In dieser Einleitung gehen wir den verschiedenen Facetten der Positionalität weiter nach. Positionalität bringt uns dabei zu verschiedenen Fragestellungen und Theorien, die zentrale Aspekte des Konzepts formulieren, Differenzierungen aufzeigen und mitunter auch Abgrenzungspole darstellen. Ziel ist dabei nicht, ein abgeschlossenes und starres Bild der Schwarzen und feministischen Wissenschaftskritik vorzuführen, sondern vielmehr, eine Art Reiseroute durch dieses aktuelle und immer noch dynamisch ausgehandelte Terrain vorzustellen, die zur Auseinandersetzung mit ein paar Wegpunkten in den Debatten einlädt.
Anfang der 70er Jahre ist die Annahme, dass wissenschaftliche Ergebnisse als objektiv gesehen werden, und das damit verbundene Ideal der Aperspektivität zunehmend in Kritik geraten. Dem Positivismusstreit, der maßgeblich von Karl Popper und Theodor W. Adorno geführt wurde, folgte eine Grundsatzdebatte über die Bedeutung der Wissenssoziologie und des Leitmotivs der Objektivität. Eine konstruktivistische Wende fand statt. Diese brachte die Erkenntnis, dass jedes Wissen beobachterabhängig und somit subjektiv ist. Wenn Wissensproduktion als völlig werteunabhängig und unpolitisch dargestellt wird, gerät die Machtstruktur, in der jegliche Aushandlung von Wissen eingebettet ist, aus dem Blick. Damit werden bestehende Zustände und in ihnen eingeschriebene patriarchische und rassistische Strukturen aufrechterhalten. Die Diskussion unter (feministischen) Wissenschaftler:innen um Objektivität in der Wissenschaft ist aktueller denn je. Brauchen wir ein verändertes Objektivitätsverständnis oder ist die Vorstellung von Objektivität schon längst überholt und somit obsolet? Um den Begriff der Objektivität haben sich im Laufe der Jahre verschiedene Konzepte gebildet. Die klassische Sicht auf Objektivität lässt sich verschiedenen feministischen Perspektiven und Konzepten, wie Evelyn Fox Kellers "Dynamischer Objektivität" und Sandra Hardings "Strong Objectivity" gegenüberstellen.
Eine Theorie, die besonderen Wert auf Positionalität legt, ist die Feministische Standpunkttheorie. Der Bezeichnung entsprechend, stellt diese Theorie den jeweiligen Standpunkt des forschenden Subjekts in den Vordergrund, und betrachtet seine körpergebundene wie soziale Position in gesellschaftlichen Machtstrukturen. Als Schlüsselfigur dieser Theorie wird Sandra Harding betrachtet, doch spielen auch andere Denker:innen eine wichtige Rolle. So erhielt sie zum Beispiel wichtige Impulse aus Donna Haraways Konzept des Situierten Wissens. Das Konzept sieht demnach vor, dass Situiertes Wissen immer lokal begrenzt ist und nie für alle Menschen sprechen kann. Dies hängt mit den erhobenen Wahrheitsansprüchen zusammen, die immer bedingt sind durch den Zusammenhang zwischen Wissenschaft, Gesellschaft, Ethik und Politik. Dass die Standpunkttheorie deshalb keineswegs ein eindimensionales und starres Konzept ist, sondern vielmehr verschiedene, teilweise auch einander widersprechende, Ansätze umfasst, zeigt die Debatte zwischen Susan Hekman und Dorothy E. Smith.
Eine Annahme der Standpunkttheorie, der auch jenseits interner Debatten kritisiert wurde, ist, dass marginalisierte Personen, also Menschen, die in der Gesellschaft diskriminiert werden, eine geeignetere Perspektive zur Wissensproduktion hätten als Menschen, die keine Diskriminierungserfahrungen machen. Denn letztere würden nicht durch eigene Erfahrung auf die Machtstrukturen aufmerksam, die auch ihre Vorannahmen, Forschungsinteressen sowie die Institutionen, in denen sie arbeiten, beeinflussten. Zweifellos hat es emanzipatorisches Potenzial, marginalisierten Standpunkten epistemische Privilegien zuzusprechen, doch birgt es auch Gefahren, worauf Bat-Ami Bar On und Dick Pels aufmerksam machen. Zum einen wird dabei ein Verständnis komplexer und unterschiedlicher Diskriminierungsformen zugunsten eines eindimensionalen Modells von Zentrum (nicht diskriminiert) und Peripherie (je weiter außen, desto diskriminierter) reduziert. Zum anderen läuft die Theorie damit Gefahr, Marginalisierte zu idealisieren, und damit über ihre Diskriminierung zu definieren. Letztlich werden damit also genau die diskriminierenden Kategorien bestätigt, die es abzuschaffen gelte. Die Kritik förderte die Entwicklung alternativer emanzipatorischer Konzepte, wie der epistemischen Autorität (Marianne Janack).
Positionalität von Wissen zeigt sich auch in ganz praktischen Bereichen und ist keinesfalls auf einen theoretischen Bereich beschränkt. Sowie es nicht den einen Feminismus gibt, so gibt es auch nicht den einen Weg, sich seines Standpunktes bewusstzuwerden. Feministische Ansichten haben den Diskurs um die Objektivität von Wissen grundlegend verändert. Doch zu leicht lässt sich daraus schließen, dass es die eine feministische Ansicht gibt, oder dass sich feministische Ansichten grundsätzlich miteinander vereinbaren lassen. So ist es jedoch nicht. Berücksichtigt man die Intersektionalität, also das Zusammenwirken von mehreren Unterdrückungsmechanismen, wird deutlich, dass unterschiedliche Feminismen gegen unterschiedliche Unterdrückungsformen ankämpfen. Es ist also nicht selten, dass feministische Ansichten sich unterscheiden oder gar gegenteilig sind. Um dieser Tatsache entgegenzuwirken gibt es die Idee einer transnationalen feministischen Solidarität. Hierbei handelt es sich um ein theoretisch fundiertes Konzept und nicht nur einen Aufruf zur Solidarität. Doch muss man sich hier die Frage stellen, inwiefern es wirklich sinnvoll ist, dass alle Feminist:innen sich untereinander solidarisch miteinander zeigen. Denn wie das combahee river collective deutlich macht, gibt es den einen, geeinten Kampf aller Frauen* gegen das Patriachart nicht. Das Kollektiv adressiert dabei auch Rassismus in weißen feministischen Bewegungen (vgl. The Combahee River Collective, p.371). Dies ist eine der Erklärungen für den Bedarf einer Black Feminist Epistemology. Schon 1990 hat Patricia Hill Collins dargestellt, wie die bestehenden Strukturen in der Wissenschaft das Wissen Schwarzer Frauen ausblendet. Sie plädiert deshalb für die emanzipatorische Produktion eines Wissens, das die Position Schwarzer Frauen als Ausgangspunkt nimmt, und damit in der Lage ist, ihre Lebensumstände zu beschreiben.
Auch der Datenfeminismus ist ein intersektionaler Ansatz, auch wenn es dort noch viele offene Fragen gibt, die es weiter zu erforschen gilt. Eine Welt ohne Datenerfassung und Datenverarbeitung ist nicht mehr vorstellbar und somit ist dies auch ein ganz praktischer Bereich, mit dem man sich auseinandersetzen kann und muss, wenn man sich mit Positionalität auseinandersetzt. Daten haben eine Macht, mit der es sich heute Wahlen gewinnen lässt. Dieser Macht muss man sich bewusst sein. Data Feminist:innen wollen aufdecken, inwiefern Datenerfassung und Datenerhebung zwar häufig objektiv und neutral erscheinen, obwohl sie menschengemacht sind und durch die Situiertheit der sie verarbeitenden Menschen keine Objektivität erreicht werden kann.
Nach diesem ersten Überblick über die Reiseroute laden die unterschiedlichen Wikis mit ihren thematischen Schwerpunkten ein, an verschiedenen Abzweigungen anzuhalten, Seitenwege kennenzulernen und die Debattenlandschaft aus verschieden Perspektiven heraus zu betrachten. Wir hoffen, dass die Einleitung Interesse für die verschiedenen Facetten der Positionalität geweckt hat und empfehlen, mithilfe der im Text verlinkten und unten noch einmal aufgelisteten Wikis noch tiefer in die Thematik einzutauchen.
Wir wünschen eine gute Reise!
Wikis mit thematischen Schwerpunkten
Themenübergreifende Wikis
The Combahee River Collective (1979): A Black Feminist Statement, in: Zillah R. Eisensetein (Hg.): Capitalist Patriarchy and the case for Socialist feminism, New York. Monthly Review Pr (Women ́ s studies, political science), p. 362–372.