Diskussionen und Debatten um die feministische Standpunkttheorie

Erkenntnisgewinn und feministische Wissenschaft

In allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen gibt es Debatten um Methoden, Erkenntnisgewinnung, Forschenden- Erforschten-Beziehungen, etc. Eine sehr zentrale und eigentlich in der Philosophie zu verortende Thematik ist die Beschäftigung mit Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnisgewinnung und Wissensgenerierung.

Die feministische Wissenschaftskritik stellt fest, dass Erkenntnis immer vom sozialen Geschlecht einer wissenschaftlichen Person abhängt, Forschung niemals aus ihren sozialen Kontexten gelöst werden kann und Objektivität, Rationalität und Werturteilsfreiheit (damit ist soziale Unvoreingenommenheit im allgemeinen gemeint) nicht existieren(1). Die feministische Standpunkttheorie ist ein Teilbereich der feministischen Wissenschaftskritik. Im Folgenden soll es um unterschiedliche Ansätze und Auffassungen rund um die feministische Standpunkttheorie gehen.

Kurzer Umriss der Standpunkttheorie

Die Standpunkttheorie ist Teil des größeren Fachgebiets der feministischen Epistemologie, die sich der Frage nach den Möglichkeiten/Bedingungen der Wissensgenerierung bzw. den Erkenntnismöglichkeiten von einem feministischen Standpunkt her nähert. Die Grundannahme, welche die feministische Standpunkttheorie für ihre Vertreter*innen so bedeutend macht, ist, dass Wissen keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann. Damit zeigt sie den klassischen Epistemologien und ihren allgemeinen Geltungsansprüchen Grenzen auf und kritisiert sie stark.

Die Kritik beinhaltet vor allem, dass die Perspektive der erkennenden Person ausgeklammert wurde und behauptet, sie würde im Erkenntnisprozess keinerlei Rolle spielen. Grundlage hierfür ist die Annahme in klassischen Wissenschaftsvorstellungen, dass es objektives Wissen gibt und es von einem erkennenden Subjekt erkannt werden kann, ohne das Erkannte in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Es besteht also die Vorstellung einer Person, die alles beobachten kann, ohne dabei einen Standpunkt einzunehmen. Donna Haraway beschreibt dies als den „God Trick“.

Dem stellen feministische Epistemologien ihre Grundannahme entgegen, dass Darstellungen partiell und verzerrt sind und Wissen situiert ist. In der feministischen Standpunkttheorie liegt deshalb ein Fokus auf der Beschäftigung mit dem erkennenden Subjekt, das für die Verzerrungen und die Situiertheit verantwortlich ist. Es wird festgestellt, dass Subjekte immer in gewissen Wirkungsgeschichten- und gewalten stehen und somit ein Erkennen ohne Einnahme eines Standpunktes unmöglich ist. Subjekte sind nicht mehr körperlos(2), sie sind sichtbar; Ziel ist also nicht mehr alles persönliche und individuelle aus dem Erkenntnisprozess zu entfernen(2). Vielmehr geht es darum, klarzustellen, dass dies nicht möglich ist.

In der Vergangenheit wäre Wissen vor allem von einer homogenen Gruppe bestehend aus privilegierten Männern produziert worden. Dabei sei der feministischen Standpunkttheorie zufolge sehr einseitiges, stark durch die Positionen der Subjekte dieser Gruppe eingefärbtes Wissen entstanden, von dem auch noch behauptet wurde, es wäre universell und objektiv gültig. Deshalb schlägt sie alternativ vor, Wissen von vielen Standpunkten aus und von verschiedensten Subjekten (einer heterogenen Gruppe also) ausgehend zu generieren. Tatsächliche Objektivität (beziehungsweise absolut „Wahres“) sei nicht erreichbar, aber sie könne maximiert werden. Hierfür seien die Ausgangspunkte von marginalisierten und/oder diskriminierten Personen (in der feministischen Standpunkttheorie sind das vor allem Frauen) die beste Möglichkeit, mehr Objektivität zu erreichen. Durch ihre „Außenseiter-Position“ könnten sie Dinge besser und klarer erkennen.

Debatten im Sammelwerk „The Feminist Standpoint Reader“

Überblick

Die feministische Standpunkttheorie ist durch einige Denker*innen geprägt worden, welche sich in kleinen und auch größeren Punkten widersprechen und streiten. Teilweise scheinen die Unterschiede nur kleine Nuancen zu sein und werfen doch große und grundlegende Fragen der Theorie auf. Mit neuen Denker*innen kamen neue Aspekte hinzu, andere rückten in den Hintergrund. Bedeutende Figuren neben Sandra Harding sind Patricia Hill Collins, Nancy C.M. Hartsock, Donna Haraway und Dorothy E. Smith. In dem von Harding 2004 herausgegebenen Sammelwerk „The Feminist Standpoint Reader“ finden sich unter anderem Beiträge von Collins, Hartsock, Haraway und Harding selbst. Das Buch beginnt mit einer Einleitung von Harding und ist im weiteren Verlauf in drei große Punkte unterteilt:

I.: The logic of a Standpoint

II.: Identifying Standpoints

III.: Controversies, Limits, Revisitionings

In Teil I kommen Dorothy E. Smith, Nancy C.M. Hartsock, Donna Haraway, Patricia Hill Collins, Sandra Harding und weitere zu Wort. Interessant ist nun, dass alle eben erwähnten Denker*innen in irgendeiner Form Expert*innen auf dem Gebiet „Feminismus“ sind. So war Haraway Professorin für „Women´s Studies“(3), Harding Leiterin des „UCLA Center for the Study of Women” (4), Hartsock Professorin für “Women´s Studies”, Collins Autorin des Buches “Black Feminist Thought”(5) und Smith Soziologin mit Forschungsinteresse in „Women´s Studies“(6). Susan Hekman hingegen ist keine der Autor*innen, deren Essay/Beitrag im I. oder II. Teil veröffentlicht wurde. Auch sie beschäftigt sich professionell mit feministischen Themen (vor allem mit „postmodern feminism“), ist allerdings Professorin für „Political Sience“(7). In Hardings Sammelwerk taucht sie erst im dritten Teil auf. Sie veröffentlichte den Essay „Truth and Method: Feminist Standpoint Theory Revisited“ und löste damit eine Kettenreaktion an Essay-Antworten aus.

In dem Essay geht sie nach und nach alle wichtigen Denker*innen durch, gibt ihre Thesen in ihren eigenen Worten wieder beziehungsweise interpretiert sie und übt starke Kritik an bestimmten Ideen und der Standpunkttheorie als solche. Smith, Hartsock, Collins und Harding reagieren mit einem Essay(8). Harding und Hartsock beginnen mit der Feststellung, dass Hekman einige valide Punkte anbringe und sie einiges nachvollziehen können(Harding 1997:382/Hartsock 1997:367), auch wenn sie im weiteren Verlauf vieles nicht teilen. Anders verhält es sich bei Collins und Smith. Collins trifft schon im ersten Absatz die Aussage, dass Hartsock in ihren Ausführungen gänzlich den Sinn der Standpunkttheorie verfehle (Collins 1997:375). Smith wirkt gar erbost und beginnt ihren Essay mit „Ich habe diese Zeilen widerwillig verfasst“ (Smith 1997:392). Weiter sagt sie, dass Hekmans Interpretation ihrer Arbeit systematisch so daneben liege, dass sie nicht genau wisse, wie sie darauf antworten solle, ohne sich zu wiederholen (Smith 1997:392). Sie fragt sich, was zu der Fehlinterpretation geführt haben könnte (ebenso in der Chronologie der Geschichte der Theorie, die Hekman in ihren Augen auch völlig falsch darstellt).

Hekman verfasste daraufhin einen abschließenden Essay „Reply to Hartsock, Collins, Harding, and Smith“(8). Sie erklärt, dass sie mit ihrem ersten Essay das Ziel verfolgt habe, eine neue Debatte um die feministische Standpunkttheorie zu eröffnen und sich in dieser Debatte auf die zentralen Punkte, welche die Theorie aufwirft, rückzubesinnen (Hekman 1997/2:399). An vielen Stellen verteidigt sie ihre zuvor getroffenen Aussagen, führt sie weiter aus, präzisiert sie. Dann kommt sie auf Smith zurück und stellt fest, dass die Differenzen mit Smith Ansichten wohl am größten seien (Hekman 1997/2:401). Diese Differenzen zwischen Hekman und Smith ziehe ich als Beispiel heran, um Nuancen unterschiedlicher Auffassungen und Grundannahmen in Bezug auf die feministische Standpunkttheorie aufzuzeigen.

Debatte um die feministische Standpunkttheorie (Hekman, Smith)

Einer der Hauptpunkte Hekmans Kritik an Smith ist, dass sie eine dichotome Trennung zwischen abstrakter Begriffswelt und der Realität aufmache. Demnach behaupte Smith, die Welt der Soziologie sei eine konzeptionelle Welt, die von der gelebten, tatsächlichen Welt der alltäglichen Erfahrung getrennt ist, und plädiere für einen Wechsel der Soziologie auf die andere Seite der Dichotomie. Auf dieser anderen Seite verorte Smith auch das Wort der Frauen, denn dieses sei ihrzufolge „materiell und lokal“, Abbild der Welt, wie wir sie tatsächlich erleben. Die Definitionen führten Smith zu ihrer Definition des „Frauenstandpunkts“ (Hekman 1997:347). Smith entgegnet, sie würde in keiner Weise einen feministischen Standpunkt empfehlen, weiterhin würde sie auch nicht versuchen, feministisch generiertes Wissen zu rechtfertigen. Außerdem würde ihre Argumentation nicht dahingehen, zu behaupten, dass der Standpunkt einer Frau in der „wahren“ Realität zu verorten wäre. Stattdessen behaupte sie vielmehr, dass der Standpunkt von Frauen uns zu den Realitäten unseres Lebens zurückführt, wie sie in den lokalen Besonderheiten der alltäglichen Welten erlebt werden, in denen unser körperliches Sein uns verankere. Weiterhin würde sie nicht die Realität umklammern, während sie Konzepte ablehne. Es sei gerade die Kraft des Standpunktes einer Frau, dass er in der Lage ist, Konzepte, Theorien und Diskurse in die Wirklichkeit als tatsächliche Praxis oder Aktivität der Menschen einzubetten (Smith 1997:393).

Smith findet das „Über-Erfahrungen-Sprechen“ sehr wichtig, noch wichtiger die Anerkennung dieser Erfahrung (und des darüber Gesprochenen). So sagt sie, die Autorität der Erfahrung wäre grundlegend für die Frauenbewegung (gewesen) (Smith 1997: 394), in der sie auch die Wurzeln der Standpuntktheorie verortet (Smith 1997:392). Erfahrung sei eine Methode des Sprechens, gar ein Spiel: ein Sprachspiel. Es sei die Sättigung der Erfahrung als Sprachspiel mit sozialen Beziehungen, die Hekmans Vorstellung, der Standpunkt löse sich letztlich in das endlose idiosynkratrische Bewusstsein einzigartiger Individuen auf, ad absurdum führe (Smith 1997:394).

Smith stellt außerdem die These auf, dass einige Frauen in der Frauenbewegung den Wunsch entwickelt hätten, direkt von dem, was sie aufgrund von Teilnahme an sozialen Beziehungen wissen, zu Wissensansprüchen auf der Ebene eines universalistischen Diskurses überzugehen. So würde die Standpunkttheorie häufig verstanden. Smith geht davon aus, dass auch Hekman sie so verstünde. Es würden aus vorherig Beschriebenem eine Grundlage für Wissensansprüche erdacht, für die die Erfahrung von Frauen privilegiert sei. Smith hingegen stelle diese Behauptung nicht auf. Sie ist vielmehr der Ansicht, dass der Standpunkt von Frauen sowie der Ausgangspunkt der Erfahrung Zugang zu einem Wissen verschaffe, das sonst stillschweigend im Tun vorhanden ist, aber oft (noch) nicht diskursiv angeeignet wurde (Smith 1997:395).
Hekman fokussiert sich weiter auf eine ihrer ersten Thesen, Smith würde behaupten das Wissen von Frauen wäre gegenüber jenem von Soziolog*innen überlegen. Sie erklärt außerdem, Smith hätte keinerlei Argumente, welche diese These stützen würden (Hekman 1997:352). Smith weist von sich, jemals behauptet zu haben, dass das Wissen von Frauen dem abstrakten Wissen der Soziolog*innen überlegen wäre, schon allein deshalb, weil ihr Interesse einer Soziologie gelte, die das, was die Menschen als Praktiken unseres alltäglichen Lebens kennen, nicht verdränge, sondern darauf aufbaue und es über den Horizont der täglichen Erfahrung einer einzelnen Person erweitere (Smith 1997:396).

Quellen

Stellennachweise

(1): Schirmer, Dominique. Folien 26ff, Einführung in die empirische Sozialforschung, Erkenntnistheorien und Methodologien.

(2): Harding, Sandra 2004. Rethinking Standpoint Epistemology: What Is ‚Strong Objectivity‘?. New subjects of Knowledge, in: The Feminist Standpoint Reader, 2004, Routledge: 127–140.

(3): https://en.wikipedia.org/wiki/Donna_Haraway.

(4): https://en.wikipedia.org/wiki/Sandra_Harding#Books.

(5): https://en.wikipedia.org/wiki/Patricia_Hill_Collins.

(6): https://en.wikipedia.org/wiki/Dorothy_E._Smith.

(7): https://en.wikipedia.org/wiki/Susan_Hekman.

(8): Harding, Sandra 2004 (Hg.). The Feminist Standpoint Theory Reader. New York. Routledge.

Sonstige Literatur

  • Harding, Sandra 1997. Comment on Hekman's ‚Truth and Method: Feminist Standpoint Theory Revisited‘. Whose Standpoint Needs the Regimes of Truth and Reality?, in: Signs, Vol. 22 (2): 382–391.
  • Hartsock, Nancy C.M 1997. Comment on Hekman's ‚Truth and Method: Feminist Standpoint Theory Revisited‘. Truth or Justice?, in: Signs, Vol. 22 (2): 367–374.
  • Hekman, Susan 1997. Truth and Method. Feminist Standpoint Theory Revisited, in: Signs, Vol. 22 (2): 341–365.
  • Hekman, Susan 1997. Reply to Hartsock, Collins, Harding, and Smith, in: Signs, Vol. 22 (2): 399–402.
  • Hill Collins, Patricia 1997. Comment on Hekman's ‚Truth and Method: Feminist Standpoint Theory Revisited‘. Where´s the Power?, in: Signs, Vol. 22 (2): 375–381.
  • Smith, Dorothy E. 1997. Comment on Hekman's ‚Truth and Method: Feminist Standpoint Theory Revisited‘, in: Signs, Vol. 22 (2): 392–398.
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