Inhaltsverzeichnis
UNSER WISSEN
EIN BLICK AUF UNSERE WISSENSSTRUKTUREN, DEREN URPRUNG UND DEREN ENTGRENZTE ERWEITERUNG
Data Feminism und Wissen
In ihrem Buch Data Feminism beschäftigen sich Lauren Klein und Catherine D’Ignazio vor allem mit Datenarbeit, Wissen und Wissenschaft und wie sich der Blick auf bzw. die Arbeit mit Daten und Wissen(schaft) durch Data Feminism verändern lässt. Unter dem Konzept verstehen sie „a way of thinking about data, both their uses and their limits, that is informed by direct experience, by a commitment to action, and by intersectional feminist thought”1) (D'Ignazio/ Klein 2020: 8) und sie betonen, dass „Data feminism is about power, about who has it and who doesn't, and about how those differentials of power can be challenged and changed using data”2) (D'Ignazio/ Klein 2020: 19). Zentral sind demnach vor allem Macht, Machtverhältnisse und Machtungleichheiten sowie deren Auswirkung auf Datenerhebung, Datenauswertung, Datendarstellung und die Frage, wie sich eine (Re)Produktion von ungleichen Machtverhältnissen in der Datenarbeit erkennen, verkleinern und unterbinden lässt. Diese Art des Umgangs mit Daten3) bezieht sich nicht nur auf den akademischen Kontext, sondern auch auf den Aktivismus bzw. konkrete Handlungen.
Im Kapitel On Rational, Scientific, Objective Viewpoints from Mythical, Imaginary, Impossible Standpoints4) geht es zum einen um die Begriffe der Objektivität, Neutralität, Perspektiven und den des Standpunktes, zum anderen um das Prinzip Elevate Emotion and Embodiment, also Gefühle und Verkörperung bzw. Ausgestaltung in der Datendarstellung aufzuwerten und auszuweiten. Bei ihren Ausführungen über fragwürdige Objektivität, schwer greifbare Neutralität, unmögliche Standpunkte und vielfältige Perspektiven beschäftigen sich die Autorinnen auch mit neuen Wissensbegriffen und kreativer Daten-Darstellung. Letztere Punkte werden in diesem Wiki eingehender beleuchtet.
Ich und Wir
Zunächst folgt ein Abschnitt über meine Perspektive; meine Ich-Perspektive. Ich - damit beziehe ich mich auf mich als Autor*in des Wikis. Ich empfinde diese Einordnung als notwendig, um sichtbar zu machen, aus welcher Perspektive und mit welchem Wissen das Wiki verfasst ist. Die Einordnung stellt außerdem für mich selbst ein Mittel der Bewusstmachung dar; eine Bewusstmachung meines Standpunktes und meiner Perspektive. Es erweist sich mir als unmöglich letztere bis ins kleinste Detail zu definieren. Darüber hinaus erachte ich Kategorisierungen teilweise als problematisch und sehe die Notwendigkeit sie kritisch zu betrachten, werde für dieses Wiki dennoch darauf zurückgreifen. Sehr zu empfehlen ist in diesem Zuge das Wiki über Klassifikationssysteme. Durch das Reflektieren meiner Perspektive eröffnet sich für mich die Möglichkeit, die Grenzen meines Wissens und meines Blickes wahrzunehmen und sie bewusst zu hinterfragen sowie sie zu überschreiten.
Meinen Standpunkt bis ins kleinste Detail festzulegen ist für mein Wiki nicht notwendig. Das Thema ist vorrangig Wissen und für meinen Blick darauf spielt es meiner Ansicht nach vor allem eine Rolle, dass ich eine weiße5), deutsche und in Deutschland aufgewachsene, nicht-behinderte, Gender Studies studierende, Person bin, die in der oberen Mittelschicht aufgewachsen ist. All das beeinflusst meinen Blick auf Wissen und Wissenschaft sowie auch das Wissen, das ich habe, erheblich. Mit meinem dadurch angesammelten Wissen, das ich hier nicht näher zusammenfassen kann, schreibe ich das Wiki und versuche es auch für Personen, die anderes Wissen bzw. durch andere Kontexte geprägtes Wissen haben, zugänglich und verständlich zu gestalten. Anders gesagt: Mein Ziel ist es, das Wiki so barrierefrei zu verfassen, dass nicht nur ich es verstehe.
Im Folgenden werde ich nicht nur von meinem Wissensstand sprechen und ausgehen, sondern ich werde auch die wir-Form nutzen. Ähnlich schwierig wie sich die konkrete Definition meiner Perspektive oder gar meines Wissens gestaltet, gestaltet sich die des wir. Wir umfasst alle, die sich beim Lesen des folgenden Eintrags angesprochen fühlen – vermutlich Menschen, die mindestens Teile meiner Perspektive mit mir gemein haben; seien es beispielsweise weiße Personen, weiße Deutsche, nicht-behinderte Studierende oder Studierende der Gender Studies. Vermutlich werden Personen, die sich von wir angesprochen fühlen, ebenfalls auf vielen – wenn auch nicht allen – Ebenen privilegiert sein. Das Wissen, das wir haben und auf das ich mich beziehen werde, ist geprägt und geformt von (oftmals gewaltsam hervorgebrachten oder durchgesetzten) Privilegien. Es ist primär Wissen, das sich in deutschen, akademischen Kontexten wiederfindet; dass diese Kontexte weiß und meist von der Mittelschicht durchzogen sind, steckt bereits in der Kombination aus deutsch und akademisch. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass sich gewisse Menschen von wir angesprochen fühlen. Ich werde dieses Pronomen nutzen, obwohl ich mir der Gefahr bewusst bin, dadurch eine wir–ihr Dynamik zu erzeugen, die das wir über das ihr stellt. Das ist jedoch nicht Ziel des Wikis; ganz im Gegenteil. Durch das Wiki soll die im Wissen und der Wissenschaft unsichtbare wir–ihr Dynamik deutlich gemacht und kritisch hinterfragt werden. Außerdem befasst sich dieses Wiki anhand der Fragen Was wissen wir? und Wie wissen wir? mit dem Ursprung sowie der vorherrschenden (und akzeptierten) Art unseres Wissens. Daran anschließend werden Möglichkeiten der Entgrenzung und Erweiterung unseres Wissens aufgezeigt.
Was wissen wir?
Weiß
„When they speak it is scientific, when we speak it is unscientific;
universal/ specific;
objective/ subjective;
neutral/ personal;
rational/ emotional;
impartial/ partial;
they have facts, we have opinions;
they have knowledge, we have experiences.”7)
(Kilomba 26)
Wir und Ihr
Auch Grada Kilomba schreibt hier von einer wir–ihr Dynamik. Sie spricht von Schwarzen8) Wissenschaftler*innen (Black Scholars) – wir – und weißen Wissenschaftler*innen – sie. Eine Dynamik, unter der sie als Schwarze Wissenschaftlerin, Künstlerin und Autorin leidet, denn diese Dynamik ist mehr als das. Sie ist eine Machtstruktur, die Hierarchien festlegt und diese wie auch white supremacy9) aufrechterhält (Kilomba 26). Im akademischen Kontext steht weißes Wissen über anderem Wissen, weshalb wir in der Schule wie in Universitäten, bis auf wenige Ausnahmen, nur solches vermittelt bekommen:
Was geschah am 14. Juli 1789? Was am 04. Juli 1994?
Wer war Rosa Luxemburg? Wer Rani Lakashmibai?
In welchem Land liegt Ottawa? In welchem Land Odawa?
Weißes Wissen wird weitergegeben, ist angesehen, lehrenswert, wohingegen nicht-weißes Wissen unter den Tisch fällt, nicht erwähnt wird oder nur in besonderen Kontexten gelehrt und dann als solches markiert wird. Denn „[o]hne Präfix sind Musik, Literatur, Kunst, Film und Wissenschaft weiß und westlich” (Roig 105-6). Nicht-weiße Menschen, Denkweisen, Wissenschaften werden nicht zur Norm gezählt, sind nicht der Standard und werden deshalb markiert. Weiß hingegen ist die Norm und wird nicht extra benannt (vgl. auch Gümüşay 58).
Epistemizide
Doch selbst weißes Wissen ist stark selektiert. Ramón Grosfoguel beschreibt, wie es im 16. Jahrhundert durch die vier Epistemizide10) dazu kam, dass „[i]t is considered normal functioning to have only Western males of 5 countries [France, England, Germany, Italy and the USA] to be producing the canons of thought in all of the academic disciplines of the Westernized university. There is no scandal in this because they are a reflection of the normalized racist/ sexist epistemic structures of knowledge of the modern/ colonial world”11) (Grosfoguel 87). Seine Arbeit The Structure of Knowledge in Westernized Universities beantwortet viele der präzisen Fragen, die Emilia Roig (107) sich empört bezüglich unseres Wissens stellt:
„Wie ist es dazu gekommen, dass unser universelles Wissen, unser Blick auf die Geschichte und die klassische Kultur so homogen und einseitig sind? Und warum werden sie als universell wahrgenommen, wenn sie im Grunde nur von einem winzigen Teil der Menschheit stammen? Wie kam es dazu, dass die Ideen von weißen Männern aus einer Handvoll Ländern […] die Welt des Wissens beherrschen? Wie und wann wurden die kolonialen Strukturen des Wissens geschaffen?”
Die vier Epistemizide – the murder of knowledge12) (de Sousa Santos, A Future for the Past 7) - die Grosfoguel ausführlich beschreibt sind der an muslimischen wie jüdischen Personen während der Eroberung von Al-Andalus, der an indigenen Gruppen in den Amerikas und Asien, den an afrikanischen Menschen durch Handel und Versklavung und nicht zuletzt der an Frauen, die indo-europäisches Wissen verbreiteten und lehrten, denen deshalb Hexerei vorgeworfen wurde und die deshalb lebend verbrannt wurden (Grosfoguel 77). Diese Gräueltaten erkennt er als handfesten Grundstein dafür, dass unser Wissen heute weiß ist und anderes Wissen degradiert wird, sofern bis heute nach unzähligen Akten der Wissensverbrennung, Wissensunterdrückung oder gewaltsamen Wissensaneignung etwas davon übrigblieb (vgl. Roig 110-111). Kübra Gümüşay (49) hält in diesem Zusammenhang fest, dass „[es] viele Perspektiven auf dieser Welt [gibt … und j]ede einzelne ist für sich genommen beschränkt [, denn a]lle Menschen sind vorurteilsbehaftet und begrenzt durch ihre Erfahrungen.” Eine solche Beschränkung erweist sich bei entsprechendem Reflektieren auch kaum problematisch,
„[w]enn aber bestimmte Perspektiven – etwa die weißer Europäer*innen oder Nordamerikaner*innen – privilegiert werden über andere, wenn ihre eingeschränkte Perspektive hegemonialen Anspruch gewinnt, dann verlieren andere Perspektiven und Erfahrungen ihren Geltungsanspruch. Es ist, als würden sie nicht existieren” (Gümüşay 49.)13)
– und genau dann wird eine einzelne Perspektive zu einem massiven Problem. Seitens weißer Menschen wird dieses Problem oftmals – aus fehlender Betroffenheit – nicht erkannt und Grada Kilomba spricht in diesem Zusammenhang auch von der „white fear” (Kilomba 19-20), also der weißen Angst, davor Schwarzes Wissen zu hören, sich dessen bewusst zu werden oder daran zu denken – die Angst meist ausgelöst durch Schuld- oder Schamgefühle.
Weiß und Männlich
Wir und Ihr
Nicht-weiß und weiß bildet keineswegs den einzigen Graben, entlang dessen Wissen gespalten wird. Donna Haraway (575) beschreibt eine weitere wir-ihr Dynamik:
„The imagined ‚they’ constitute a kind of invisible conspiracy of masculinist scientists and philosophers replete with grants and laboratories. The imagined ‚we’ are the embodied others, who are not allowed not to have a body, a finite point of view, and so an inevitably disqualifying and polluting bias in any discussion of consequence outside our own little circles.“14)
Dieses Mal befinden sich männliche Wissenschaftler (sie) auf der einen, und verkörperte Andere, d.h. nicht-männliche, (wir) auf der anderen Seite. Genau wie Grada Kilomba beschreibt Donna Haraway eine markierte wir-Seite15), die der unmarkierten, machtvollen ihr-Seite unterliegt. Auf die Machtdynamik zwischen Frau (bzw. Nicht-Mann) und Mann geht auch Ramón Grosfoguel ein: so waren auch Hexen bzw. Frauen Opfer der Epistemizide und erfuhren die Gewalt weißer Männer. Frauen sollten nicht wissen und daran anknüpfend etablierte sich eine Tendenz zur
„Ablehnung von allem […], was als ‚weiblich’ und ‚mütterlich’ betrachtet wurde, inklusive der Natur. Daraus entstand ein ‚maskuliner und viriler’ kognitiver Stil, der kühl, unpersönlich, objektiv, rein und diszipliniert war. Die Philosophen der Aufklärungszeit assoziierten Männlichkeit mit dem neu entstandenen Wissensethos” (Roig 109).
Diese Verknüpfung von Männlichkeit mit Wissenschaft stellt jedoch nicht nur ein Phänomen der Aufklärungszeit dar; auch heute durchzieht dieser Zusammenhang die wissenschaftliche Gesellschaft und macht sich beispielsweise im Phänomen der gläsernen Decke bemerkbar. Bis heute hält sich außerdem die Annahme, der sogenannte master stereotype (vgl. D’Ignazio/ Klein 77), dass Frauen emotionaler sind als Männer und Männer rationaler als Frauen.
Subjekt und Objekt
Sowohl männlich wie auch weiß bilden demnach den unmarkierten Standard der Wissenschaft: „Das Weißsein und das Mannsein werden schweigend vorausgesetzt, weil sie nicht eigens ausgesprochen werden müssen. Sie werden nicht hinterfragt. Sie sind der Standard” (Criado-Perez 46)16). Solange Wissenschaft aus einer weißen und/ oder männlichen Perspektive betrieben wird, gilt sie als genau das: Wissenschaft. Dass das fatale Auswirkungen haben kann, erläutert Caroline Criado-Perez in ihrem Buch Unsichtbare Frauen – Wie eine von Männern gemachte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Sie beschreibt Forschungslücken, blinde Flecken und unangetastete Forschungsgebiete und wie sich daraus teils drastische Konsequenzen für einen großen Teil der Bevölkerung ergeben. Auch wenn der Titel des Buches die weiße Komponente unserer Wissensstrukturen nicht vermuten lässt, zieht die Autorin doch immer wieder intersektionale Verbindungen, vor allem zwischen Sexismus und Rassismus.
Ebenso schreibt Emilia Roig (127) als Betroffene über die sexistische und rassistische Diskriminierung in der Wissenschaft und konstatiert, dass
„mit zweierlei Maß gemessen wird. Während Nicht-Betroffenheit als Beweis für Sachlichkeit, Neutralität und Rationalität betrachtet wird, fungiert Betroffenheit als Beleg für fehlende Objektivität. […] Entweder man ist Objekt – über das geforscht wird –, oder Subjekt – der*die Forscher*in. Die ersten haben Erfahrungen, Letztere haben Fakten. Diese Dichotomie ist nicht nur falsch, sondern auch schädlich, weil sie die Legitimität von vielfältigen Perspektiven negiert”.
Um der Problematik noch mehr der ihr würdigen Gewichtung zu verleihen noch ein weiteres Beispiel: Auch Grada Kilomba (26) schildert ähnliche Erfahrungen:
„As a scholar, for instance, I am commonly told that my work on everyday racism is very interesting, but not really scientific, a remark that illustrates the colonial order in which Black scholars reside […]. Such comments function like a mask, that silences our voices as soon as we speak. They allow the white subject to place our discourses back at the margins, as deviating knowledge, while their discourses remain at the centre, as the norm” (Kilomba 26).17)
Erfahrungen und Fakten – diese (vermeintliche) Dichotomie knüpft an Grada Kilombas oben zitierten Text an und bildet mit den (ebenfalls vermeintlichen) Dichotomien Schwarz – weiß/ weiblich – männlich tückische, verstrickte Machtgefälle, welche sich auf unterschiedlichen Ebenen niederschlagen.
Wie wissen wir?
Objektiv und Neutral
Erfahrungen und Fakten sind nicht nur mit weiblich und männlich/ Schwarz und weiß verstrickt, sondern auch mit den Eigenschaften subjektiv und objektiv. Subjektivität (wie die Beispiele oben zeigen oft gleichgesetzt mit Betroffenheit) hat in unseren Wissenschaften nichts zu suchen; sie bildet den negativen Gegenpol zur erstrebenswerten Objektivität. Objektiv, weiß und männlich bilden die Norm, die Standard-Perspektive. Und „[w]eil diese Perspektive nicht als weiß und männlich bezeichnet wird (und eine solche Markierung gar nicht benötigt) und weil sie die Norm ist, wird angenommen, sie sei nicht subjektiv. Vielmehr hält man sie für objektiv – gar für universell” (Criado-Perez 46). Die nicht-benannte Perspektive ist demnach automatisch objektiv. Alles und alle, die nicht unbenannt bleiben (können/ dürfen), sprechen automatisch aus einer subjektiven Position. Unbenannt bleiben nur die Benennenden - ganz unbenannt bleibt ihre Perspektive jedoch nicht. Sie benennen sie selbst – ein Privileg, das andere Benannte – „embodied others” nach Donna Haraway (575) – nicht haben:
„Um ihre eigene, partikulare Sicht auf die Welt zu einer universellen zu erklären, geben die Benennenden ihr Namen: universal, neutral, rational, objektiv. Ihre Sicht der Dinge ist die Norm, die sich nicht erklären muss und zugleich alles, was davon abweicht, zur Erklärung zwingt – ein Mechanismus, der sich durch so viele gesellschaftliche Konstellationen zieht”. (Gümüşay 58)
Eine dieser gesellschaftlichen Konstellationen ist die Wissenschaft oder auch die Darstellung von Wissenschaft bzw. Daten. Auf diese gehen Lauren Klein und Catherine D’Ignazio in Data Feminism näher ein. Bei der Darstellung von Wissen gilt: „The more plain, the more neutral; the more neutral, the more objective; and the more objective, the more true – or so this line of reasoning goes”18) (D’Ignazio/ Klein 76). Diese Logik ist tückisch, denn die Schlichtheit, die letzten Endes zu hoher wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit führt, steht in enger Verbindung mit Distanz – das heißt keine eigene Betroffenheit – zwischen Forschenden und Beforschten/-m (vgl. D’Ignazio/ Klein 76). Genau diese Logik lässt uns annehmen, dass ordentlich formatierte Paper mit schlicht gehaltenen Tabellen, die nur aus wenigen Wörter oder Zahlen und schwarzen Linien bestehen, wissenschaftlich hochqualitativ sind, weil sie neutrale und objektive Daten ohne Schnickschnack darstellen. D’Ignazio und Klein (81) demonstrieren anhand eines Beispiels aus den New York Times (zwei Grafiken, die aus denselben Daten generiert wurden, denselben Grafen19) enthalten, jedoch durch die – schlichte – Beschriftung sehr unterschiedliche Aussagen treffen), dass unausgeschmückte Darstellung von Daten mit wenig Text und unaufgeregtem Design nicht Neutralität oder Objektivität gleicht:
Bildbeschreibung: Die linke Grafik verzeichnet auf der x-Achse die Jahre (2009-2012) und auf der y-Achse die Arbeitslosenquote in % (7%-10%). Die 8%-Marke wird durch eine Linie parallel zur x-Achse markiert. Die Überschrift „The rate was above 8 percent for 43 months” (Die Quote war für 43 Monate über 8 Prozent) impliziert, dass die Zahl der Arbeitslosen seit mehreren Jahren über 8% lag, was eine negative Nachticht zu sein scheint. Die Information, dass die „Friday's number” (die Zahl am Freitag) bei 7,8% liegt, geht hier unter, da sich die Beschriftung wie auch die grafische Darstellung - vor allem der grau ausgefüllte Teil zwischen dem Grafen und der 8%-Marke - nur auf besagte 8% konzentrieren.
Die rechte Grafik enthält exakt den selben Grafen und dieselbe Achseneinteilung bzw. -beschriftung. Die Überschrift „The rate has fallen more than two points since its recent peak”(Die Quote ist seit dem letzten Hoch um mehr als zwei Punkte gefallen) betont hier denn leichten Rückgang der Quote. Bestärkt wird der Fokus darauf durch einen nach unten zeigenden dicken Pfeil sowie die Phrase „Friday's drop was larger than expected” (Der Fall am Freitag war tiefer als gedacht), welche ebenfalls den Rückgang beschreibt. Es scheint wie eine positive Nachricht.
Obwohl nun beide Grafiken denselben Inhalt haben bzw. anhand denselben Daten erstellt wurden, entstehen durch die unterschiedliche Aufarbeitung, Darstellung und Beschriftung zwei beinahe gegensätzliche Informationen: die pessimistischere Sichtweise auf die stetig über 8% liegende Arbeitslosenquote und die optimistischere Sichtweise mit einem überraschenden Rückgang der Quote.
Diese beispielsweise durch das schlicht gehaltene Design vermeintlich neutral und objektiv wirkenden Informationen sind, wie es die Gegenüberstellung der zwei Grafiken zeigt, genau das nicht. Die Daten sind jeweils aus einer bestimmten Perspektive betrachtet und dargestellt, welche erst durch den direkten Vergleich auffällt.
Sobald Worte ausgewählt, Designs festgelegt, Themen perspektiviert werden können sie nicht neutral oder objektiv20) sein. Mit jeder Art von Daten-Bearbeitung werden Entscheidungen getroffen, die die Dargestellten Fakten beeinflussen. Emilia Roig (125) fasst hierzu passend zusammen:
„Es ist, wie Nietzsche sagte: ‚Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen’. Meine Interpretation dieser Aussage ist, dass Objektivität an sich eine Perspektive ist, die unter dem Deckmantel der Neutralität eine ganz bestimmte Position – männlich, weiß, heterosexuell, gebildet – verbirgt und damit diese Position als universell konstruiert.”
Allumfassend
Die einzige Position, die sich eine vermeintliche Objektivität anmaßt, ist die aus der Sicht des weißen Mannes, mit dem neutralen Blick und den rationalen Gedanken. Allerdings wird diese Position nicht als eine solche wahrgenommen, sondern, als die Fähigkeit „of seeing everything from nowhere”21), ein Phänomen, das Haraway (581) als den „god trick”, also den Gottestrick, bezeichnet. „No one ever accused the God of monotheism of objectivity, only of indifference. The god trick is self-identical, and we have mistaken that for creativity and knowledge, omniscience even.”22) Lange wurde diese scheinbar im Nichts fußende Perspektive als die objektive und neutrale Perspektive verstanden, von der alle anderen abweichen. Es verwundert nicht, dass sie sich so lange hält, denn sie ist verlockend und es scheint, als wäre von ihr aus alles mit der nötigen Distanz sichtbar. Gerade weil diese Perspektive als eine so mächtige wahrgenommen wird, ist es unfassbar schwierig sie zu erkennen, sie mitsamt ihrer Tricks und Fallen zu demaskieren (vgl. D’Ignazio/ Klein 76).
Der Gottestrick wird auch in der Datendarstellung angewandt. „But it’s […] a trick because what appears to be everything, and what appears to be neutral, is always what [Donna Haraway] terms a partial perspective. And in most cases of seemingly ‚neutral’ visualizations, this perspective is the one of the dominant, default group”23) (D’Ignazio/ Klein 76). Dass die Perspektive, aus der Daten dargestellt werden eine partiale ist, wird meist durch vier gängige Konventionen verdeckt: zwei-dimensionale Standpunkte, klare Layouts, geometrische Formen und Linien, sowie die Nennung der Quellen am Ende (vgl. D’Ignazio/ Klein 82). Ist all das der Fall, scheint das Dargestellte allumfassend und neutral, unabhängig davon, ob es das wirklich ist oder nicht.
Mit Nachweis
Die Nennung der Quellen ist weit verbreiteter Standard in den Wissenschaften – nicht nur in der Datendarstellung – und steht für Transparenz und Glaubwürdigkeit (vgl. D’Ignazio/ Klein 82). Gibt es keine Quellen, erscheint das Dargestellte unwissenschaftlich.
„Das Problem mit dieser Logik ist, dass Wissen nur anerkannt wird, wenn es aus einem ganz bestimmten Rahmen kommt. Nicht alle Quellen werden gleichermaßen zitiert. Nur Personen mit Diplomen, die akademische Artikel schreiben oder bei anerkannten Verlagen veröffentlichen, werden zitiert” (Roig 134).
Ein Grund, warum Erfahrungsberichte einzelner Menschen oder Menschengruppen in unserer Wissenschaft kaum Wert haben; sie werden als Erfahrungen abgestempelt, nicht als Wissen.
Die Angabe von Quellen war allerdings noch nicht immer Standard: Als ab dem 15. Jahrhundert Wissen von westlichen Ethnologen und Anthropologen von verschiedenen kolonialisierten Völkern übernommen und gestohlen wurde, war es scheinbar nicht wichtig, woher das wertvolle Wissen stammte. Die weißen Kolonialisten24) machten es sich zu Eigen und erst von da an war das Benennen des Wissensursprungs vorgesehen (vgl. Roig 111). Im Zuge der gewaltvollen und unwürdigen Wissensaneignung wurden auch zum ersten Mal Informationen visualisiert – Daten sozusagen dargestellt:
„[Information visualizing’s] history is often traced from the explosion of European men mapping their colonial conquests in the late fifteenth and early sixteenth centuries, through the development of new visual typologies like the timeline and the bar chart in the seventeenth and eighteenth centuries, to the adoption of those forms by powerful nations as they amassed increasing amounts of data on the populations they sought to control”25) (D’Ignazio/ Klein 77).
Nach dem Abschnitt zur Frage Was wissen wir? erscheint es wenig überraschend, dass es auch hier - verallgemeinernd gesprochen - der weiße Mann war, der die (Zitier-)Regeln festgelegt hat, der denen, die er später benannt hat, das Wissen (im wörtlichen wie im übertragenen Sinn) gestohlen und es für sich genutzt hat. Gestohlen bzw. auch weggenommen oder verboten hat der weiße Mann Wissen beispielsweise durch Verbrennung von Bibliotheken, wie der in Cordoba, durch Unterdrückung bestimmter Menschengruppen, wie etwa indigenen Menschen oder Frauen, sowie durch das Aneignen, das heißt Stehlen, von Wissen ohne Benennung von dessen Herkunft (vgl. Roig 110-111). Mittels dieser oft gewaltvollen Wege der Wissensaneignung kreirte sich der weiße Mann einen enormen Wissenspool, aus dem er schöpfen kann. Alles Wissen scheint somit unter seinen Fittichen und in seinem Blick zu sein. Durch die Einführung bestimmter Regeln und Umgangsweisen bei der Wissensverbreitung, wie etwa dem Zitieren oder ausführlichen bibliografischen Angaben, wird verhindert, dass Wissen erneut gestohlen wird. Quellen anzugeben, unterstützt den Gottestrick, denn dadurch scheint es, als hätte die schreibende Person alles im Blick, als wüsste sie über alles sonst Geschriebene Bescheid und würde somit alle relevanten Perspektiven mit einbeziehen. Der Schein trügt allerdings, da das allumfassend wirkende Wissen kein solches ist. Natürlich stammt unser Wissen aus verschiedenen Quellen, Perspektiven und Erfahrungen; all diese wurden jedoch zusammengeworfen und im Sinne des weißen Mannes geformt, gekürzt oder angepasst.
Eine Perspektive, die alle anderen berücksichtigt – so erscheint unser Wissen. Unser weißes, männliches, universitäres Wissen: „So far, Westernized university operates under the assumption of the uni-versalism where ‚one […] defines for the rest’ what is truthful and valid knowledge” 26) (Grosfoguel 89). Das lässt sich sowohl auf die Wissenschaften als Ganzes, wie auch auf die Datendarstellung im Konkreten feststellten. Eine uni-verselle Perspektive kann jedoch nie für alle sprechen, vermitteln oder darstellen. Sobald an und mit Daten gearbeitet wird, werden sie gedeutet; um es mit Catherine D’Ignazios und Lauren Kleins (80) Worten zu sagen: „When visualizing data, the only certifiable fact is that it’s impossible to avoid interpretation.” 27)
Was und wie wissen wir also? Unser Wissen ist stark geprägt von einer männlichen, weißen Perspektive, die als unbenannter Standard aufrechterhalten wird und dadurch andere Stimmen, Perspektiven oder Wissensformen marginalisiert, diskriminiert, ignoriert. Zusätzlich hat unser Wissen den Anspruch, möglichst neutral, objektiv, allumfassend und belegbar zu sein. Auch das schließt viele Wissensformen wiederum aus. Daraus schlussfolgernd beschreibt Donna Haraway (577) Wissenschaft wie folgt: „From this point of view, science - the real game in town - is rhetoric, a series of efforts to persuade relevant social actors that one's manufactured knowledge is a route to a desired form of very objective power” 28). Diese Beschreibung macht deutlich, zu welch absurder Form sich unsere Wissenschaft hin entwickelt hat.
„In this sense, academia is neither a neutral space nor simply a space of knowledge and wisdom, of science and scholarship, but also a space of v – i – o – l – e – n – c – e.”29) (Kilomba 26)
Wie können wir Wissen ent-grenzen?
„In the case of data visualization, what is excluded is emotion and affect, embodiment and expression, embellishment and decoration. These are the aspects of human experience associated with women, and thus devalue the logic of our master stereotype.”31) (D’Ignazio/ Klein 96)
„Deliberately embracing emotions like wonder, confusion, humor, and solidarity enables a valuable form of data maximalism, one that allows for multisensory entry points, greater accessibility, and a range of learning types.”32) (D’Ignazio/ Klein 88)
„I am arguing for politics and epistemologies of location, positioning, and situating, where partiality and not universality is the condition of being heard to make rational knowledge claims. These are claims on people's lives. I am arguing for the view from a body, always a complex, contradictory, structuring, and structured body, versus the view from above, from nowhere, from simplicity. Only the god trick is forbidden.”33) (Haraway 589)
„I therefore call for an epistemology that includes the personal and the subjective as part of academic discourse, for we all speak from a specific time and place, from a specific history and reality – there are no neutral discourses.”34) (Kilomba 30)
„This should be the primary concern of scholarship’s decolonialization ‚to bring out a chance for alternative emancipatory knowledge production,’ as Irmgard Staeuble argues, to transform ‚the configurations of knowledge and power for the sake of opening up new spaces for theorizing and practice.’”35) (Kilomba 30)
„Wissen, das in Erfahrung verwurzelt ist, prägt, was wir wertschätzen, und infolgedessen auch, wie wir wissen, was wir wissen und wie wir das, was wir wissen, nutzen.” (bell hooks, zitiert in Roig 127)
„Shaowen Bardzell asserts designers should look first to those at the margins: the people pushed to the margins in any particular design context demonstrate who and what the system is trying to exclude.”36) (D’Ignazio/ Klein 95)
„Wer wissen möchte, welche Herausforderungen auf uns alle warten, der sollte jenen genau zuhören, die in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Architektur schon die Leidtragenden sind.” (Gümüşay 107)
Visceralization
Unser Wissen ist gefangen innerhalb der Mauern von Männlichkeit, Weiß-heit, Neutralität, Objektivität, Universalität und Belegbarkeit. Diese Mauern grenzen unser Wissen stark ein. Alle oben zitierten Personen fordern ähnliche und doch vielfältige Wege für neue Wissensstrukturen: Gefühle, Verkörperung, alternative Wissensformen, Erfahrungen, Barrierefreiheit, Verzierung, Positionierung, Subjektivität und Menschen vom Rand in die Mitte holen.
Ein Schritt in Richtung dieser neuen Wege ist es, allen Menschen – besonders den marginalisierten – in der Wissenschaft Raum und Stimme zu geben, neue Wissensformen und -strukturen zuzulassen, sie nicht kategorisch auszuschließen. Catherine D’Ignazio und Lauren Klein (85) schlagen hierfür Visceralization37) vor:
„Visual design is for the eyes, but visceralizations are representations of data that the whole body can experience, emotionally as well as physically – data that ‚we see, hear, feel, breathe and even ingest’, writes media theorist Luke Stark. The reason for visceralizing data have to do with more than simply creative experimentation. First, humans are not two eyeballs attached by stalks to a brain computer. We are embodied, multisensory beings with cultures and memories and appetites. Second, people with visual disabilities need a way to access the data encoded in charts and dashboards as well.”38)
Diese Art, Daten zu repräsentieren, ermöglicht es, viele der oben geforderten Aspekte zu berücksichtigen; bei Daten, die auf multisensorische Weise erfahrbar sind, spielen beispielsweise Gefühle, Verkörperung oder Positionierung automatisch eine wichtigere Rolle als bisher. Zudem geht Visceralization als neue Wissensform mit kritischem oder hinterfragendem Denken einher, weswegen auch Gedanken über Aspekte wie Barrierefreiheit, Einbezug von Erfahrungen oder Verzierungen nicht weit sind.
Feministische Objektivität und Situiertes Wissen
Das Streben nach der klassischen Objektivität verliert mit neuen Wissensformen ebenfalls an Bedeutung. Donna Haraway (581) definiert in diesem Zusammenhang eine neue Objektivität; die feministische Objektivität 39) . Sehr knapp definiert sie diese folgendermaßen: „Feminist objectivity means quite simply situated knowledges.“ 40) Feministische Objektivität und die damit einhergehende zentrale Rolle des situierten Wissens beschreiben auch D’Ignazio und Klein (83-96). Neben der Berücksichtigung der Situiertheit des Wissens erachten die zwei Autorinnen es für diese Form der Objektivität als unerlässlich
⇒ den eigenen Standpunkt offenzulegen und zu reflektieren (vgl. 83),
⇒ Emotionen bewusst einzusetzen (vgl. 88),
⇒ Unsicherheiten spürbar zu machen (vgl. 90),
⇒ den Kontext zu beachten – denn: „If there is any single rule in design, it’s that context is queen“ (91) –,
⇒ Verantwortung für die eigene (Daten-)Arbeit zu übernehmen (vgl. 95),
⇒ zu Entgrenzen und zuerst an gesellschaftliche Ränder zu schauen (vgl. 95)
⇒ sowie Gefühle und Verstand in ein gesundes Gleichgewicht zu bringen (vgl. 96).
Feministische Objektivität bezieht einige Aspekte mit ein, die (beinahe) widerstrebend für die klassische Objektivität sind. Wahrscheinlich ist sie genau deshalb noch nicht in unsere Wissenschaft eingezogen. Es scheint mir jedoch, als nähere sie sich langsam. Dass das der Fall ist, soll anhand einiger Beispiele im Folgenden gezeigt werden, die zum einen den klassischen Objektivitätsstandards (teilweise) widersprechen, die neue Wissensformen und -strukturen einbeziehen und darstellen und die über eine reine Textform hinausgehen. Die Auflistung soll verschieden Umsetzungsmöglichkeiten zeigen; sie sollen jedoch weder gegeneinander aufgewogen werden (à la: Welches Projekt berücksichtigt mehr Ansprüche feministischer Objektivität? Oder: Welches Projekt setzt Visceralizations besser um?), noch soll detailliert herausgearbeitet werden auf welche Art ein Projekt entgrenzt Wissen vermittelt und wo es noch Potential gäbe. All das ist nicht zielführend und nicht im Sinne der Entgrenzung von Wissen. Die unten gelisteten Projekte sind Inspirationen, Wegbereiter*innen, Anknüpfungspunkte.
Entgrenzt Wissen
- Hélène Cixous legt mit ihrer Schrift La Rire de la Meduse 41) den Grundstein für eine revolutionäre, rebellische Art zu schreiben: die écriture féminine, das weibliche Schreiben. Sie plädiert für eine Weise des Schreibens, die sich weg vom männlichen Schreiben bewegt - wortwörtlich bewegt -, für eine Weise des Schreibens, die den Körper mit einbezieht und die das Geschriebene auf mehreren Ebenen ausdrückt. Écriture féminine ist demnach verkörperte Schrift; umgesetzt kann sie unterschiedlichste Formen annehmen.
- „Coming Home to Indigenious Places Names in Canada”42) - Eine Landkarte von einem Land, das wir heute als Kanada kennen, auf der nicht die uns bekannten Ortsnamen verzeichnet sind, sondern auf der indigene Bezeichnungen für Orte, Flüsse, Wälder etc. gesammelt sind. Es repräsentiert somit unter anderem den Anspruch feministischer Objektivität an das Entgrenzen. Margaret W. Pearce gibt marginalisierten Gruppen hier Raum und Stimme. Sie übernimmt zudem Verantwortung für die von ihr erhobenen und verarbeiteten Daten, da sie jede Bezeichnung und gegebenenfalls deren Übersetzung ins Englische nur veröffentlicht, nachdem sie die Zustimmung der entsprechenden Personen bekommt.
- In ihrem Projekt „Simulated dendrochronology of U.S. immigration (1830-2015)”43) stellen Pedro Cruz, John Wihbey, Avni Ghael und Felipe Shibuya die Einwanderung in die USA grafisch wie einen wachsenden Baumstamm dar. Im Video ist der Prozess zusätzlich mit Musik hinterlegt - Vogelgesang und Luftrauschen, wie in einem Wald - und auf der Website ist das Projekt mit zusätzlichen Informationen sowohl in Textform wie auch durch weitere Bilder beschrieben. Durch die bunten Farben, die vielen Formen sowie die Mischung aus Text, (bewegtem) Bild und Ton ermöglichen uns die Schaffer*innen der simulierten Dendrochronologie auf vielfältige Weise ein Eintauchen in die Daten.
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- Die UNESCO hat ebenfalls ein Projekt entwickelt, das das volle Eintauchen in Daten ermöglicht: „Dive into intangible cultural heritage!” 44), eine dynamische, bunte und interaktive Karte, die Informationen zu unterschiedlichsten kulturellen Erben beinhaltet und sich mit jedem Scrollen oder Klicken verändert. Eine Karte wie diese weckt Neugier und Entdeckungslust, macht Verbindungen zwischen bestimmten Praktiken und Phänomenen sichtbar und lässt Betrachtende wortwörtlich in ihre Tiefen eintauchen. Neben der Karte existiert eine Liste mit demselben Inhalt - diese erscheint jedoch deutlich lebloser, uninteressanter und - im klassischen Sinne - objektiver, da Farben, Formen und Bewegung fehlen.
- Eine ganz andere Art der Informationsvermittlung präsentieren Sinsemilla durch ihr Lied „De l'histoire” 45). Sie kritisieren ihr Wissen aus der Schule, regen zum kritischen Nachdenken an und weisen so auf gesellschaftliche Missstände und Kolonialverbrechen hin. Auch wenn sie dadurch nur wenige konkrete Informationen vermitteln oder Daten darstellen, stellt das doch eine kreative Art der Datendarstellung da. Durch das Verpacken ihrer kritischen Worte in Musik erreichen sie eine Zielgruppe, die sich sonst womöglich wenig mit dem Thema Genozid befassen würde. Zudem machen sie durch das Lied marginalisierte Gruppen sichtbar.
- Datensammlung in Form der Sammlung von Erfahrungsberichten setzt #schauhin um. Der Hashtag markiert Tweets, in denen von alltagsrassistischen Situationen von Betroffenen berichtet wird; er gibt ihnen eine Stimme. Gefühle werden hierbei bewusst eingesetzt, etwa durch emotionale Schilderungen des Vorfalls. #schauhin findet sich mittlerweile auch außerhalb Twitter auf einer eigenen Website, auf YouTube wie auf Facebook. Die Verbreitung des Projekts auf verschiedenen Plattformen ermöglicht vielen Menschengruppen einen leichten Zugang und vergrößert dessen Reichweite, wodurch Raum und Stimme geschaffen werden.
- Ein letztes Beispiel zeigt die Datensammlung einer marginalisierten Gruppe: Menschen mit Behinderung 46). Auf der von Raúl Krauthausen ins Leben gerufenen Wheelmap 47) können (betroffene) Menschen Orte verzeichnen, die mit Rollstuhl gut, teilweise oder nicht zugänglich sind. Damit entgrenzen an den Rand gedrängte Menschen selbst einen Teil der vorhandenen Daten.
Darüber hinaus existieren unzählige weitere Beispiele für unkonventionelle Datenarbeit, Visceralizations oder Wissensvermittlung nach den Ansprüchen feministischer Objektivität, jenseits der klassischen Objektivität und/ oder außerhalb unserer Wissens-Mauern. Diese Auswahl soll einen kleinen Einblick in die Vielfalt der Wissenschaft und Datenarbeit geben. Abschließend folgt ein weiteres Beispiel für kreative Wissensdarstellung: ein von mir selbstgeschriebenes Gedicht, dass sich mit dem Thema des Wikis auseinandersetzt und ähnlichen, wenn auch auf völlig andere Weise umgesetztem, Inhalt aufweist.
Gedicht
Wissen ist Macht.
Wissen schafft Macht.
Wissen schafft.
Was?
»Ich weiß«.
Eine Verkündung des eigenen Wissens.
Eine Tatsache – oder ein Täuschung?
Eine Sicherung der eigenen (Macht-)Position.
Wissen wird gemacht, wird geschaffen.
In der Wissenschaft, reich reichen Wissenschaften.
Die Wissenschaften: weiß, reich.
Die Wissenschaften: reich an Weißheiten.
Sie schaffen, erschaffen.
Sieschaffen?
Bei Er-schaffen scheint es zu bleiben.
Er (weiß). Er weiß. Er schafft. Erschafft.
Die Wissenschaften:
exklusiv.
Gewähren den reichen Weißheiten Eintritt.
Dort sind Wissenschaftler innen.
Nur ein Fenster gibt es.
Alles ist von dort aus sichtbar.
Alles, was die weißen Augen er-fassen.
Sie überblicken alles.
Sie über-blicken, über-sehen, über-hören, über-gehen.
Über-sicht ohne Rücksicht aus der Gottessicht.
Gott: weit weit oben, er-fasst alles.
Doch nichts ist für ihn greifbar.
Keine Erfahrungen, Gefühle, Perspektiven, Standpunkte.
Aber nur damit lässt sich begreifen.
Begreifen, fühlen, sehen, hören, erleben, erfahren, erschaffen.
Wissen erschaffen. Wissen schaffen. Wissenschaft.
Wissen ist hier.
Wissen ohne Macht.
Wissen schafft
was!
(Charlie Trips)
Literaturhinweise
Boaventura de Sousa, Santos (2014): Epistemologies of the SOuth: justice against epistemicide. London and New York: Routledge.
Criado-Perez, Caroline (2020): Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. München: btb.
D'lgnazio, Catherine und Lauren F. Klein (2020): Data Feminism. London: The MIT Press.
Grosfoguel, Ramós (2013): The Structure of Knowledge in Westernized Universities: Epistemic Racism/Sexism and the Four Genocides/Epistemicides of the Long 16th Century. in: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge XI(1). 73-90.
Gümüşay, Kübra (2020): Sprache und Sein. München: Hanser Berlin.
Haraway, Donna (1988): Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. in: Feminist Studies 14(3). 575-599.
Kilomba, Grada (2013): Plantation memories: episodes of everyday racism. Münster: Unrast-Verlag.
Roig, Emilia (2021): Why we matter. Das Ende der Unterdrückung. Berlin: Aufbau Verlag.
Im gesamten Wiki werden Zitate, die im Original in einer anderen Sprache als Deutsch sind, in dieser Sprache im Fließtext stehen. Die Übersetzung ist jeweils in einer Fußnote zu finden. Da durch Übersetzungen zum einen Bedeutung verloren gehen oder verändert werden kann und da zum anderen jede Übersetzung auch eine Interpretation ist, ist es m.E. hier sinnvoll, mit Originalzitaten zu arbeiten. Alle Übersetzungen sind eigene Übersetzungen, werden im Folgenden aber nicht mehr als solche gekennzeichnet.
Der Master-Stereotyp ist nach D’Ignazio/ Klein: Frauen sind emotionaler als Männer und Männer sind im Gegenzug vernünftiger als Frauen (77).
Bei ihrem Konzept des situierten Wissens, situated knowledges, ist vor allem die Erkenntnis zentral, dass Wissen immer von einem bestimmten Standpunkt, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Umfeld, von einem bestimmten Körper aus entsteht und es daher nie allumfassend sein kann (vgl. Haraway 592-596).