Inhaltsverzeichnis
Pfade zum infrastrukturellen Regime der Wissensgesellschaft
1. Einleitung
Kapitel sieben widmet Eva Barlösius den „Pfade[n] zum infrastrukturellen Regime der Wissensgesellschaft“. Im Fokus ihrer Untersuchung steht die Frage, ob aktuell und zukünftig die Entwicklung in ein oder in mehrere neue infrastrukturelle Regime stattfindet (Infrastrukturelles Regime). Barlösius sammelt in diesem Kapitel Anzeichen dafür, dass mit der Infrastrukturierung von Forschung größere Umbrüche zusammenhängen, die das Potential besitzen, das gesamte infrastrukturelle Regime zu wandeln. Dabei bezieht sie sich auf den Umbruch des infrastrukturellen Regimes der Wohlfahrtsgesellschaft und möchte anhand von Parallelen zeigen, dass sich ein ähnlich tiefgreifender Veränderungsprozess bereits anbahnt, der soziologische Fragen aufwirft. Barlösius` Werk kommt hier einer Gesellschaftsdiagnose, zu der sie mittels ihrer soziologischen Analyse von Infrastrukturen beitragen möchte, am nächsten.
Pfade zum infrastrukturellen Regime der Wissensgesellschaft
Welche konkreten Anzeichen des Wandels meint Barlösius, wenn sie von Pfaden zum infrastrukturellen Regime der Wissensgesellschaft spricht? Inwiefern prägen diese Veränderungen ein oder mehrere neue infrastrukturelle Regime durch kanonische Eigenschaften? Geht damit eine veränderte Sozialität einher? Welche soziologischen Implikationen folgert Barlösius also aus den analysierten infrastrukturellen Veränderungen? Um diese Fragen kreist der Abschnitt zwei dieses Wiki.
Die Essenz des Kapitels besteht dabei in den zahlreichen Schnittstellen, die Barlösius eröffnet und die auch den inhaltlichen Rahmen dieses Wiki-Eintrags bilden:
Der Titel des Kapitels deutet dabei bereits darauf hin, dass Barlösius' Gesellschaftsdiagnose Bezug auf das Konzept der Wissensgesellschaft nimmt. Abschnitt drei möchte darlegen, was dieses Konzept besagt und inwiefern es sich als tragfähig erweist. Er thematisiert, welche Rolle Forschung bzw. dessen Infrastrukturierung in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts einnimmt. Exemplarisch wird anschließend die soziale Ungerechtigkeit digitaler Infrastrukturen behandelt.
Bei der Diskussion um Infrastrukturen, deren Wandel und Sozialität sollte eine soziologische Perspektive auf die seit 2019 anhaltende Corona-Pandemie nicht fehlen – hat sie Infrastrukturen und deren Relevanz doch in ein neues Licht gerückt. Abschnitt vier beleuchtet daher, inwiefern Barlösius' Diagnosen den infrastrukturellen Veränderungen im Zuge der Pandemie standhalten und welche alternativen Entwicklungsszenarien denkbar sind.
2. Infrastruktureller Wandel nach Barlösius
2.1 Worin besteht der Wandel?
Die Diagnose eines infrastrukturellen Wandels stellt eines der Hauptziele des Werks „Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste“ von Eva Barlösius dar. Dabei schildert sie in einer Auswahl von Fallstudien verschiedene Veränderungen der infrastrukturellen Strukturierungsweise, die auf unterschiedlichen Treibern beruhen und in ihrer Gesamtsumme die Diagnose des neuen infrastrukturellen Regimes der Wissensgesellschaft untermauern sollen. Die Tabelle stellt einen Überblick der von Barlösius präsentierten Fallstudien und ihre Hauptaussagen dar:
Fallstudie/Thematik | Treiber des Wandels | Wandel der infrastrukturellen Strukturierungsweise | Seiten |
---|---|---|---|
Fallstudie 1: Dörflichkeit | Prozesse gesellschaftlicher Transformation, sodass Einrichtungen nicht mehr rentabel sind | Verdörflichung: Einrichtungen im Dorf werden nun als Infrastruktur betrachtet und gestaltet | S. 95-111 |
Fallstudie 2: Kategorisierung und Klassifikation durch den Staat | Veränderte Auffassung von Praxis und Staatlichkeit | Von flächenbezogener Staatlichkeit hin zur Erreichbarkeit infrastruktureller Vorleistungen, „De-Lokalisierung“ | S. 112-132 |
Fallstudie 3: Ressortforschungseinrichtungen als policy-making-infrastructure | Gestiegene sozial-strukturelle und politische Diversität, Heterogenität, räumliche Ausweitung, veränderte infrastrukturelle Sozialität | Neue Anforderung: Beitrag zur politisch gesellschaftlichen Konsensgenerierung | S. 132-152 |
Fallstudie 4: Infrastrukturierung von Forschung | Staatliche und staatlich-autorisierte Akteure der Wissenschaftspolitik | Prozesse der Infrastrukturierung, Folge: Neue Regelwerke und eine neue Sozialität | S. 152-176 |
Tabelle: Wandel der infrastrukturellen Strukturierungsweisen und seine Treiber. Vier Fallstudien. (Eigene Darstellung, vgl. Barlösius 2019, S.95-176)
2.2 Tiefgreifende und charakteristische Veränderungen
Wie ähnlich sich der Prozess der infrastrukturellen Strukturierungsweise in der Wissensgesellschaft zu dem der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft entwickelt hat, will Barlösius betonen, indem sie die Ähnlichkeit der kanonischen Eigenschaften gegenwärtiger Forschungsinfrastrukturen zu denen der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft aufzeigt. Zu den kanonischen Eigenschaften führt sie Folgendes an:
- Die Forschung und Forschungsinfrastrukturen nehmen neue Rollen in der Wissensgesellschaft ein
- Daten dienen als Treiber der Wissensgesellschaft und der Infrastrukturierung von Forschungsdaten
- Die Digitalisierung kennzeichnet nicht nur den Forschungsbereich, sondern ist ubiquitär und führt zu grundlegender gesellschaftlicher Umwälzung
- Der Aufbau und der Betrieb von Infrastrukturen der Forschung und anderer Felder erfolgt durch kapitalistische Unternehmen in Monopolstellung
- Es bestehen Herausforderung der politischen Steuerung und Gestaltung der (Forschungs-)Infrastrukturen
- Der Zugang zu digitalen Infrastrukturen gilt als Zukunftschance
Dabei wird vor allem deutlich, wie essentiell die infrastrukturellen Vorleistungen der Wissenschaft für das gesamtgesellschaftliche Konzept der Wissensgesellschaft zu sein scheinen. Während die Elektrizität als Treiber der infrastrukturellen Organisation der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft galt, dominiert in der Wissensgesellschaft die Digitalisierung und die Organisation durch Daten in allen Bereichen. So funktioniert mittlerweile alles, wie Austausch, Organisation und Speicherung von Daten, generisch mit standardisierten Programmen über den Computer oder das Smartphone, wohingegen solche Prozesse zuvor analog und viel bereichsspezifischer abliefen. Die früheren infrastrukturellen Errungenschaften gelten zwar weiterhin als gesellschaftliche Grundlage, sind aber weitaus weniger zentral als infrastrukturelles Ordnungsprinzip der Gesellschaft. Zur inklusiveren Gestaltung der Infrastrukturen der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft, das heißt zu vereinfachten Zugangsmöglichkeiten, verhalf damals deren Verstaatlichung. Heute wird vor allem die Forderung nach Open Data immer lauter, um die meist finanziellen Barrieren im Hinblick auf Datenzugänge abzubauen, welche sich auch in der Open Data Charter wiederfinden. Dabei steht aber scheinbar weniger der individuelle Vorteil im Mittelpunkt, sondern der Nutzen für ein gedeihendes Wirtschaftswachstum und (gesellschaftliche) Innovationen. In ebenjenen Entwicklungsmöglichkeiten, die aus der Art und Weise der Infrastrukturierung der Gesellschaft resultieren, sieht Barlösius den Zusammenhang mit den Zukunfts- und Teilhabechancen der Gesellschaft überhaupt. Ohne diese würde man von den künftigen Transformationen des infrastrukturellen Regimes abgehängt.
2.3 Veränderte Sozialität: Ansätze einer Gesellschaftsdiagnose
Durch die territorialisierte Staatlichkeit der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft entstand damals eine sozial-räumliche Homogenisierung der Gesellschaft auf mehreren Ebenen (vgl. Barlösius 2019, S.195). Die Entwicklungen der Wissensgesellschaft hingegen lassen für Barlösius Hinweise für gegensätzliche Transformationen des infrastrukturellen Regimes zu. Gründe dafür bestehen in der zunehmenden Komplexität und überräumlichen Wirkung von Infrastrukturen durch die globale Vernetzung. Auch die Getriebenheit durch Daten sowie deren offenere Zugänglichkeit spielen dabei eine Rolle. So sind Infrastrukturen weniger ortsgebunden, lassen ein höheres Maß an Mitwirkung zu und bilden heterogenere infrastrukturelle Sozialitäten aus, welche unterschiedlichste kulturelle, soziale und politische Teilbereiche durchdringen. Ermöglicht wurden und werden diese Transformationen vor allem durch Wissenschaft und Forschung, welche für sie die Basis der infrastrukturellen Zukunftschancen bilden (vgl. ebd. S.196).
Ihre Prognose beschränkt sich damit also nicht nur auf die tiefgreifende und fortschreitende Transformation des infrastrukturellen Regimes insgesamt, sondern verweist auch auf die Möglichkeit der Bildung von mehreren infrastrukturellen Regimes. Dabei besteht jedoch eine Abhängigkeit von politischen und gesellschaftlichen Konfigurationen, besonders in Krisensituationen (aktuell, siehe unten: Infrastruktureller Wandel und Corona). Für Barlösius steht damit vor allem ein historischer Umbruch des Regimes, ob nun geradlinig verlaufend oder in mehrere Richtungen weisend, bevor.
3. Die Wissensgesellschaft
Im Titel des siebten Kapitels wird deutlich, dass Barlösius auf das Konzept der Wissensgesellschaft zurückgreift, indem sie ihren Entwurf eines veränderten infrastrukturellen Regimes eben dieser Gesellschaft skizziert. Dabei beschreibt sie dieses Konzept jedoch nicht, weshalb es hier in seinen Grundzügen, seiner Kritik und seinen soziologischen sowie infrastrukturellen Implikationen kurz dargestellt wird.
3.1 Überblick und Kritik
Der Begriff „Wissensgesellschaft” kam in den 1970er Jahren auf und beruht auf dem Konzept der “knowledgeable society” von Robert E. Lane. Ausgehend von der Industriegesellschaft ist damit ein tiefgreifender Strukturwandel gemeint, bei dem die Bedeutung von Wissen steigt (vgl. Reinecke 2010). In der Ökonomie wächst Wissen zunehmend zum entscheidenden ökonomischen Faktor.
Bildquelle: Blickpunkt WiSo (letzter Aufruf: 18.09.2021). Information zu den Bildrechten: „Die hier abrufbaren Schaubilder zu wirtschafts-, sozial- und verteilungspolitischen Themen dürfen in unveränderter Form frei verwendet, verbreitet und auf anderen Webseiten eingebunden werden“ (Blickpunkt WiSo).
Es findet eine Verschiebung von der Güterproduktion in der Industriegesellschaft hin zu einer Dienstleistungsökonomie statt, was sich auch in der Entwicklung der Erwerbstätigen nach Wirtschaftssektoren zeigt.
Außerdem dient wissenschaftlich generiertes Wissen in der Wissensgesellschaft als Grundlage politischen Handelns, was auch Barlösius in Kapitel 6.3 beschreibt (Politische Entscheidungen und staatliches Handeln vorbereitende Infrastrukturen). Dabei stellt Wissen einerseits ein Instrument zur politischen Problemlösung dar, andererseits bietet es Legitimation für politische Entscheidungen (vgl. AutorInnenkollektiv 2010, S.9).
Der diagnostizierte Wandel bleibt dabei nicht ohne gesellschaftliche Auswirkungen. So steigt mit der Bedeutungszunahme von Wissen auch die Notwendigkeit sowie der Wert von Bildung. Problematisch dabei: „Mit dem Wissen wächst zugleich das Nichtwissen; Wissen ist ungleich verteilt” (Belwe 2002). Das Konzept der Wissensgesellschaft ist dabei anschlussfähig an Urich Becks Individualisierungsthese. Demnach sieht sich das Individuum durch das Auflösen traditioneller Lebensentwürfe der Industriegesellschaft damit konfrontiert, seine eigene „Wahl- bzw. Bastelbiographie” zu gestalten. Nico Stehr diagnostiziert eine Zerbrechlichkeit der Gesellschaft in der Wissensgesellschaft, da eine größere individuelle Handlungsfähigkeit und der beschleunigte Wandel zu enormer Unvorhersehbarkeit führen (vgl. AutorInnenkollektiv 2010, S.6).
Dabei besteht auch starke Kritik an der Konzeption der Wissensgesellschaft. Während allgemeine Kritik besonders auf den der Konzeption inhärenten Fortschrittsoptimismus sowie auf den Fokus auf westliche Industrienationen abzielt, sehen Christine Resch und Heinz Steinert (2006) die Statuskämpfe, die die Gesellschaftsdiagnose hervorrufe, kritisch. Sie bewerten die Wissensgesellschaft als Erfahrung einer gewissen Klasse und nicht als allgemein gültige Transformation. Die Konzeption stelle die Abwertung und den Ausschluss derer dar, die nicht als Wissensarbeiter*innen fungieren und somit „überflüssig“ sind. Dem positiven Narrativ der Wissensgesellschaft für Privilegierte setzen sie Konkurrenz als dominante Erfahrung weniger Hochqualifizierter entgegen (vgl. Resch/Steinert 2006, S. 230). Uwe W. Bittlingmayer (2002) betont so, dass es sich bei der sogenannten Wissensgesellschaft primär um eine spätkapitalistische handle- worauf auch der Begriff des kognitiven Kapitalismus bzw. capitalisme cognitif abhebt (vgl. AutorInnenkollektiv 2010, S. 18).
Diese Kritik erweist sich mit Blick auf Barlösius` aus den Infrastrukturen der Wissensgesellschaft abgeleiteter Gesellschaftsdiagnose (siehe 2.3 in diesem Wiki) als interessant. Über die Infrastrukturen der Wissensgesellschaft wird deutlich, dass sich die Bedeutung von Wissen auch in der Veränderung und Anpassung der Infrastrukturen niederschlagen muss. Der Aufbau einer solchen Infrastruktur ist dabei nicht selten auf Städte konzentriert, während er für periphere Regionen eine erhebliche Herausforderung darstellt. Eine weitere Besonderheit im Hinblick auf Infrastrukturen der Wissensgesellschaft stellt die Abnahme der Staatsouveränität dar, auf die Nico Stehr hinweist (vgl. AutorInnenkollektiv, S.6). Eine Diagnose, die auch Barlösius aufgreift, um den Kontrast zum infrastrukturellen Regime der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft darzustellen.
3.2 Exkurs: Die soziale Ungerechtigkeit von digitalen Infrastrukturen
In Barlösius Konzeption des infrastrukturellen Regimes und der infrastrukturellen Sozialitäten wird immer wieder deutlich, dass sich diese keineswegs neutral gestalten, sondern immer auch politisch wirken. Eine weitere sozial-politische Dimension des infrastrukturellen Regimes, die von ihr aber weniger zentral behandelt wird, entspricht also der sozialen Ungerechtigkeit, die dem Mechanismus von Inklusion-Exklusion durch Infrastrukturen inhärent sind. So gestalten sich auch digitale Infrastrukturen alles andere als neutral und führen unter anderem zu sozialer Ausgrenzung, Reproduktion von Machtverhältnissen und Diskriminierung, schlechteren Jobchancen oder zu fehlenden Bezugsmöglichkeiten von Wissen allgemein. Dabei spielt nicht nur der materielle und finanzielle Zugang zu diesen eine wichtige Rolle, z.B. durch fehlende Internetanbindungen oder den Preis für Soft- und Hardware, den sich eben nicht alle Gesellschaftsgruppen leisten können. Wichtig sind auch die ungleichen Möglichkeiten zur Nutzung oder zur Gestaltung von digitalen Infrastrukturen. Die digitalen Kompetenzen bei beispielsweise älteren Personen oder Personen mit niedrigerem Bildungsniveau sind oft unterdurchschnittlich (vgl. Digitale Ungleichheit 2020, S.11) (siehe Grafik) und führen damit auch zu Exklusionen.
Bildquelle: https://initiatived21.de/app/uploads/2020/06/grafik-bildungsabschlsse-bildung-in-corona-zeit-1280x613.png (letzter Aufruf: 18.09.2021).
Zudem werden digitale Produkte meist durch weiße Männer gestaltet, die ihre Werte und Stereotypen in die digitalen Produkte einschreiben und sie auf bestimmte Zielgruppen ausrichten. Dabei wandelt sich der real bestehende Bias in einen Daten-Bias (vgl. ebd. S.19) um und reproduziert sich über diverse Algorithmen und Programme. So reproduziert die Befehle entgegennehmende Frauenstimme des Sprachassistenzsystems Siri beispielsweise sexistische Weltbilder (vgl. ebd. S.17f) und Gesichtserkennungsprogramme bei Kameras, die nur weiße Personen erkennen, spiegeln gesellschaftliche Diskriminierungen wider.
Diese Art der Infrastrukturierung der Wissensgesellschaft führt also nicht nur zu großen Zukunftschancen, sondern vertieft unter anderem die ohnehin schon bestehenden Ungleichheiten. In Bezug auf digitale Infrastrukturen werden deshalb vor allem bedarfs- und nutzerorientierte Entwicklungsprozesse, niedrigere Zugangsschwellen und Nutzungsschulungen benötigt, die diese gesellschaftlich inklusiver gestalten können.
4. Infrastruktureller Wandel und Corona
4.1 Die Corona-Pandemie und infrastrukturelle Veränderungen
Die Covid-19-Pandemie bestimmt seit deren Ausbruch das gesamte Weltgeschehen in unterschiedlichsten Facetten und Lebensbereichen. Besonders weitreichend gestalten sich dabei die Veränderungen, die seitdem die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereiche durchdringen, mithin der „Strukturierung der Gesellschaft mittels Infrastrukturen“ (Barlösius 2019, S.10). So lassen sich insbesondere bei den sogenannten kritischen Infrastrukturen Änderungen beobachten, die auf weitere Transformationen des infrastrukturellen Regimes nach Barlösius hinweisen könnten.
4.2 Kritische Infrastrukturen in Deutschland
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe definiert die kritischen Infrastrukturen für Deutschland zusammen mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik wie folgt:
„Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.“ - Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe
Zu diesen kritischen Infrastrukturen zählen beispielsweise sowohl staatlich als auch privat organisierte Infrastrukturen aus den Sektoren Energie, Gesundheit, Transport, Medien und Kultur, Informationstechnik und Ernährung. Im Zuge der Corona-Krise wurde dabei vor allem die Widerstandsfähigkeit des Gesundheitssektors strapaziert. Dessen Wichtigkeit für das Funktionieren der Gesellschaft wurde immer wieder, gemeinsam mit den Infrastrukturen zur Versorgung mit Nahrungsmitteln, unter dem Stichpunkt der systemrelevanten Infrastrukturen hervorgehoben. Dabei wurden diese zunächst nicht nur zusätzlich durch die Unterversorgung an medizinischen Mund-Nase-Masken und die Hamsterkäufe im ersten deutschen Lockdown 2020 belastet- auch wurde der gesellschaftliche Zusammenhalt insgesamt auf die Probe gestellt.
4.3 Gesellschaftliche Folgen der (infrastrukturellen) Veränderung
Bildquellen: www.boeckler.de/data/homeoffice.jpg / https://www.boeckler.de/de/auf-einen-blick-17945-Auf-einen-Blick-Studien-zu-Homeoffice-und-mobiler-Arbeit-28040.htm(letzter Aufruf: 22.03.2022).
Die begrenzte Mobilität durch die staatlichen Einschränkungen von beispielsweise Reisen, Kontakten sowie weitere Restriktionen des öffentlichen Lebens seit des ersten deutschen Lockdowns brachten (Tendenzen) infrastrukturelle/r Verschiebungen mit sich, die sich global bemerkbar machten. So verlagerte sich die räumlich gebundene Vernetzung immer mehr in den digitalen Raum, der sich Stück für Stück aufrüstete, um Telearbeit, Bildungsinfrastrukturen und auch sozialen Kontakten gerecht zu werden. Daher kann dieser Raum als Chance einer neuen infrastrukturellen Realität betrachtet werden, da deutlich wird, was zukünftig über das Bestehende hinaus noch möglich sein könnte. Andererseits werden damit auch Grenzen infrastruktureller Möglichkeiten abgesteckt, welche sich in der eingeschränkten Substituierbarkeit von beispielsweise räumlich fixierten Institutionen, zwischenmenschlichen Interaktion und Veranstaltungen sowie Aufgabenbereichen und Kompetenzen niederschlagen. So eignen sich Eltern aus persönlicher Befangenheit zum Beispiel nur bedingt als Ersatz für fachlich und pädagogisch spezialisierte Lehrkräfte (Ersatzstrukturen 2020). Die Restriktionen des öffentlichen Lebens beeinflussen seitdem nicht zuletzt die Zukunftschancen kleiner Unternehmen, wie Kleider-, Buchhandel oder Kleingastronomien, die nicht als systemrelevant gelten und durch die Einschränkungen der Pandemie wirtschaftlich abgehängt wurden, nachhaltig. Um den gesellschaftlichen Anschluss nicht zu verlieren, galt es für diese, entweder auf staatliche Unterstützung zu setzen oder alternative Geschäftsmodelle zu entwickeln, welche sich auf Seiten der Konsument*innen in Form von Online-Handel und Lieferdiensten auch immer größerer Beliebtheit erfreuten.
Auch Wissenschaft und Forschung erlebten seit Beginn der Corona-Krise einen infrastrukturellen Boom, der nicht nur in deren Anteil an der Bekämpfung der Pandemie bestand, sondern sich aufgrund des gesellschaftlichen Interesses auch medial, mit eigenen Medienformaten oder klassisch in Zusammenarbeit mit der Presse niederschlug. Nachrichten, Zahlen und Forschungsdaten sind von Anfang an ein täglicher Bestandteil der öffentlichen Kommunikation der Krise und bringen den Infrastrukturen der Wissenschaft und Forschung sowohl gesellschaftlichen Zuspruch, als auch immer wieder Kritik ein, die insbesondere auf den politischen Entscheidungen begründet ist, welche sich auf den Stand der Wissenschaft berufen. So lassen sich seitdem gesellschaftliche Heterogenisierungstendenzen zu politischen Meinungen beobachten, die sich teilweise stark kritisch zu staatlich betriebenen Infrastrukturen und politischen Entscheidungen positionieren. Die je nach Infektionsgeschehen immer wieder angepassten Corona-Verordnungen der Landesregierungen, die aufgrund des deutschen Infektionsschutzgesetzes erlassen wurden, beinhalten nach Barlösius formale Regelwerke, die sich überwiegend auf Verhaltensregeln, wie das Tragen von Mund-Nasen-Masken bei der Nutzung bestimmter Infrastrukturen, und Zugangsregeln, wie der Nachweis eines negativen Corona-Tests bzw. eines Impfnachweises zum Zutritt zu bestimmten Infrastrukturen, beziehen. Aber auch informelle Regelwerke etablierten sich gesellschaftlich, die sich dabei vor allem auf den zwischenmenschlichen Kontakt beziehen, wie beispielsweise der Verzicht auf den Händedruck zur Begrüßung.
Welche dieser infrastrukturellen Transformationen seit Beginn der Corona-Krise langfristig erhalten bleiben, wird sich zukünftig noch unter Beweis stellen müssen. Dass solche Krisen offenbar große infrastrukturelle und gesellschaftliche Umwälzungen in kurzer Zeit anstoßen können, würde Barlösius aber gut als Argument dafür gebrauchen können, dass Infrastrukturen allgemein „als Weichensteller für künftige gesellschaftliche Entwicklungen“ (Barlösius 2019, S.11) dienen. Auch wenn digitale Infrastrukturen in der Corona-Pandemie stark genutzt wurden, lässt sich durch die Einschränkungen und Erfahrungen der Krise gleichzeitig eine gewachsene Anerkennung analoger, physischer Infrastrukturen erkennen, die der heterogenisierenden Logik des wohlfahrtstaatlichen infrastrukturellen Regimes folgen. Diese duale Entwicklung konnte Barlösius nicht vorhersehen und macht es umso offener, wie das infrastrukturelle Regime der Zukunft ausgestaltet sein wird.
5. Literatur und Quellen
AutorInnenkollektiv (2010): Wissen und soziale Ordnung: Eine Kritik der Wissensgesellschaft. Mit einem Kommentar von Stefan Beck. Working Papers des Sonderforschungsbereiches 640. Hier verfügbar (letzter Aufruf: 18.09.2021).
Barlösius, Eva (2019): Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste. Ein Beitrag zur Gesellschaftsanalyse. Frankfurt/New York: Campus.
Belwe, Katharina (2001): Editorial. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 36). Hier verfügbar (letzter Aufruf: 18.09.2021).
Bittlingmayer, Uwe H. (2001): „Spätkapitalismus“ oder „Wissensgesellschaft“? In: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 36). Hier verfügbar (letzter Aufruf: 18.09.2021).
Holzer, Boris (2020): Ersatzstrukturen- Die Corona-Krise als Gesellschaftsexperiment. Soziopolis- Gesellschaft beobachten. Hier verfügbar (letzter Aufruf: 18.09.2021).
Reidl, Sybille, Jürgen Streicher, Marlene Hock, Beatrix Hausner, Gina Waibel und Franziska Gürtl (2020): Digitale Ungleichheit- Wie sie entsteht, was sie bewirkt … und was dagegen hilft. Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft mbH (FFG). Hier verfügbar (letzter Aufruf: 18.09.2021).
Reinecke, Christiane (2010): Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft. Docupedia-Zeitgeschichte. Hier verfügbar (letzter Aufruf: 18.09.2021).
Resch, Christine; Steinert, Heinz (2006): Statuskämpfe der Wissensgesellschaft: Die Nutznießer und die Ausgeschlossenen. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.): Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004. Frankfurt/New York: Campus. Hier verfügbar (letzter Aufruf: 18.09.2021).
Tagesschau (2021): Einzelhandel in der Pandemie- Wer profitiert vom Online-Boom?. Hier verfügbar (letzter Aufruf: 18.09.2021).