[1988] Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive.

„Feministische Objektivität bedeutete dann ganz einfach situiertes Wissen.“ (Haraway, 1995: 80) 1)

Im 1988 auf Englisch erstmals veröffentlichten Artikel „Situated Knowledge. The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspectives.” verteidigt Haraway 2) eine neue Form des Wissens: Die des situierten Wissens. Sie grenzt sich darin vom klassischen Verständnis der Objektivität ab und stellt dagegen einen neuen Begriff der Objektivität vor.

Klassischer Begriff der Objektivität

Es wäre hier zu viel Aufwand, die komplette Geschichte des Begriffs der Objektivität zu schildern. Stattdessen sei auf einige Bücher verwiesen, die dafür vorgesehen sind. 3) Was dargestellt wird, ist das Verständnis des klassischen Begriffs laut Haraway: Was sie dahinter versteht, wie sie es begründet und warum sie sich davon entfernen will.

Das Wissen, das bisher durch die Wissenschaft produziert wurde, strebt nach dieser Objektivität. Diese sollte neutrale, positionsfreie, reine beschreibende Kenntnisse gewährleisten. Das Wissen ist von den Forschenden getrennt worden, im Sinne davon, dass das Wissen eine Autonomie angesichts der Forschenden besitzt, sobald es produziert wurde. Wissen und Produzierende werden voneinander getrennt und das entstandene Wissen sollte man einfach für sich selbst beurteilen können. Haraway beschreibt eine Metapher, die zugunsten dieser Objektivität dient: Die Metapher der Vision (vgl. Haraway, 1995: 80ff.). Die klassische objektive Herangehensweise verbreitet den Mythos, dass es die Möglichkeit gibt, etwas von außen sehen zu können: Eine entkörperte Vision. Das nennt Haraway „den göttlichen Trick“. Die Objektivität ist so gedacht, als ob man reine Beobachtungen machen könnte, ohne dabei einen Einfluss auf das Phänomen zu haben. Zugleich sollen das Ganze und alle seine Aspekte mittels dieser Vision zugänglich sein (vgl. Haraway, 1995: 81f.).

„Aber diese Sicht einer unendlichen Vision ist selbstverständlich Illusion und ein göttlicher Trick. Ich möchte zeigen, wie unser metaphorisches Beharren auf der Partikularität und Verkörperung aller Vision (die nicht notwendig organische Verkörperung sein muss und auch technologische Vermittlung einschließt) und unser Standhalten gegenüber den verführerischen Mythen von Vision als einem Weg zu Entkörperung und zweiter Geburt uns die Konstruktion eines brauchbaren, allerdings nicht unschuldigen Objektivitätsbegriffs erlauben.“ (Haraway, 1995: 82)

Die Objektivität besitzt Ansprüche auf ein universelles Wissen.

Harawaysche Objektivität

Dieser klassischen Vorstellung einer solchen Objektivität fügt Haraway ihren persönlichen Begriff hinzu.

„Auf eine weniger verkehrte Weise erweist sich Objektivität so als etwas, das mit partikularer und spezifischer Verkörperung zu tun hat und definitiv nichts mit der falschen Vision eines Versprechens der Transzendenz aller Grenzen und Verantwortlichkeiten. Die Moral ist einfach: Nur eine partiale Perspektive verspricht einen objektiven Blick. (…) Feministische Objektivität handelt von begrenzter Verortung und situiertem Wissen und nicht von Transzendenz und der Spaltung in Subjekt und Objekt.“ (Haraway, 1995: 82)

Lokal, verkörpert, partial und politisch

Haraway benutzt absichtlich denselben Begriff der Objektivität, um mit ihrer Version den klassischen Sinn zu ersetzen. Verkörpertes, partiales, lokales Wissen Anstatt Ansprüche an universelles Wissen zu stellen, beschließt Haraway, die Wissensproduktion als politisch, verkörpert, partikular und lokal zu bezeichnen: Mit ihrem Begriff „situiert“. Außerdem lobt sie diese Position: Es ist ihr einfach eine Lüge, an diesem Mythos eines „göttlichen Trick[s], alles von nirgendwo aus sehen zu können“ (Haraway, 1995: 82). Vielmehr ist es Wert, diese Illusion des göttlichen Tricks anzuerkennen und nach einem situierten Wissen zu streben.

„Die Moral ist einfach: Nur eine partiale Perspektive verspricht einen objektiven Blick.“ (Haraway, 1995: 82)

Partial, verkörpert und lokal heißt, dass das Wissen, das produziert wurde, nur einem Teil des Geschehnisses entsprechen kann, weil die Forschenden selbst nicht in der Lage sind, alle Seite gleichzeitig theoretisieren zu können, nämlich weil sie ihre eigene Standortgebundenheit haben. Außerdem ist jeden Theoretisieren eine Stellungnahme: Sei es nicht gewollt, wird trotzdem, was aus der Forschung herauskommen wird, von den Forschenden so sehr geprägt, dass das Wissen nicht universal sein kann, sondern nur lokal und partial. Der Bezug zum Körper (verkörpertes Wissen) hebt die soziale Prägung hervor, welche durch und wegen unseren Körpern erleben. Haraway geht von der Annahme aus, dass unsere Geschlecht, Hautfarbe oder andere körperliche Eigenschaften unsere Lebenserfahrung beeinflussen und dadurch, dass wir die Welt aus einer bestimmten Position wahrnehmen, welche aus diesen Erlebnissen herabfließt. Haraway kommt zur Metapher der Vision zurück und zeigt, dass sie tatsächlich (im Gegensatz zum Mythos des göttlichen Trick) begrenzt ist, weil verkörpert.

„Man kann nicht Zelle oder Molekül 'sein' - oder Frau, kolonisierte Person, Arbeiterin und so weiter -, wenn man beabsichtigt, zu sehen und von diesen Positionen aus kritisch zu sehen. 'Sein' ist weitaus problematischer und kontingenter. Ebensowenig kann man den eigenen Standpunkt an einen anderen Ort verlegen, ohne für diese Bewegung verantwortlich zu sein. Vision ist immer eine Frage der Fähigkeit zu sehen - und vielleicht eine Frage der unseren Visualisierungspraktiken impliziten Gewalt. We ssen Blut wurde vergossen, damit meine Augen sehen können?“ (Haraway, 1995: 85)

Nicht unschuldig (vgl. Haraway, 1995: 84)

„Dieser objektive Blick stellt sich dem Problem der Verantwortlichkeit für die Generativität aller visuellen Praktiken, anstatt es auszuklammern. Eine partiale Perspektive kann sowohl für ihre vielversprechenden als auch für ihre destruktiven Monster zur Rechenschaft gezogen werden.“ (Haraway, 1995: 82).

Haraway stellt die Frage der Macht des Wissens: Welchen Einfluss hat das Wissen auf die Gesellschaft, ihre Angehöriger und deren Verhältnisse? Haraway erklärt, dass Wissen eine unvermeidliche Beeinflussung auf alle diese Reiche besitzt. Zum Beispiel ist die Technologie gesellschaftlich vernetzt: Technologie und Gesellschaft beeinflussen sich gegenseitig 4) (vgl. Wajcman, 2004).

„Jedes Wissen ist ein verdichteter Knoten in einem agonistischen Machtfeld. In seinem Bestehen auf der rhetorischen Natur von Wahrheit, einschließlich derjenigen der Wissenschaften, verbündet sich das Strong Program der Wissenssoziologie mit den reizenden und garstigen Instrumenten von Semiologie und Dekonstruktion. Geschichte ist eine Erzählung, die sich die Fans westlicher Kultur gegenseitig erzählen, Wissenschaft ist ein anfechtbarer Text und ein Machtfeld, der Inhalt ist die Form. Basta.“ (Haraway, 1995: 75)

So ermutigt Haraway die Menschen, Verantwortung 5) zu übernehmen. Es beginnt mit einigen Fragen, die wir uns stellen sollen: Wie wird mein Wissen produziert? Von welchem Standpunkt aus? Aus welchem Standortgebundenheit? Wem ist es von Nutzen? Wie könnte es ausgenutzt werden? Welche Verhältnisse werden mit der Veröffentlichung dieses Wissens betroffen und inwiefern werden sie modifiziert? Es bedeutet, dass die Forschenden sich situieren sollen 6).

„Vision ist immer eine Frage der Fähigkeit zu sehen - und vielleicht eine Frage der unseren Visualisierungspraktiken impliziten Gewalt. Wessen Blut wurde vergossen, damit meine Augen sehen können?“ (Haraway, 1995: 85)

Feministische Epistemologie

„Die neuen Wissenschaften, die der Feminismus begehrt, sind Wissenschaften und Politiken der Interpretation, der Übersetzung, des Stotterns und des partiell Verstandenen. (…) Doch bleibt das feministische Ziel der Standpunkttheoretikerinnen, eine Epistemologie und Politik engagierter, verantwortlicher Positionierung, ausgesprochen wichtig. Das Ziel sind bessere Darstellungen der Welt, d.h. ‚Wissenschaft‘.“ (Haraway, 1995: 89f.)

Haraway ist nicht der einzige Mensch, der sich gegen Ansprüche eines universalen Wissens wehrt. Mehrere feministische TheoretikerInnen setzen sich für andere Art von Wissen ein, oft politischer, verantwortlicher, lokaler geprägt. Dazu wird auf einen spezifischen Artikel verwiesen, der das Thema „Feminist Epistemology“ behandelt 7) und zur zehnten Sitzung 8) dieses Seminars. Eine berühmte und zentrale feministische Theoretikerin setzt sich für eine „strong objectivity“ ein: Sandra Harding.

„Harding has developed this idea further in her call for researchers to start their research from the perspective of women's lives and the lives of other marginalized groups, regardless of their own social location (Harding 1991). This line of reasoning weakens the connection between social or material location and epistemic perspective, since presumably a researcher can access a privileged epistemic perspective without occupying the relevant social location. Yet it maintains the situated knowledge thesis that perspectives are differentiated according to social location, and it calls on researchers to engage in reflexive analysis of how their own social location shapes their research. Harding argues that such reflexive analysis, coupled with an active attempt to engage in research from the perspectives of the oppressed will result in a stronger form of objectivity than the “weak objectivity” available through a neutral approach to knowing that ignores the role of social location and cultural assumptions in shaping one's perspective. Harding's strong objectivity results from an acknowledgment of the perspectival nature of all knowing, and a determined effort to examine the world from the perspectives of the socially underprivileged rather than the privileged. The result, according to standpoint theorists such as Harding, will be knowledge that is less partial and distorted, and hence, more objective.” (vgl. Stanford Encyclopedia of Philosophy. Angesehen am 23.09.2017) 9)

Zum Themen gilt ebenfalls die Intersektionalitätsforschung 10), als Forschung der Diskriminierung, unter allen deren Formen. Zum Beispiel wurde das Ereignis Köln 11) im Rahmen des Seminars verarbeitet.

Literatur

Haraway, D. (1988). ‚Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective’. In: Feminist Studies. 14, Nr. 3, Herbst 1988, S. 575–599.
Haraway, D. (1995). Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. Übersetzt von Kelle, H. In: Haraway, D. (1995). Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main, Campus. S.73-97.
Harding, S. (1993). Rethinking Standpoint Epistemology: What is ‘Strong Objectivity’?. In Alcoff, L., Potter, E. (Hrgb.) (1993). Feminist Epistemologies. London: Routledge. S.49-82. Harding, S. (1995). ‘Strong Objectivity’: A Response to the New Objectivity Question. In Synthese, Vol. 104, No. 3, Feminism and Science (Sep., 1995), S. 331-349.
Holmes, B. (2010). Marked Bodies (Gender, Race, Class, Age, Disability, Disease). In: Daniel H. Garrison (ed.), A Cultural History of the Human Body, Vol. 1: In Antiquity. Oxford: Berg.

1)
Dazu verweisen wir Sie an einigen anderen Art des Wissens, die verteidigt werden. Ein Artikel auf Französisch von Lejmi, B. (2010) über das einheimische Wissen: http://bader.lejmi.org/tag/savoirs-situes/. Am 23.09.2017 zuletzt angesehen.
3)
Dazu vgl. Majorek, M. (2002). Objektivität: ein Erkenntnisideal auf dem Prüfstand: Rudolf Steiners Geisteswissenschaft als ein Ausweg aus der Sackgasse. Norderstedt: Books on Demand. Besonders ab S.73.
6)
Dazu eine Reflexion einer französischen Promovierte: https://reflexivites.hypotheses.org/5952
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