Inhaltsverzeichnis
Vervielfältigung der Bewährungen: Politische Entscheidungen und staatliches Handeln vorbereitende Infrastrukturen
Einführung
In diesem Kapitel behandelt Barlösius die dritte der vier Fallstudien, mit deren Hilfe sie den Wandel von der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft nachvollziehen will. Es geht nun um ein zentrales Thema: die Schaffung von Wissen. Das Ziel dieses Kapitels ist für Barlösius, zu rekonstruieren, wie wissenschaftliche Expertise zur Begründung und Erklärung politischer Entscheidungen und staatlichen Handelns gesichert wird. Als dafür verantwortliche staatliche Einrichtungen identifiziert sie die Ressortforschungseinrichtungen. Diese sind policy making infrastructures und liefern als solche die Vorleistungen für staatliches Handeln in Form von Wissen. So kann der Staat seiner Infrastrukturverantwortung gerecht werden. Ressortforschungseinrichtungen garantieren also nach Renate Künast „jederzeit verfügbare Wissenschaftler“ für den Staat (Künast 2007, S. 54).
Charakterisierung der „policy making infrastructures“
1. Vorleistungen: Staatsaufgaben hoheitlich beforschen
Da die Schaffung von wissenschaftlicher Expertise in erster Linie als Vorleistung gelten kann, sticht dieses Unterkapitel besonders heraus. In diesem Abschnitt befasst sich Barlösius zunächst damit, wann für welche Bereiche Ressortforschungseinrichtungen gegründet wurden. Ihre These ist dabei, dass sich anhand der Ressortforschungseinrichtungen zeigt, wann welches Verständnis von infrastrukturellen Staatsaufgaben vorherrschte. Daran lässt sich auch der gesellschaftliche Wandel nachvollziehen. Außerdem thematisiert sie, wie die wissenschaftliche Expertise der Ressortforschungseinrichtungen eingeordnet wurde und wird.
Die drei Gründungsphasen von Ressortforschungseinrichtungen
- 1871-1900 (Zeit der Reichsgründung): Ausbau der technischen Infrastrukturen als Folge einer enormen Ausweitung des Staatsverständnisses führt zur Gründung der ersten Ressortforschungseinrichtungen in den Bereichen technische Normierung, Gesundheitsüberwachung und -pflege sowie Nahrungssicherung
- 1940er bis 70er: Ausbau des Sozialstaats sorgt für die Gründung sozialwissenschaftlicher Institute
- ab Mitte der 1970er: Rückgang an Gründungen durch die (neoliberale) Kritik am Staat als Garant der Infrastrukturen, auch aus finanziellen Gründen
⇒ Vorbote des Wandels des Verständnisses der Infrastrukturzuständigkeit des Staats
Wandel des offiziellen Status der Expertise der Ressortforschungseinrichtungen
Die Einstufung des geschaffenen Wissens als „hoheitlich“ ( = unhinterfragte staatliche Legitimierung) fällt 2008 weg, dennoch hat Wissen heute nach wie vor amtlichen Rang. Vor allem lässt sich eine Verschiebung von der staatlichen zur wissenschaftlichen Ausrichtung beobachten. Das bedeutet, dass die Forschung nun eher am Ideal der Wissenschaft orientiert ist, als sich nach dem Interesse des Staats richtet. Das ist besonders insofern bemerkenswert, als dass die Auftraggeberinnen die Ministerien sind. Erklären lässt sich diese Verschiebung damit, dass staatliche Entscheidungen gesellschaftlich immer mehr infrage gestellt werden und dies mit wissenschaftlicher Gegenexpertise begründet wird. So ergibt sich ein Rechtfertigungsdruck der Politik und eine Minderung des staatlichen Vorrechts auf Legitimität.
2. Sozialität: Aufbrechen des Iron Triangle
Heute beschränkt sich die Sozialität der Ressortforschungseinrichtungen nicht nur auf den Rahmen des übergeordneten Ministeriums, sondern umschließt auch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Da sie die Betroffenen sind, sind sie nämlich auch diejenigen, deren Akzeptanz die wissenschaftliche Expertise benötigt. Im 19. und weit bis ins 20. Jahrhundert hinein war die Sozialität jedoch noch auf den engen Rahmen des Iron Triangle beschränkt. Dies änderte sich erst in den 1970er-Jahren fundamental.
Beispiel: Iron Triangle zur Agrarpolitik des 19. Jahrhunderts
- Agrarpolitik
- Agrarministerium
- Ressortforschungseinrichtung
Für das Aufbrechen des Iron Triangle in den 70er-Jahren gab es nach Barlösius im Wesentlichen drei Gründe:
- fortschreitende Industrialisierung
- Globalisierung
- soziale Bewegungen, die Nachhaltigkeit u. ä. fordern
Die nun neu hinzugekommenen Akteursgruppen machen die Sozialität komplexer, weshalb auch eine Abstimmung der Vorleistungen auf die gegensätzlichen Interessen nötig ist. Das betrifft zum Beispiel das Landwirtschafts- und das Umweltministerium, deren Ziele oft entgegengesetzt sind. Dann wird eine Aushandlung erforderlich.
Als „policy making infrastructures“ müssen Ressortforschungseinrichtungen auf den Wandel der Anforderungen und Umstände reagieren. Durch die Veränderung der Sozialität reichen Forschung und technische Daten nun nicht mehr als Legitimation; das Wissen muss sich nun auch gesellschaftlich bewähren.
3. Infrastrukturelles Regelwerk: Forschung ministeriell regeln
Das infrastrukturelle Regelwerk ist im Falle der meisten Forschungseinrichtungen über die ihnen übergeordneten Ministerien geregelt. Es existieren zwei sich in ihrem Regelwerk unterscheidende Gruppen von Ressortforschungseinrichtungen:
1. Bundeseinrichtungen mit Forschungs- und Entwicklungsaufgaben
Das Regelwerk dieser Einrichtungen basiert auf dem öffentlichem Recht. Sie stehen unter direkter Kontrolle des jeweiligen Ministeriums („hierarchische Organisationsstruktur“). Somit sind diese Einrichtungen nicht selbstständig rechtsfähig, sondern Teil eines Ministeriums.
2. Selbstständige Forschungseinrichtungen (gemeinnützige GmbHs, Vereine und Stiftungen)
Diese Einrichtungen besitzen zumindest formale rechtliche Selbständigkeit, arbeiten aber je nach fachlicher Ausrichtung eng mit dem dafür zuständigen Ministerium zusammen. Dennoch ist die Selbstständigkeit dieser Forschungseinrichtungen auch nur formal gegeben. Bei selbständigen Forschungseinrichtungen, wie z.B. den Instituten der Leibniz-Gemeinschaft, kommen nahezu 80% der Gelder von Bund und Ländern (siehe https://www.leibniz-gemeinschaft.de//ueber-uns/organisation/leibniz-in-zahlen/). Über die Kontrolle der Fördermittel haben die Ministerien somit doch eine große Kontrolle über solche Einrichtungen.
Funktionsweise
Die Festlegung der Forschungsagenda der Einrichtungen erfolgt über drei mögliche Herangehensweisen :
1. Im Gründungsstatut mancher Bundeseinrichtungen ist bereits die Ausrichtung der Forschung festgelegt.
2. Die Entwicklung langfristigerer Forschungspläne in einrichtungsinternen oder ministeriellen Ausschüssen
3. Die kurzfristige Beauftragung der Bundeseinrichtungen zur Bereitstellung von notwendigen Daten, meistens auch per Gesetzeserlass
→ Insbesondere über 3. legitimiert der Staat die Hoheitlichkeit der Expertise staatlich finanzierter Einrichtungen als Basis für politische Entscheidungshilfe, da diese nur über ein „ staatlich abgesichertes Vorhalten“ garantiert werden können (vgl. Barlösius 2019, S. 147)
Regelwerk im Wandel
In den letzten Jahren zeichnet sich allerdings ein Wandel im Verhältnis von Ressortforschungseinrichtungen zum Staat ab. Dieser schlägt sich zwar nicht in einer formalen Veränderung des Regelwerks nieder, allerdings wird den Ressortforschungseinrichtungen in der Praxis nun mehr Autonomie überlassen, was das Setzen von Forschungsagenda und den Umgang mit Ergebnissen angeht. So dürfen auch aus staatlicher Sicht „unerwünschte“ Ergebnisse in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht werden. Ebenso kriegen die Forschungseinrichtungen mehr Mitspracherecht, was Forschungsagenda und daran geknüpfte zukünftige politische Entscheidungen angeht. Hier lässt sich also eine Lockerung des Hierarchieprinzips und damit in gewisser Weise auch eine Lockerung des staatlichen Monopolanspruches auf wissenschaftliche Expertise erkennen.
4. Infrastrukturelle Verräumlichung: Nationalisierung, Europäisierung, Internationalisierung
Die für Ressortforschungseinrichtungen typische infrastrukturelle Verräumlichung ist recht klar geregelt: Als „policy making infrastructure“ ist es ihre Hauptaufgabe, wissenschaftliche Expertise für die nationalen Ministerien/staatlichen Behörden bereitzustellen. Somit sind sie in alle möglichen Verräumlichungsprozesse (raumbildend, raumüberwindend und überräumlich) involviert, allerdings nur auf dem Staatsgebiet. Hierzu kam in den letzten Jahrzehnten die Gründung von internationalen und insbesondere europäischen Forschungs- und Beratungsagenturen, in denen Wissenschaftler*innen der jeweiligen nationalen Einrichtungen ihre Funktionen nun auf europäischer Ebene ausführen. Doch mit der enormen Ausweitung des räumlichen Fokus besteht für Wissen und wissenschaftliche Expertise nun eine doppelte Belastungsprobe. Da es sich sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene beweisen muss, ergeben sich nun neue Anforderungen an diese Infrastrukturen:
1. Gratwanderung
In den internationalen Gremien werden nationale Wissenschaftler*innen mit einer weitaus komplexeren Sozialität konfrontiert, auch innerhalb eines Kontinents wie Europa gibt es zwischen einzelnen Ländern häufig größere kulturelle, wirtschaftliche und politische Unterschiede.
→ Es muss auf die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse zahlreicher internationaler Akteure eingegangen und dabei die nationalen Interessen und Bedürfnisse vertreten werden
2. Wissen als kleinster gemeinsamer Nenner
Wissen und wissenschaftliche Expertise ist nicht mehr nur als Basis für politische Entscheidungen relevant, sondern auch als Verhandlungsbasis, auf der sich alle Akteure trotz unterschiedlicher Sichtweisen versammeln können („principle of common sense“ )
→ Wandel der Funktion des Wissens bedeutet eine neue Anforderung an die infrastrukturelle Vorleistung
3. Neuschreiben der Regeln
Forschungseinrichtungen richten sich nun nicht mehr ausschließlich nach den Regelwerken, die durch die nationalen Ministerien erlassen wurden.
→ Forschungseinrichtungen können durch die Einbindung in internationale Gremien Selbstständigkeit und sogar teilweise politische Handlungsmöglichkeiten unabhängig der ihnen übergeordneten Ministerien erlangen.
Zusammenfassung
Die Transformation im Bereich der „policy making infrastructures“ besteht aus dem Wandel…
- von sachgerechtem Wissen zu wissenschaftlicher Expertise
—> weniger Staatlichkeit, mehr Wissenschaftlichkeit
- vom staatlichen Monopolanspruch zu gesellschaftlichen Debatten
—> Relativierung der Geltung von Wissen
- Wissen nicht nur als Vorleistung für politische Entscheidung, sondern auch als Grundlage für Aushandlungsprozesse auf nationaler und internationaler Ebene
—> Wissen als „principle of common sense“ (Barlösius 2019, S. 149)
⇒ Der Wandel der Infrastruktur spiegelt den Wandel dessen, was von Wissen politisch, staatlich und gesellschaftlich erwartet wird
Konsequenzen
Die infrastrukturelle Strukturierungsweise der „policy making infrastructures“ am Beispiel der deutschen Ressortforschungseinrichtungen zeugen von einem klaren Wandel hinsichtlich ihrer Vorleistung, Sozialität, ihres Regelwerks und ihrer Verräumlichung. Das Ziel von Barlösius ist es, anhand der Untersuchung von Infrastrukturen den Wandel von der industriellen Wohlfahrtsgesellschaft hin zu einer Wissensgesellschaft zu zeigen. Im Herzen dieses Wandels stehen - wenig überraschend - die Infrastrukturen, deren Aufgabe es ist, Wissen zu schaffen, das in Politik übersetzt wird. In diesem Kapitel zeichnet sich insbesondere ein Aspekt des Wandels ab: der Umgang und die Bewertung der Wissenschaft und des Wissens.
Einerseits ist die Erkenntnis, dass Wissen nicht objektiv ist, positiv zu betrachten. Das Problem der Perspektive der Forschenden wird thematisiert und die Geltung von Wissen kritisch hinterfragt. So kann Wissen keinen absoluten Wahrheitsanspruch mehr stellen, sondern muss sich in der gesellschaftlichen Debatte durchsetzen.
Andererseits stellt die Einsicht, dass Wissen nie als ganz gesichert gelten kann, auch eine Gefahr dar. So kann es schwer werden, als Gesellschaft überhaupt noch auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu kommen. Wissen wird zunehmend auf das Level einer Meinung degradiert; eine Taktik, deren sich beispielsweise Corona- oder Klimawandelleugner*innen bedienen. Dadurch entsteht das Problem, dass wir zunehmend in unterschiedlichen Realitäten mit unterschiedlichen Wahrheiten leben.
Vor diesem Hintergrund betrachtet, stellt sich auch die Frage, ob es funktionieren kann, dass „wissenschaftliche Expertise [im Kontext der größeren Diversität durch die Internationalisierung] zunehmend als Mittel zur Konsensgenerierung genutzt“ wird (Barlösius 2019, S. 152). Zwar ist die Einsicht, dass Wissen nicht unhinterfragbar ist, als Voraussetzung für solch eine Aushandlung gegeben. Aber um einen Konsens zu schaffen, ist es gleichzeitig nötig, eine generelle Bereitschaft zur Anerkennung anderer Perspektiven zu haben.
Allgemein hat Wissenschaft in unserer Gesellschaft einen hohen Stellenwert und wird als Autorität meist anerkannt. Durch den fortschreitenden Klimawandel und die Corona-Pandemie hat dies noch mal zugenommen. Das schafft eine Legitimität und ein Selbstbewusstsein der Forschenden, die es ihnen erlaubt, auch im Kontext von staatlich beauftragter Forschung in „policy making infrastructures“ autonomer zu entscheiden und unsinnigen Anfragen aus der Politik zu widersprechen.
Quelle
Barlösius, Eva (2019): Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste. Ein Beitrag zur Gesellschaftsanalyse. Temporalisierung des Territoriums: Kategorien der Raumordnung und das ihnen inhärente Verständnis von Infrastrukturen. Frankfurt/New York, S. 132–152.
Künast, Renate (2007): ›Die Kuh umzingeln‹. Gespräch mit Wolfert von Rahden und Christoph Mielzarek, in: Gegenworte, H. 18, S. 53–56.