Die sozialwissenschaftliche Dispositivanalyse

In der Forschungsliteratur verschiedenster Felder – Geschlechterforschung, Gouvernementalitätsforschung, Cultural Studies etc. – wird neben dem Diskursbegriff vermehrt auf das Konzept des Dispositivs rekurriert, welches Michel Foucault in den 1970er Jahren vorstellte. Dadurch kam es zu einer Vielfalt an Bezeichnungsgegenständen, jedoch auch zu einer damit verbundenen konzeptionellen Unschärfe des Dispositivbegriffs, wie die Soziolog*innen Andrea D. Bührmann und Werner Schneider bemerken. Statt als konkret angebbares analytisches Konzept, wird der Begriff in diesem Zusammenhang lediglich als beliebig auffüllbarer Containerbegriff verwendet. Dieser Entwicklung wirken Bührmann und Schneider mit ihrer Einführung in die Dispositivanalyse (2008) entgegen, indem sie eine Operationalisierung des Dispositivbegriffs für die Analyse vorschlagen und einen darauf aufbauenden Forschungsstil skizzieren.

1 Das Dispositiv

Dispositive sind „Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden“ 1). Sie koordinieren Machtbeziehungen. Dadurch werden Diskurse angeregt. Sie erzeugen ein bestimmtes Wissen, das die Denkweise und das Verhalten von Individuen beeinflusst2).

1977 erläuterte Michel Foucault in einem Gespräch mit Alain Grosrichard drei wesentliche Aspekte von Dispositiven:

  1. Ein Dispositiv ist das Netz zwischen einem heterogenen Ensemble an Elementen. Dazu gehören Diskurse, Institutionen, architektonische Gebilde, Regelwerke, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, Lehrsätze etc.
  2. Die Elemente verändern fortlaufend ihre Position und Funktion. Die Analyse von Dispositiven verdeutlicht diese Spielart der sich wandelnden Relationen.
  3. Dispositive funktionieren als strategische Antworten auf gesellschaftliche Notstände. Als Beispiel nennt Foucault hier die Kontrolle der Bevölkerung durch das Dispositiv der Unterwerfung des Wahnsinns.3)

Beispiel: Das Sexualitätsdispositiv des 19. und 20. Jahrhunderts

In seinem Buch „Sexualität und Wahrheit“ (1986) beschreibt Foucault das Sexualitätsdispositiv. Dieses führte durch die Strukturierung bestimmter Elemente ein Wissen von Sex herbei und verankerte ihn im individuellen Körper. Effekt davon war, dass Menschen begannen sich als sexuelle Wesen zu verstehen, ihre Neigungen und Lüste zu kontrollieren und bestimmtes Verhalten, wie homosexuellen Intimverkehr, Masochismus, Masturbation und kindliche Sexualität etc. zu isolieren, zu klassifizieren und zu problematisieren4). Die Machtstrategien des Sexualitätsdispositivs produzieren Sexualität, um auf den Körper des Individuums und somit auf die Bevölkerung zugreifen zu können. Eine von Foucault beschriebene Strategie des Sexualitätsdispositivs ist die „Psychatrisierung der perversen Lust“ im 19. Jahrhundert5). Sie bezweckte die Isolierung des sexuellen Instinkts als autonomen biologischen und psychologischen Instinkt6). Dieser diente als Maß für Normalität und pathologische Abweichung, nach dem das gesamte Verhalten eingeordnet wurde. Daran wesentlich beteiligte und somit strategisch angeordnete Elemente des Dispositivs sind beispielsweise der Spezialdiskurs der Medizin, nicht-diskursive Praktiken, wie ärztliche Beratungsgespräche, materielle Objektivationen, wie Krankenhäuser und auch Subjektivationen, wie Ärzt*innen, Patient*innen und Erzieher*innen. Folge dieser Strategie ist beispielsweise die Bezeichnung von Spezies, wie die des*der Homosexuellen auf Grundlage bestimmter momentaner Verhaltensweisen, in diesem Falle gleichgeschlechtlicher Intimverkehr, und der akribischen Ermittlung und Dokumentation dieser. Dadurch wurde es möglich, noch gezielter auf Individuen zuzugreifen. Jedoch konnten sich diese auch mit den zugeschriebenen Klassifikationen auf andere Art und Weise identifizieren, sich zusammenschließen und sich der diskriminierende Pathologisierung wiederum widersetzen.

„Das Sexualitätsdispositiv hat seine Daseinsberechtigung nicht darin, daß es sich reproduziert, sondern darin, daß es die Körper immer detaillierter vermehrt, erneuert, zusammenschließt, erfindet, durchdringt und daß es die Bevölkerung immer globaler kontrolliert“ 7).

2 Die Dispositivanalyse nach Bührmann und Schneider

Die Einführung in die Dispositivanalyse von Andrea D. Bührmann und Werner Schneider (2012) stellt eine analytische Erweiterung beziehungsweise Ergänzung der Diskursforschung dar. Sie erweitert die Diskursforschung um Perspektiven, welche über das Konzept des Diskurses hinausreichen und ermöglicht ein Denken aller „Bereiche kultureller Praxis“ mit Foucault8).

2.1 Das Dispositivkonzept als Forschungsperspektive

Das Dispositivkonzept ist mit einer eigenen Denkweise verbunden, die auf spezifischen erkenntnistheoretischen und begrifflich-theoretischen Grundlagen basiert und spezifische Gegenstände in den Blick nimmt. Diese bilden eine eigene, sich von anderen abhebende Forschungsperspektive, die einen bestimmten Forschungsstil orientiert, jedoch keine Methode darstellt.9)

2.1.1 Vom Diskurs zum Dispositiv – Begrifflich-theoretische Grundlagen

Der Diskurs

Der theoretische Ausgangspunkt der Beschreibung des Dispositivs als Forschungsperspektive bildet für Bührmann und Schneider der Diskursbegriff, welchen Michel Foucault in der „Archäologie des Wissens“ (1988b) definiert und der mit methodologischen Überlegungen verknüpft ist:

Ein Diskurs ist eine Menge von inhaltlich heterogenen Aussagen, „insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören“, also wenn eine Regelhaftigkeit ihrer praktischen Erzeugung vorliegt10).

Die Gesamtheit dieser „anonymen, historischen, stets in Raum und in der Zeit determinierten Regeln“ bezeichnet Foucault als Diskursive Praxis. Aus dieser Konzeption ergeben sich zwei spezifische Fragegegenstände:11)

  • Wie verhält sich Gesagtes und Ungesagtes beziehungsweise Gesehenes und Ungesehenes zueinander?
  • Was sind die Bereiche des Undenkbaren, die die Grenzen des Wissens und des damit verbundenen Verhaltens definieren?

Ausgehend von diesen Fragen richtet sich der analytische Blick auf historische Entwicklungen und gesellschaftliche Situationen, in welchen diese diskursiven Praktiken entstehen sowie auf deren Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Wissensordnungen und die alltäglichen Austauschprozesse.12)

Konstruieren versus Strukturieren

Bührmann und Schneider unterscheiden in Auseinandersetzung mit dem Konzept der diskursiven Praktik zwischen Konstruieren und Strukturieren:

„Diskurstheoretisch betrachtet, kann zwar potenziell „alles“ (alle sozialen Phänomene) als durch Diskursives strukturiert und somit auf Diskurse rückführbar konzipiert werden, aber nicht alles kann deswegen empirisch analytisch hinreichend als diskursive Konstruktion gefasst werden. Vermittelt über unterschiedliche (nicht-diskursive) Praktiken können „Dinge“ – z.B. beobachtbare Handlungsergebnisse, materiale Erscheinungen als solche, durch bloßes Tun tradierte Erfahrungswissensbestände – als Objektivationen von im umfassenderen Sinne dispositiven Herstellungs- und Hervorbringungsprozessen dem diskursiven Prozess vorenthalten bleiben oder entzogen werden. Und dennoch oder gerade deshalb können diese „Dinge“ strukturierend wirken, indem sie gleichsam als gelebte […] Praxis auf diskursive Konstruktionsprozesse einwirken“13).

Bührmann und Schneider zeigen damit eine fehlende Perspektive in der Diskursanalyse auf: nicht-diskursive Praktiken. Daraus ergeben sich für die Autor*innen grundsätzliche Fragen: „Wie wäre das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zu fassen bzw. was könnten nicht-diskursive Praktiken überhaupt sein? Und: Gibt es eine Praxis, ein Sein außerhalb von Diskursen bzw. gar außerhalb des Diskursiven schlechthin?“14).

Diskursive und nicht-diskursive Praktiken

Die theoretischen Konzeptionen des Diskursbegriffs unterscheiden sich in der Trennschärfe zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken. Die sozialwissenschaftlichen Diskurstheorien differenzieren sozial-strukturelle, materiale, kulturelle und diskursive Elemente. Im Unterschied dazu definieren Ernesto Laclau und Chantal Mouffe einen Diskursbegriff der „das Soziale schlechthin als Diskursives fasst“15). Ein Diskurs schließt in diesem Sinne nicht nur sprachliche Elemente mit ein, sondern auch nicht-sprachliche Handlungen, materiale Gegenstände und ein bestimmtes Personal. Diese Elemente sind durch die Praxis und entlang von sinnstiftenden Differenz- und Äquivalenzketten miteinander verbunden16). Hinsichtlich dieser Definition des Diskursiven erübrige sich der Dispositivbegriff, so Bührmann und Schneider, „da er nichts eröffnen könnte, was nicht per se schon immer mit dem Diskurskonzept erfassbar und somit auf diskursive Prozesse analytisch rückführbar wäre“17).18) Bührmann und Schneider schlagen aufgrund der theoretischen Auslassung des Nicht-diskursiven eine analytische Differenzierung zwischen den Eigenschaften „nicht-diskursiv“ und „diskursiv“ vor, welche empirisch festzustellen ist19). Nicht-diskursive Praktiken sind folglich aus der analytischen Perspektive von Mouffe und Laclau Praktiken, die zu einer bestimmten Zeit nicht Teil einer „geregelten, institutionalisierten Redeweise“ also eines Diskurses sind20). Auch Foucault unterscheidet zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, beispielsweise Gebäude oder Institutionen, richtet den Blick vor allem aber auf das „Netz zwischen den einzelnen diskursiven oder eben nicht-diskursiven Elementen“, wodurch die klare Trennung wieder an Bedeutung verliert21). Um auch nicht-diskursive Praktiken systematisch analysieren zu können, halten Bührmann und Schneider folgende Definitionen in Anlehnung an Reiner Keller fest:

„Das Diskursive kann als eine je angebbare Formierung von sprachlichen wie nicht-sprachlichen Praktiken bezeichnet werden, die auf zu identifizierende soziale Anlässe zurückgeführt werden kann und die zwar keine prinzipiell außer-diskursiven, aber – neben diskursiven gleichwohl möglicherweise nicht-diskursive Folgen im Sozialen – in den Selbst-Verhältnissen von Menschen wie in deren Austauschprozessen – aufweist“22).

Praktiken bezeichnen nach der Definition Kellers „sozial konventionalisierte Arten und Weisen des Handelns, also typisierte Routinemodell für Handlungsvollzüge, die von unterschiedlichsten Akteuren mit mehr oder weniger kreativ-taktischen Anteilen aufgegriffen […] werden“ 23). Sie können in drei analytischen Dimensionen unterschieden werden:

Diskursive und nicht-diskursive Praktiken

  • Diskursiv: Sprachliche Muster und Zeichen, welche es ermöglichen in einem Diskurs zu sprechen (z.B. Kommentieren, Reden halten, Berichte schreiben etc.).
  • Nicht-diskursiv: Handlungsweisen und Gesten, welche den Diskurs stützen oder modifizieren (z.B. kirchliche Segnung, Schweigemärsche als Demonstration etc.).

Diskursgenerierte Modellpraktiken bzw. Diskurseffekte, welche nicht aktiv den Diskurs adressieren oder tragen, sondern die Wissensordnung reproduzieren.

  • Diskursiv (z.B. ärztliche Diagnosen, Beratungsgespräche, die Beichte etc.)
  • Nicht-diskursiv (z.B. Müll trennen, einen Organspende-Ausweis mit sich führen etc.)

Diskursexterne Praktiken auf diskursfernen, durch alltägliche Routinen gekennzeichneten, Ebenen

  • Diskursiv (z.B. Alltagsgespräche, Lästerei bei der Arbeit etc.)
  • Nicht-diskursiv (z.B. Gehen, Essen, Körperpflege etc.)

Aus dieser analytischen Unterscheidung ergibt sich zudem ein „doppeltes Akteurskonzept“, wonach Akteure direkt Teil des Diskurses sind oder lediglich an dessen Rand stehen24).


Konzeptualisierung des Dispositivbegriffs

Bührmann und Schneider leiten aus Foucaults Definition des Dispositivbegriffs schließlich folgende Aussagen über die Analyseperspektive ab: Abb. 3: Dimensionen der Dispositivanalyse (Quelle: Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 94.)

  • Das Dispositiv ist keine Summe an Elementen, sondern verweist auf das Netz zwischen diesen. Dadurch rücken Machtbeziehungen in den Fokus der Analyse.
  • Durch das Dispositivkonzept verbinden sich diskursive und nicht-diskursive Elemente zu „Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden“25). Dadurch werden „Möglichkeitsräume für ,wahres‘ Wissen“ durch das Dispositiv geschaffen, welches zugleich selbst ein Machteffekt und wiederum an Grenzen des Wissens gebunden ist. Auf diese Weise funktionieren Dispositive als „Operatoren zur Bearbeitung, Lösung gesellschaftlicher Problemlagen und Transformationsphasen“26).
  • Da es immer verschiedenste „Aneignungs- wie Umdeutungsmöglichkeiten“ durch soziale Praxis gibt und verschiedene Akteur*innen einschließen, sind Dispositive heterogen und deformierbar27).
  • Dispositive „entstehen weder zufällig, noch sind sie intentional oder von abstrakten, allgemeingültigen gesellschaftlichen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen bedingt, sondern sie antworten mit einer ,strategischen Zielsetzung‘ auf eine historisch spezifische Situation“28).
  • Der Dispositivbegriff verbindet die Frageperspektive der Diskursanalyse mit jener der Machtanalyse und ermöglicht so einen anderen analytischen Fokus. Diskurse stehen nun nicht mehr im Mittelpunkt, sondern werden neben Praktiken, Institutionen etc. als Bestandteil von Machtstrategien beziehungsweise Dispositiven betrachtet.
  • Dispositive sind produktiv, in dem sie „über spezifische Diskurs- und Machttechniken […] materiale Vergegenständlichungen, Objektivationen diskursiver Prozesse (als festgefügte und objektivierte Regelwerke, Rituale, Artefakte, Gebäude etc.) […] und vor allem bestimmte Subjektivitätsformen“ hervorbringen (z.B. das Begehrens-Subjekt des Sexualitätsdispositivs)29).
„Mit Dispositiven […] sind folglich sowohl die – in diesem Sinne als machtvoll zu verstehenden – Effekte der diskursiv erzeugten und vermittelten Wissensordnungen auf die (nicht-diskursiven) Praktiken in den betreffenden Praxisfeldern wie auch die (Rück-)Wirkungen dieser Praktiken auf die diskursiven ,Wahrheitsspiele‘, auf die Wissenspolitiken selbst gemeint, die als solche immer in eine historisch spezifische gesellschaftliche Situation eingebettet sind“30).

Den Autor*innen zufolge birgt diese Perspektive folgendes Potential gegenüber der Diskursanalyse: „Das Dispositivkonzept öffnet nicht-diskursives ,Praxis-Wissen‘ (im Verhältnis zum diskursiv vermittelten Wissen) sowie Sichtbarkeiten/Vergegenständlichungen dieser Wissensformen und damit einhergehende Prozesse der Subjektivation/Subjektivierug als zwar zusammenhängende, aber eigenständige und -sinnige Analysegegenstände einer relationalen Macht-Analyse“31).

2.1.2 Erkenntnistheoretische Grundlagen

Die erkenntnistheoretische Grundlage der Forschungsperspektive des Dispositivbegriffs bilden für Bührmann und Schneider wissenssoziologische Ansätze aus dem Sozialkonstruktivismus. So beziehen sie sich auf die theoretischen Überlegungen von Berger und Luckmann, wonach soziale Phänomene nicht nach historischen Gesetzmäßigkeiten konstituiert, sondern historisch spezifisch sind. Ergänzend dazu nehmen sie Bezug auf den Ansatz der kritischen Ontologie nach Foucault. Demnach gilt das Selbstverständliche nach der kritischen Ontologie von Foucault als Produkt kontingenter Praxis32). Karl Mannheim betonte zudem die „Seinsverbundenheit jeglichen Wissens“, auch jenem der forschenden Person, weshalb Wissenschaft nicht objektiv und neutral sein kann33). Daraus ergeben sich für Bührmann und Schneider folgende Forschungsgrundsätze:

  • Es ist notwendig „die eigene Forschungstätigkeit zu historisieren und zu kontextualisieren“34).
  • Wissenschaftliche Kritik kann nicht auf dem Anspruch beruhen, universelle Wahrheit zu erlangen.
  • Wissenschaftliche Aussagen und erkenntnistheoretische Fundamente müssen dokumentiert und begründet werden, müssen jedoch als „Wertentscheidung außerhalb der Analyse“ gekennzeichnet werden35).

2.2 Das Dispositivkonzept als Forschungsstil

Für Bührmann und Schneider stellt der Begriff der Dispositivanalyse keine „eigenständige Methode“ mit feststehenden Regeln dar, sondern einen Forschungsstil36). Dieser bezeichnet die „Gesamtheit der […] aus der so gekennzeichneten Forschungsperspektive resultierenden methodologischen Vorgaben“ sowie die praktischen Analyseverfahren mit ihren Möglichkeiten und Grenzen37). Er kann an den Forschungsgegenstand angepasst und abgeändert werden.38)

Der Ausgangspunkt einer Analyse von Dispositiven soll, nicht wie in der Diskursanalyse, primär die diskursive Praxis sein. Sie bringt zwar Gegenstände hervor. Diese können darüber hinaus jedoch auch ein „Eigen-Leben“ entwickeln und in verschiedenen Dispositiven mit verschiedenen Funktionen wirken. Das Forschungsinteresse ist die Rekonstruktion des in diesen Gegenständen enthaltenen Wissens. Dabei geht es weniger um deren subjektiven Sinn, sondern darum, zu rekonstruieren, „welches Verhalten mit welchem Beziehungsnetz“ sich darauf bezieht39). Die übergeordnete Frage ist folglich:

Welche diskursiven Elemente bringen „,wirkliche‘ (und insofern ,machtvolle‘) Effekte“ hervor in dem sie für das Kollektiv sowie das Individuum „handlungswirksam“ werden und dadurch wiederum auf Diskurse zurückwirken können?

2.2.1 Leitfragen der Dispositivanalyse

Für eine methodische Konkretisierung der Dispositivanalyse formulieren Bührmann und Schneider vier Leitfragen:

1. Leitfrage nach den Praktiken
  • Wie verhalten sich Diskurse zu nicht-diskursiven Praxisfeldern der Alltagswelt?
  • In welchem Machtverhältnis stehen konkurrierende Normen zu für selbstverständlich genommenen Deutungs- und Handlungsnormen?
  • Was wird verheimlicht? Was muss nicht notwendig zur Sprache gebracht werden, weil es selbstverständlich ist? Was ist sagbar und welches Wissen steht gar nicht zur Verfügung?40)
2. Leitfrage nach den Objektivationen
  • Wie ist das Verhältnis zwischen den in den Praktiken und den symbolischen und materialen Objektivationen enthaltenen Wissensordnungen?
  • Wie wirken sie? Nach welchen Prinzipien sind Dinge konzipiert und wie wird tatsächlich mit ihnen hantiert?41)
3. Leitfrage nach den Subjektivationen und Subjektivierungen
  • Wie ist das Verhältnis von sozialen Praktiken und ihrer Objektivationen zu diskursiven Subjektformierungen und alltagspraktischen Subjektivierungsweisen, in Form eines Tuns, über das das Selbst erfahren wird?
  • Wie erleben und verhalten sich Menschen zu und durch bestimmte sich verändernde Macht- und Herrschaftsverhältnisse?42)
4. Leitfrage nach dem sozialen Wandel
  • Auf welche gesellschaftliche Problemlage beziehen sich untersuchte Praktiken und Wissenssysteme?
  • Was sind die Prinzipien und Ursachen gesellschaftlichen Wandels?43)

Beispiel: Andrea D. Bührmanns Geschlechterdispositiv

Abb. 4: "Das moderne Geschlechterdispositiv" (Bührmann, Andrea D./Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 132.

Diese Leitfragen können je nach Konzeptualisierung des Dispositivbegriffs unterschiedlich gewichtet werden. Beispielsweise interessiert Bührmann das Problem der Hervorbringung von Subjektivitäten und speziell die, über das Geschlechterdispositiv produzierte, Geschlechtlichkeit. Dahingehend unterscheidet sie in der Analyse zwischen diskursiven Beziehungen in Form von „komplexen institutionalisierten Redeweisen“, Machtbeziehungen und deren „Zusammenspiel in Form von Diskurs- und Machtformationen“44). Die Subjektivierungsweise – hier Geschlecht – ist das „material existierende, verkörperte Produkt der (nicht-)diskursiven Praktiken, welche auch jenseits des Diskurses, jedoch nie jenseits von Machtverhältnissen stehen können45).

Siehe:

Bührmann, Andrea D./Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 120-135.

Bührmann, Andrea D. 2014. Der Kampf um „weibliche Identität“. Münster, Verl. Westfälisches Dampfboot.

Weitere Ansätze zu der Analyse von Dispositiven
  • Siegfried Jäger untersucht den Zusammenhang von sinngebenden Diskursen, den Vergegenständlichungen und den darauf bezogenen Praxen (Jäger, Siegfried. 2001. Dispositiv. In: Marcus Kleiner (Hg.), Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt a.M.: Campus, S. 72-89.)
  • Jürgen Link blickt primär auf das Personal von Dispositiven. Dabei unterscheidet er zwischen disponierenden Subjektivitäten, die sich der Instrumente des Dispositivs bedienen können, um wiederum andere Subjektivitäten zu disponieren. Letztere sind damit „bloßer Effekt“ des Dispositivs46). (Link, Jürgen. 2007. Dispositiv und Interdiskurs. Mit Überlegungen zum Dreieck Foucault – Bourdieu – Luhmann. In: Clemens Kammler/Rolf Parr (Hg.), Foucault in den Kulturwissenschaften. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 219-238.)

2.2.2 Gütekriterien

Da die zugrundeliegenden theoretischen Annahmen sowie die Forschenden selbst Teil der „rekonstruierten Realität“ sind, ist es unabdingbar, dass der Forschungsprozess reflektiert und transparent dokumentiert wird47). Bührmann und Schneider schlagen daher folgende qualitative Gütekriterien vor:

  • Visibilität durch intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Transparenz des Forschungsprozesses in Form der detaillierten Dokumentation und Darstellung eigener Verstehensprozesse
  • Viabilität im Sinne eines funktionalen und adäquaten Einsatzes von Forschungsmethoden
  • Interne Validität durch die systematische Erhebung der Daten, der Herstellung eines Bezugs zwischen den Daten sowie das Ziehen theoretischer Schlüsse auf Grundlage der ausgewerteten Daten
  • Externe Validität durch die „Transferierbarkeit und Passung der im Forschungsprozess formulierten Theorien oder Konzeptionen“48).49)
Mögliche forschungspraktische Umsetzung einer Dispositivanalyse

In dem vierten Kapitel ihrer Einführung in die Diskursanalyse stellen Bührmann und Schneider konkrete methodische Anknüpfungen an die Forschungsperspektive des Dispositivkonzepts sowie im beschriebenen Forschungsstil vor. Dahingehend ziehen sie das Geschlechterdispositiv und das Sterbe-/Todesdispositiv als Beispiele aus der eigenen Forschungspraxis heran.

Siehe: Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 109-136.

3 Literatur

Birkhan, Barbara. 2010. Review Essay: Das Dispositiv – die andere Seite des Diskurses. Forum Qualitative Sozialforschung, Social Research Vol 11: No 2.

Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript.

Foucault, Michel. 1978. Dispositive der Macht Michel Foucault. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 119f.

Foucault, Michel. 1986. Sexualität und Wahrheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Foucault, Michel. 1988b. Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Keller, Reiner. 2005. Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS.

1)
Foucault, Michel. 1978. Dispositive der Macht. Michel Foucault. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 123.
3)
vgl. Foucault, Michel. 1978. Dispositive der Macht Michel Foucault Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 119f.
5)
Foucault, Michel. 1986. Sexualität und Wahrheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 126f.
6)
Zu diesem Thema veröffentlichte BBC Future 2017 einen aufschlussreichen Artikel von Brandon Ambrosino: http://www.bbc.com/future/story/20170315-the-invention-of-heterosexuality.
7)
Foucault, Michel. 1986. Sexualität und Wahrheit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 129.
8)
Birkhan, Barbara. 2010. Review Essay: Das Dispositiv – die andere Seite des Diskurses. Forum Qualitative Sozialforschung / Social Research Vol 11: No 2., Abschnitt 73.
9)
vgl. Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 15.
10)
Foucault, Michel. 1988b. Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 170.
11)
Foucault, Michel. 1988b. Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 171.
12)
vgl. Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 43.
13)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 43.
14)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 44.
15)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 44
16)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 45.
17)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 46.
18)
vgl. Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 44ff.
19) , 20)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 47.
21)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 48.
22)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 49.
23)
Keller, Reiner.2005. Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms. Wiesbaden: VS, 250.
24)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 51.
25)
Foucault, Michel. 1978. Dispositive der Macht Michel Foucault Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 123.
26) , 27) , 28)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 53.
29)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 53f.
30)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneide. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 55.
31)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 68.
32)
Birkhan, Barbara. 2010. Review Essay: Das Dispositiv – die andere Seite des Diskurses. Forum Qualitative Sozialforschung / Social Research Vol 11: No 2., Abschnitt 12.
33)
Birkhan, Barbara. 2010. Review Essay: Das Dispositiv – die andere Seite des Diskurses. Forum Qualitative Sozialforschung / Social Research Vol 11: No 2., 13.
34) , 35)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 41.
36) , 37)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 16.
38)
vgl. Bührmann, Andrea D. / Werner Schneide. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 16.
39)
Birkhan, Barbara. 2010. Review Essay: Das Dispositiv – die andere Seite des Diskurses. Forum Qualitative Sozialforschung / Social Research Vol 11: No 2, Abschnitt 28.
40)
vgl. Bührmann, Andrea D. / Werner Schneide. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 97f.
41)
vgl. Bührmann, Andrea D. / Werner Schneide. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 103.
42)
vgl. Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 100.
43)
Vgl. Birkhan, Barbara. 2010. Review Essay: Das Dispositiv – die andere Seite des Diskurses. Forum Qualitative Sozialforschung / Social Research Vol 11: No 2, Abschnitt 36.
44)
Bührmann, Andrea D./Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 60.
45)
vgl. Bührmann, Andrea D./Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 61.
46)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 63.
47)
Birkhan, Barbara. 2010. Review Essay: Das Dispositiv – die andere Seite des Diskurses. Forum Qualitative Sozialforschung / Social Research Vol 11: No 2., Abschnitt 30.
48)
Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 92.
49)
vgl. Bührmann, Andrea D. / Werner Schneider. 2008. Vom Diskurs zum Dispositiv. Bielefeld: transcript, 92.
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