (innerhalb eines Diskurses) erhöhen. Ullrich schlägt das Hineinversetzten in hypothetische Situationen vor. Die Befragten müssen sich in Situationen hineindenken und Entscheidungen und Beurteilungen treffen. Durch den Perspektivwechsel werden Widersprüche und Inkonsistenzen in den Begründungen deutlich. (vgl. ebd.)

Um ebenso Sichtweisen und Randpositionen zu ermitteln, die als heikel oder problematisch gelten und eher weniger kommuniziert werden, können sich Eingriffe durch die Interviewführenden als hilfreich, wenn nicht notwendig erweisen. Den Befragten sollte das Gefühl gegeben werden, dass auch vermeintlich sozial unerwünschte Sichtweisen ohne Umschweife geäußert werden sollen. Ullrich spricht hier von Persilscheinen. Allein der Hinweis auf die Besonderheit der Interviewsituation, die Neutralität der Interviewer*in sowie der Verweis, dass allein die Sichtweise der Befragten zählt, kann ausreichend sein. Darüber hinaus kann jedoch auch von Seiten der Forschenden betont werden, dass ihm spezifische Meinungen bekannt sind und geäußert werden können. Auch Suggestivfragen stellen eine Möglichkeit dar, um die Rahmenbedingungen für die Äußerung prekärer Sichtweisen zu verbessern. Methodische Mittel, wie diese, erfordern hohe Sensibilität der Interviewführenden sowie aktuelle Informationen und evtl. Erfahrungen aus anderen Interviews. (vgl. ebd. 18–19) Diese können im Prozess des Theoretical Samplings verfügbar werden.

Auch Konfrontationsfragen können zum Einsatz kommen. Neben der internen Konfrontation, in der Befragte auf Inkonsistenzen oder Widersprüche in ihren Darstellungen aufmerksam gemacht werden, sind vor allem externe Konfrontationen ein weiteres Mittel zur Generierung von diskursiven Meinungen und Stellungnahmen. Hierbei werden die Befragten mit alternativen Sichtweisen konfrontiert. Diese vorgetragenen Einstellungen oder Verhaltensweisen können vor allem in ihren Begründungen im Widerspruch mit den zuvor im Interview geäußerten stehen. Externe Konfrontationen ermöglichen überdies, diskursiv relevante Aspekte einzuführen, die sonst unberührt geblieben wären. Beim Einsatz dieser Befragungstechnik sollte darauf geachtet werden, dass die angebotenen Alternativen nicht als Meinung der Interviewführenden oder als besonders wertvoll oder richtig dargestellt werden. (vgl. ebd. 19/20)

Es ist wünschenswert, dass ein Leitfaden während der Befragungen weitgehend gleich bleibt, weshalb die Überprüfung der Fragen vor Beginn der eigentlichen Interviewphase sehr intensiv sein sollte, dies kann zum Beispiel in Form von Pretests realisiert werden. Nichtsdestotrotz ist die Überprüfung der Fragen und Stimuli niemals völlig abgeschlossen. Die Anpassung des Fragebogens ist ein permanenter, forschungsbegleitender Prozess. (vgl. ebd. 21) Vor allem der Einsatz der gerade ausgeführten Befragungstechniken erfordert eine besonders eingehende Überprüfung und unter Umständen häufige Modifikation, bis gut verwendbare Formulierungen gefunden werden, die nicht oder erheblich weniger zu den genannten Gefahren und Problemen dieser Interviewmethoden führen.

Mit den erläuterten Befragungstechniken, der hypothetischen Situation, Persilscheinen, Suggestivfragen sowie den internen und externen Konfrontationen ergibt sich ein breites Instrumentarium zur Generierung von diskursiven Formationen. Obwohl die meisten dieser methodischen Mittel in vielen anderen qualitativen Interviewverfahren abgelehnt werden oder gar als Interviewfehler gelten, sind sie für das diskursive Interview legitim, teils gar von zentraler Bedeutung. Da es nicht um die Ermittlung subjektiver Sichtweisen geht, sondern um einen größeren diskursiven Zusammenhang, sind solche Verfahren zulässig. (vgl. ebd. 20) Selbstverständlich muss die Notwendig der Anwendung solcher Methoden immer einer kritischen Analyse standhalten. Alle genannten Befragungstechniken müssen zu jeder Zeit zielgerichtet und kontrolliert eingesetzt werden und vor allem in die Analyse der Ergebnisse einbezogen werden.

4.3 Auswertungstechniken

Nachdem einige spezifische methodische Mittel für das Auswahlverfahren, die Leitfadenkonstruktion und Befragungstechniken bei diskursiven Interviews dargelegt wurden, sollen in diesem Abschnitt Vorschläge für Auswertungsmethoden besprochen werden. Diese werden in ihrer genauen Vorgehensweise in diesem Beitrag jedoch nur angeschnitten.

Wie im Abschnitt 3.1 erläutert wurde, spielen Kommunikationsfaktoren gerade in diskursiven Interviews eine wichtige Rolle. Welches Erkenntnisinteresse der Forschung zugrunde liegt, ist entscheidend für die Kommunikationsebene, die angestrebt wird. Ein reflektierter Umgang mit der kommunikativen Situation im Interview hat nicht nur vor und während der Befragung eine zentrale Bedeutung, auch bei der Auswertung ist eine Reflexion der Kommunikationsfaktoren essenziell. Schneider schlägt vor, diese beispielsweise in Form nachträglicher Gewichtungen oder Ergänzungen in das Interview zu integrieren.

Um die Bandbreite diskursiver Praxen zu erfassen, können fallkontrastive Verfahren zum Einsatz kommen. Die Technik der minimalen und maximalen Kontrastierung – eine Strategie, die ebenso in der Grounded Theory zur Anwendung kommt – kann auch bei der Auswertung diskursiver Interviews nützlich sein, um besonders gebräuchliche diskursive Formationen zu erkennen und einen Diskurs möglichst vollständig abzubilden. Die minimale Kontrastierung dient dazu, Konstanten in diskursiven Formationen auszumachen und typische diskursive Sprachpraxen bestätigen zu können. Die maximale Kontrastierung hingegen sorgt dafür, dass möglichst das gesamte Spektrum der Formationen eines Diskurses deutlich wird. Bei der Auswahl des Samples wurden verschiedene Varianten des Prototyps vorgestellt, die aufgrund ihrer Position im sozialen Feld für die Untersuchung gewählt werden. Das Kriterium der Position im Feld kann auch für das Verfahren der minimalen und maximalen Fallkontrastierung sehr hilfreich sein, da die Bandbreite diskursiver Praxen durch die Einbeziehung von Rand- und Zentrumspositionen umfassend abgedeckt werden kann.

Ein weiterer Schritt zur Auswertung der diskursiven Interviews kann die Entwicklung einer Typologie von Diskurssträngen darstellen. Die Diskursstränge ergeben sich aus den einzelnen Diskursfragmenten der Interviews. Durch die minimale Kontrastierung können die einzelnen Diskursfragmente ermittelt werden. Um die unterschiedlichen Stränge eines Diskurses abzubilden, kann die maximale Kontrastierung zum Einsatz kommen. In einer breit angelegten Studie kann das Ziel sein, einen spezifischen Diskurs vollständig abzubilden, indem die verschiedenen Diskursstränge eines Diskurses dargestellt werden. Aber auch die vollständige Erfassung eines Diskursstrangs innerhalb eines größeren, öffentlichen Diskurses kann bereits das Erkenntnisinteresse der Untersuchung sein.

5 Schlussfolgerung und Fazit: Verallgemeinerbare Aussagen treffen durch den Bezug auf diskursive Zusammenhänge in qualitativen Interviews

Interviewsituationen sind in hohem Maß kontextuell, individuell und intersubjektiv. Dennoch zeigen sich in den Interviewäußerungen im Allgemeinen drei diskursive Referenzpunkte: „[der] Erfahrungshintergrund der Interviewten, [der] aktuell[e] weiter[e] politisch-gesellschaftlich[e] und diskursiv[e] Kontext sowie die Strategie der diskursiven Selbstpositionierung.“ (Schneider 2002: 18) Dabei verweisen die Sprachpraxis, die Bestätigung oder Delegitimierung der im Interview gegebenen diskursiven Vorgaben (z.B. Schlagworte) durch die Interviewten und die verwendeten Diskursstrategien auf einen größeren diskursiv-gesellschaftlichen Zusammenhang. Im Sprachgebrauch und in diskursiven Strategien werden allgemeine Diskurskonventionen und -regeln und daher auch wesentliche Strukturmerkmale der Gesellschaft abgebildet. (vgl. ebd.) Der Schluss auf verallgemeinerbare Aussagen durch den Fokus auf die Diskursivität in Interviews wird besonders plausibel durch das Verhältnis von Individuum und Diskurs. Das Subjekt ist in seinem Wissen, Denken und Handeln immer durch den Diskurs strukturiert und beeinflusst. Insofern sind von Befragten geäußerte diskursive Formationen und diskursive Sprachpraxis immer auch überindividuell. Durch die Anwendung verschiedener methodischer Mittel, die gesellschaftliche Diskurszusammenhänge in qualitativen Einzelinterviews erkennbar machen, werden folglich generalisierbare Forschungsergebnisse möglich.

Häufig ist die Variationsbreite der gemachten Äußerungen zu einem öffentlichen Diskurs eher gering. Dies lässt auf die hegemoniale Macht von diskursiven Formationen schließen, die nur zu einer kleinen Anzahl von etablierten Ausdrucksweisen führt. Auch sind die diskursstrukturierenden Merkmale häufig sehr begrenzt (vgl. ebd. 17–18) und von einer Binarität gekennzeichnet.[4] Schneider stellt bei seiner Anwendung des diskursiven Interviews außerdem fest, dass Kommunikationsfaktoren, wie Nähe oder Distanz, zwar Einfluss auf die Gesprächsatmosphäre und die Offenheit der Interviewten hat, aber weniger auf die verwendeten diskursiven Formationen. In seiner Untersuchung hat weder die Diversität der Interviewsituation noch das breite politische Spektrum und Tätigkeitsfeld der Befragten zu einer großen Variation diskursiver Elemente geführt. Auch bei einer relativ geringen Anzahl von Interviews sind deshalb verallgemeinerbare Aussagen möglich, die über den eingeschränkten Kreis der Interviewten hinausweisen. (vgl. ebd.)

Durch den Fokus auf diskursive Bezüge in Interviews fallen viele methodische Herausforderungen qualitativer Befragungen weg. Meist ist die Authentizität von Erzählungen und Stellungnahmen ein wichtiger Bestandteil in der qualitativen Forschung. In diskursiven Interviews hingegen haben die Befragten die Funktion von Informanten über die soziale Konstruktion von Wirklichkeit und die bedeutungsgebenden Praktiken in einer Gesellschaft. Ihre tatsächlichen Erfahrungen und Meinungen sind folglich nicht von großer Bedeutung, weshalb es eine nachgeordnete Rolle spielt, ob die Erzählungen authentisch und damit valide sind. (vgl. Ullrich 1999: 28) Von Interesse ist vor allem die Kommunizierbarkeit von diskursiven Formationen. Da diese Schlüsse auf gesellschaftliche Konflikte um Wirklichkeitskonstruktionen und Wissensregime zulässt.

Mit den teils für die qualitative Forschung eingesetzten unkonventionellen methodischen Mitteln, wie einem stark vorstrukturierten Fragebogen sowie Befragungstechniken wie Begründungsaufforderungen oder internen und externen Konfrontationen, soll die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit und gesellschaftlich als gültig und legitim bewertetem Wissen eingefangen werden. Es handelt sich beim Erkenntnisinteresse der diskursiven Interviews folglich um gesamtgesellschaftliche Phänomene, was die Überindividualität oder gar Allgemeingültigkeit der Forschungsergebnisse bestätigt.

 

6 Exkurs: Diskussion zum Begriff der Repräsentativität in der qualitativen Forschung

Das Konzept der Repräsentativität von Ergebnissen wird in den Sozialwissenschaften sehr deutlich der quantitativen Forschung zugeordnet. Der qualitativen Forschung wird in der Regel lediglich ein explorativer Charakter attestiert. Die Methode der diskursiven Interviews ist ein Beispiel dafür, dass es auch in der qualitativen Forschung zu generalisierenden Ergebnissen kommen kann. In diesem Exkurs zur Begrifflichkeit der Repräsentativität soll erörtert werden, ob diese unzulängliche Zuschreibung des Erkenntnisgewinns der Ergebnisse der qualitativen und quantitativen Forschung mit dem Gebrauch und der Attribution des Begriffs zusammenhängt und ob eine neue Begrifflichkeit für die qualitative Forschung wünschenswert ist.

Der Repräsentativitätsbegriff wird eng mit der Verteilung von Merkmalen in der Grundgesamtheit in Verbindung gebracht, deren Kenntnis in der quantitativen Forschung eine Voraussetzung für möglichst repräsentative Ergebnisse darstellt. Hans Merkens betont, dass, während in vielen quantitativen Untersuchungen statistische Repräsentativität angestrebt wird, in der qualitativen Forschung vielmehr eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse Ziel ist. Handelt es sich bei der Auswahl des Samples bei quantitativen Untersuchungen um ein methodisches Problem, ist die Auswahl in der qualitativen Forschung dagegen eine inhaltlich-interpretative Frage. Es geht nicht um die Merkmalsverteilung in der Grundgesamtheit, sondern um die Bestimmung von Typiken des untersuchten Gegenstands, die eine Übertragbarkeit auf andere Gegenstände gewährleisten. (vgl. Merkens 2000: 291–292) Die Typenbildung, die ein Ergebnis(prozess) qualitativer Untersuchungen darstellt, ist ein weiteres Beispiel, wie über den Forschungsgegenstand hinausgehende Aussagen getroffen werden können.

Anstatt Repräsentativität könnten in der qualitativen Forschung also Begriffe wie Generalisierbarkeit oder Konzeptionelle Repräsentativität.[5] eingesetzt werden, da sich die Verallgemeinerbarkeit nicht auf Merkmale, sondern auf Konzepte, Typen oder diskursive Äußerungen stützt.
Ob die Verwendung eines neuen Begriffs erstrebenswert ist, muss jedoch kritisch hinterfragt werden, denn mit dem Begriff der Repräsentativität wird im Feld der Sozialwissenschaft bereits so etwas wie „Wahrheit“ und „Gültigkeit“ verknüpft. Auch die Wertigkeit sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in der Gesellschaft wird stark an die „Repräsentativität“ der Ergebnisse und damit gleichzeitig an diesen Begriff gekoppelt. Dies zeigt sich ebenso an der Medienwirksamkeit und der gesellschaftlichen Relevanzzuschreibung von qualitativen und quantitativen Erkenntnissen. Sollte das Ziel die Verwendung eines neuen Begriffs sein, würde das auch bedeuten, dass die qualitative Forschung einen mit Anerkennung und Wertigkeit verbundenen Begriff der Statistik überlässt. Mit der gesellschaftlichen Wertigkeit des Begriffs der Repräsentativität ist nicht nur ideelles Ansehen verbunden, sondern damit einhergehend auch die Akquirierung von Forschungsgeldern. Gleichzeitig stellt sich also die Frage, wie man einen neuen Begriff im wissenschaftlichen Forschungsfeld und auch im öffentlichen Diskurs etabliert.

Trotz der mit einem neu zu etablierenden Begriff einhergehenden Schwierigkeiten ist „Repräsentativität“ für die qualitative Forschung mit einer Problematik belegt, die zumindest ebenso schwerwiegen kann wie die genannten Nachteile eines neuen Begriffs. Die Aneignung des Begriffs durch das qualitative Forschungsfeld gestaltet sich problematisch, da Repräsentativität weniger mit Konzepten, Typiken oder Diskursen verknüpft wird als mit Zahlen und Statistiken. Naturwissenschaften werden mit Zahlen assoziiert und haben
gegenüber den Sozialwissenschaften eine vorteilhaftere und anerkanntere Stellung in der Gesellschaft, was dazu führt, dass Ergebnissen, die sich in Zahlen ausdrücken lassen, gesellschaftlich eine positivere Wertung und anerkanntere Position zukommt. Folglich ist davon auszugehen, dass der Begriff von der sozialwissenschaftlichen Statistik angeeignet ist und ihr in einem Maß zugeordnet wird, wie es der qualitativen Forschung nicht möglich ist. Die Etablierung eines anderen Begriffs in der qualitativen Forschung, für auf eine spezifische Weise verallgemeinerbare Ergebnisse, kann sich also trotz der genannten Nachteile als konstruktiv und vorteilhaft, wenn nicht notwendig erweisen.

7 Literatur

Berger, Peter L. & Luckmann, Thomas (2000): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie. 17. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl.
 
Bourdieu, Pierre & Johnson, Randal  (1993): The field of cultural production: Essays on art and literature. New York: Columbia University Press.
 
Bourdieu, Pierre & Schmid, Roswitha (2001): Das politische Feld: Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz: UVK.
 
Carsten G. Ullrich (1999): Deutungsmusteranalyse und diskursives Interview. Leitfadenkonstruktion, Interviewführung und Typenbildung. Arbeitspapiere -Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (3).
 
Flick, Uwe (Hg.) (2013): Qualitative Forschung: Ein Handbuch. Orig.-ausg., 10. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
 
Foucault, Michel (1990): Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Glaser, Barney G. & Strauss, Anselm L. (2010): Grounded Theory. Strategien qualitativer Sozialforschung. Bern: Verlag Hans Huber

Jäger, Siegfried (2006): Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Keller (Hg.) Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse. Bd. 1. S. 83–114. Wiesbaden: VS-Verlag.
 
Jäger, Siegfried (2007): In der Falle der Synthetisierung von Diskursanalyse und soziologischer Feldtheorie: Review Essay: Diskursstrategien im Rechtspopulismus. Freiheitliche Partei Österreichs und Schweizerische Volkspartei zwischen Opposition und Regierungsbeteiligung. Volume 8, No. 2, Art. 7 – Mai 2007. URL: http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/rt/printerFriendly/260/571.
 
Jens Schneider (2002):  Vom Persönlichen zum Allgemeinen: Diskursivität und Repräsentativität in Interviews. Forum qualitative Sozialforschung(3).
 
Keller, Reiner (2011): Diskursforschung: Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. 4. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag
 
Keller, Reiner (2011): Wissenssoziologische Diskursanalyse: Grundlegung eines Forschungsprogramms. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag
 
Keller, Reiner & Truschkat, Inga (2013) Methodologie und Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse: Band 1: Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag

Internetquellen:

Freie Universität Berlin: Literaturtheorien im Netz. Glossar: Diskurs. URL: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/littheo/glossar/diskurs.html (Online abgerufen am: 10.3.2016)

[1] URL: http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/littheo/glossar/diskurs.html Abgerufen am: 10.03.2016
[2] Wie beispielsweise in seiner Untersuchung zur nationalen/deutschen Identität.
[3] Beispiel: Verwendung des Begriffs Flüchtlingsproblematik oder Flüchtlingskrise, obwohl der Zustrom von Migrant*innen nicht als Krise oder Problem gesehen wird.
[4] Beispielsweise politische Positionierungen auf einer Rechts-links-, Liberal-konservativ-Skala.
[5] Ein Begriff eingeführt von Jörg Strübing im Kontext der Grounded Theory.
Strübing, Jörg (2014): Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung eines pragmatischen Forschungsstils. 3. Auflage. Wiesbaden: Springer (epub-Format) (abrufbar über den UB-Zugang unter http://link.springer.com.ezproxy.ub.uni-freiburg.de/book/10.1007%2F978-3-531-19897-2)