Chan-Boards

2003 wurde das Imageboard 4chan gegründet, 2011 hatte es laut Angela Nagle bereits große Popularität besessen (vgl. Nagle 2017: 17). Heute werden täglich eine Million Posts auf 4chan produziert, wovon drei Viertel von Nutzerinnen aus dem anglophonen Raum stammen (vgl. Tuters 2019: 40).

Chan-Kultur

Imageboards zeichnen sich durch eine einfache Zugänglichkeit und hohe Anonymität aus: Nutzerinnen haben keine Konten, keine festen Namen und damit keine gegenseitigen Identifikations- oder Unterscheidungsmerkmale, fast jeder postet oder kommentiert als ‚Anonymous‛. Nach dem Verständnis Robert Kozinets, dem Entwickler der Netnographie, dürfte man hier gar nicht von einer Gemeinschaft sprechen (vgl. Kozinets 2010: 10). Limor Shifman und Asaf Nissenbaum (vgl. 2017: 488), die Kozinets Methoden dennoch auf den Chanboards anwandten, sehen durch deren Anonymität gar eine Verschärfung der Statuskämpfe zwischen den Akteuren gegeben, da diese beständig ausgefochten werden müssen. Chanboards scheinen geradezu „das Paradies des Interaktionismus“ (Latour 2001: 241) zu sein, von dem Bruno Latour meint, es nur bei Primaten finden zu können: „Um den Stärkeren zu bestimmen, gibt es zwischen den männlichen Pavianen aggressive Auseinandersetzungen. […] Jedem Affen stellt sich das Problem zu wissen, wer stärker oder schwächer ist als er, und Beweisproben zu entwickeln, die es ermöglichen, dies zu entscheiden.“ (Ebd.: 240). Da Memes, um als legitim anerkannt zu werden, einen dünnen Grad zwischen Repetition und Abwandlung vorangegangener Memes treffen müssen (vgl. ebd.: 484), und ihre Produktion und Verwendung daher eine Vertrautheit mit der sie umgebenden Kultur erfordern – praktisch gesagt: viel verbrachte Zeit auf den Chanboards – kommt ihnen bei diesen Statuskämpfen eine besondere Rolle zu: Nutzerinnen können sich mit ihnen als langjährige und legitime Mitglieder der Gemeinschaft ausweisen, und exkludieren gleichzeitig Nutzer, die sich durch Missnutzung von Memes als ‚Newfags‛ zeigen (vgl. ebd.: 489).

Die Kultur der Chanboards, die sich unter diesen Rahmenbedingungen entwickelte, ist oft von Aggressivität, Zynismus und Schockhumor geprägt (vgl. ebd.: 487), hinzu kommen Selbstverachtung und kulturelle Bezugspunkte wie Videospiele, Filme, Animes oder Mangas (vgl. Nagle 2017: 17). Beleidigungen, oftmals mit antisemitischen, rassistischen oder misogynen Konnotationen, sind gang und gäbe. In einer Studie zum rechtsextremen Unterboard für deutsche Politik, Kraut/pol/, enthielten 57% der gezählten Nennungen von Juden Elemente antisemitischer Ideologie (vgl. Ebner et al. 2020: 36). Wer schon einmal ein /pol/-Board besuchte, dürfte das als eine sehr geringe Zahl einschätzen, da so gut wie jede Benennung von Juden dort abwertend oder beleidigend formuliert wird. Tatsächlich haben die Forscherinnen unter anderem bloße Beleidigungen ausgeklammert, da diese Teil des Umgangstons auf Kraut/pol/ sind, und nur solche Aussagen als antisemitisch gewertet, die auch in einem ideologischen Sinn den Mustern des Antisemitismus folgen (vgl. Ebner et al. 2020: 65).

Wirkung nach außen

Die Chanboards bleiben seit jeher nicht für sich: Auf 4chan entwickelte Memes wie das Rickrolling fanden und finden ihren Weg in Mainstream-Kultur, es gab schon früh koordinierte Mobbingkampagnen gegen Außenseiter, dem ‚Random‛-Unterboard /b/ entsprang in den 2000er-Jahren die anarchische Hackerbewegung Anonymous, die akzelerationistische Boogaloo-Bewegung entstammt dem Waffennarren-Board /k/, und einige Autorinnen sehen das Board für politisch Inkorrektes, /pol/, als Geburtsstätte der Alt Right (vgl. Stöcker 2020). Wie im Eintrag zur Alt Right herausgestellt wird, entstammt der Name der Bewegung jedoch der Feder des rechten Intellektuellen Richard Spencer. Die Gamergate-Bewegung zeigte sich 2014 ebenfalls auf 4chan, wurde dort jedoch zensiert, was eine Popularisierung der Konkurrenzplattform 8chan bewirkte (vgl. Laufer 2019). Diese war auch das erste Epizentrum der derzeit für Kontroversen sorgenden Verschwörungstheorie-Bewegung QAnon. Nachdem im Frühjahr und Sommer 2019 mehrere rechtsextreme Terroristen, darunter Brenton Tarrant, ihre Attentate auf 8chan ankündigten, kündigten verschiedene Anbieter der Seite ihre Dienste. Seither ist 8chan offline (vgl. Laufer 2019).

4chan und 8chan sind, respektive waren, U.S.-basiert und orientierten ihre (zumeist von Ehrenamtlichen ausgeführte) Moderation an den vergleichsweise nachsichtigen dortigen Hassrede-Gesetzen. In einer Umfrage auf dem rechtsextremen /pol/-Board auf 4chan gaben 54% der Nutzer an, die Seite aus einem Wunsch nach der Möglichkeit zur freien Rede zu nutzen (vgl. Ebner et al. 2020: 24).

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Zum Literaturverzeichnis

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