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Körper von Gewicht - Judith Butler und Lars Distelhorst
Aufbau
In diesem Wiki sollen zuerst die Hauptaussagen der Autorin dargestellt werden. Im Anschluss daran wird versucht, die Argumentationsweise zu beleuchten. Hierfür ist es notwendig, einige Begriffe zu erläutern. Dann soll auf Eigenheiten der Diskursforschung bei Judith Butler aufmerksam gemacht werden, um einerseits das Verständnis des Textes zu vertiefen und um sie mit anderen Autor*innen vergleichbar zu machen. Schlussendlich soll anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden, wie die Theorie auf alltägliche Phänomene angewendet werden kann.
Hauptaussage
In „Körper von Gewicht“ antwortet Judith Butler auf Kritik, die ihr in ihrem früheren Werk Das Unbehagen der Geschlechter entgegengebracht wurde. Sie verdeutlicht und vertieft ihre theoretischen Ausführungen und geht expliziter auf verschiedene Aspekte ihrer Theorie ein.
Die Hauptaussage des Textes ist, dass Körper und ihre Materialität konstruiert und diskursiv geprägt sind. Sexuelle Differenz wird gleich gesetzt mit materieller Differenz, beide sind diskursiv hergestellt. Dieselben Machtstrukturen, die das soziale Geschlecht entstehen lassen, sind auch für das biologische verantwortlich, denn die Natürlichkeit von letzterem wird im Diskurs hergestellt. Auch „Natur“ ist sozial und historisch geprägt und liegt nicht vor der Intelligibilität, sie kann sich dem Diskurs nicht entziehen. Damit sie dennoch als „natürlich“ und gegeben erscheint, ist die Performativität verantwortlich. Die Wiederholung und Zitation von Idealen und Normen sorgen für die Verinnerlichung und gleichzeitig für die Verschleierung der Machtstrukturen, denen sie entspringen. Somit offeriert die Sprache, dass z.B. das biologische Geschlecht vor der Konstruktion liegt (Butler 1995, S. 9-48).
Argumentation
Für Butler ist die Trennung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht kein geeignetes Konzept, um eine angemessene Aussage in der Geschlechterforschung zu treffen. Denn bei dieser Unterscheidung treten zwei Probleme auf. Entweder ein Unterschied zwischen sex und gender wird anerkannt, womit auch einer gewissen Bestimmtheit zugestimmt wird, oder aber beide sind unabhängig voneinander. Dann bleibt die Frage offen, welchen Stellenwert das biologische Geschlecht hat. Laut der Autorin suggeriert die Sprache, sex liege vor der Konstruktion. Da Natur aber kein „Nullpunkt“ ist, widerspricht sie der Auffassung, das soziale würde einseitig auf das biologische Geschlecht einwirken und beschreibt es als „dynamische Wechselbeziehung“. Sie ist die Konstruktion der Konstruktion (vgl. Ebd., S. 26-27).
Wichtig für das Verständnis von Butlers Theorie ist ihr Verständnis einiger Begriffe, da sie anders oder weiter gefasst sind als bei vielen anderen Autor*innen. Konstruktivismus sieht sie weder als deterministisch, noch braucht es dafür ein voluntaristisches Subjekt, um Geschlechteridentitäten vorzugeben (Distelhorst 2009, S. 27.). Sie sagt also weder, dass man als Mensch keinen oder auch nur wenig Spielraum hat, wie das Leben abläuft, dass man keinen Einfluss auf die eigene Identität hat, noch sagt sie, dass das Geschlecht frei von jedem Menschen wählbar ist und ähnlich wie ein Kleidungsstück „angezogen“ oder „abgelegt“ werden kann. Die Geschlechtsidentitäten sind aufgezwungen und performativ. Die Konstruktion ist also konstitutiv, sie ist die Notwendigkeit, in der wir leben und ohne die das Leben undenkbar wäre (Butler 1995, S. 16). Für die Formierung des Subjekts ist sie ausschlaggebend. Ein „Ich“ oder „Wir“ außerhalb des sozialen Geschlechts gibt es nicht. Die eigene Identität ist nicht vom Geschlecht zu trennen, Identität außerhalb von Geschlecht ist undenkbar. Sie schreibt:
Neben ihrem Verständnis von Konstruktion ist die Performativität ein wichtiges Konzept von Butlers Theorie. Durch sie erlangt Sprache den konstitutiven Charakter, denn Sprache ist keine objektive Beschreibung, sondern eine Handlung (Distelhorst 2009, S. 42). Dabei geht es nicht nur darum, dass Sprechen Handeln ist, oder mit dem Gesagten das Benannte hervorgerufen wird, sondern die Wiederholung und die Zitation sind damit eng verbundene Mechanismen. Sie ist demnach kein einzelner Akt, sondern ein laufender Prozess (Butler 1995, S. 22). Sie ermöglicht, dass sich eine Norm/ein Ideal durchsetzt, sie ist die Produktivität des Diskurses. Durch die Wiederholung wird gleichzeitig zum Durchsetzen einer Norm auch verschleiert, auf welche Konventionen diese zurückzuführen ist (ebd., S. 35). Dadurch lassen sich die Machteffekte deutlich bemerken, allerdings werden die Strukturen, denen sie entspringen, versteckt.
Das „Natürliche“ gilt als unantastbar und unbestreitbar, entspringt jedoch auch diskursiven Mechanismen. Die Materialisierung des Geschlechts ist der Performativität zuzuschreiben, Bipolarität und Heterosexualität stellen die soziale Wirklichkeit dar. Butler nennt dies die „heterosexuelle Matrix“, in der Macht, Diskurs und Norm in der Konstitution von Geschlecht verschlungen sind. Demnach gibt es zwei Geschlechter, das soziale und biologische sind gleichgesetzt und Heterosexualität ist die Normalität (Distelhorst 2009, S. 27-28). Hierin liegt für Butler jedoch auch eine Möglichkeit, bekannte und traditionelle Muster aufzubrechen. Denn alles, was nicht von der Norm erfasst wird oder über sie hinausgeht, wird offensichtlich. Daraus kann auch Widerstand entstehen (Butler 1995, S. 32). Dennoch ist selbst beim Widerstand gegen bestehende Normen das widersprechende Subjekt aus eben diesen Normen befähigt, bzw. hervorgebracht worden. Es gibt keinen Widerstand von „außen“ gegen die verantwortlichen Machtstrukturen, wenn jedes Individuum nur innerhalb dieser denkbar ist (ebd., S. 39). Dies wird im folgenden Teil „Diskursforschung“ im Hinblick auf die Performativität noch detaillierter beschrieben.
Diskursforschung bei Butler
In diesem Teil soll dargestellt werden, wie Judith Butlers Diskursanalyse sich auszeichnet, worin eine Eigenheit oder Besonderheit liegt. Der Diskurs ist Träger der Norm und Medium der Macht (vgl. Distelhorst 2009, S. 39). Er ist ausschlaggebend für die Identität eines Menschen, welche nicht von Geschlecht loszulösen ist, wie bereits im Argumentationsteil in Bezug auf Konstruktion dargestellt wurde. Im Diskurs spiegeln sich Machtstrukturen wieder, die nicht immer offensichtlich sind. Jedoch ist eine Position „außerhalb“ dieser Strukturen für die Autorin undenkbar, da sie alles umfassen. Die Behauptung einer solchen Position ist diskursiv produzierte Imagination, wie z.B. „natürliche Körper“. Ihre Methode ist dekonstruktivistisch, da alles innerhalb der Machtverhältnisse passiert, die analysiert und kritisiert werden (vgl. Lorey 1996, S. 10 u. 15). Durch die Dekonstruktion ist es möglich, die Strukturen zu beleuchten, welche für natürlich erscheinende Körper und ihre Verhaltensweisen sorgen.
Das Paradox, dass die Machtstrukturen, die kritisiert werden sollen, oder denen sich widersetzt wird, verantwortlich sind für das Kritisieren oder Widersetzen, ist ein interessanter Aspekt in Butlers Forschung. Lorey beschreibt die Relevanz der Butler’schen Herangehensweise wie folgt:
Die Dekonstruktion der Konstitutionsprozesse soll nicht nur Licht auf die Konstitution selbst werfen, sondern auch auf den Handlungsspielraum für Veränderung. Um die Machtverhältnisse und ihre Einflüsse auf die Materialität und Wahrnehmung zu verändern, muss der Prozess der Subjektivierung analysiert werden. Denn auch (oder gerade) die materielle Welt ist mit Diskurs verbunden, das Geschlecht entzieht sich diesem nicht. Daher macht Butler keinen Unterschied zwischen sozialem und biologischem Geschlecht, bzw. setzt letzteres mit ersterem gleich. Dennoch geht es nicht darum, die Kategorie „Frau“ aufzuheben und der feministischen Theorie in gewisser Weise ihrer Grundlage zu entziehen, sondern um der natürlich erscheinenden Binarität zu widersprechen. Denn hierin liegt für Butler die „unsichtbare“ Machtstruktur, die aufgezeigt werden soll. Oppositionelle Konzepte wie Natur/Kultur, passiv/aktiv, Materie/Diskurs, Körper/Geist, etc. sind verantwortlich für das binäre Verständnis von Geschlechtern. Die ersten Begriffe der Konzeptpaare werden allgemein als weiblich, die zweiten als männlich verstanden. Hält man an der Kategorie „Frau“ fest, unterstützt man damit die binären Konzepte. Indem die Autorin die Trennung zwischen sex und gender als natürlich vs. kulturell in Frage stellt, stellt sie die Binarität in Frage (vgl. Lorey 1996, S. 15-16). Denn: „[d]er Bereich der Natur ist das, was innerhalb des Bereichs des Kulturellen als nicht veränderbar gilt (ebd. S.18).“
Die Binarität erscheint durch die Performativität als „natürlich“. Daher sollen der Begriff und seine Bedeutung für Butlers Forschung hier ausführlich dargestellt werden. Die Frage der Performativität ist eine Frage nach dem Zusammenspiel zwischen Norm und Handeln. Wie bereits erwähnt, ist Performativität für Butler die Wiederholung und Zitation einer Norm, es geht also über das Verständnis, dass die Sprache das Gesagte hervorruft, hinaus. Sie ist eng verbunden mit dem Diskurs. Die Norm „Geschlecht“ wird nicht nur beim Ausruf der Hebamme, sondern permanent in unserem Alltag wiederholt. Sei es bei der Anrede mit „Herr“ oder „Frau“ oder in der Grammatik selbst: überall wird ein Bezug zu der binären Geschlechtertrennung hergestellt. Hierin liegt die Produktivität des Diskurses. Durch die ständige Wiederholung und Zitation verinnerlichen die Menschen Normen und reproduzieren sie. Auch Lorey sieht in der Performativität einen zentralen Konstitutionsmodus. Das Subjekt und die Norm werden gleichzeitig durch performative Handlungen hergestellt. Für die Autorin gibt es keine Handlung, die nicht performativ ist (vgl. Lorey 1996, S. 75, 110 u. 114).
Dies deckt sich mit Butlers Verständnis von Konstruktivismus. Die Machtstrukturen, aus denen ein Individuum hervorgeht, sind unumgänglich. Sie äußern sich im Diskurs, welcher produktiv und allgegenwärtig ist. Wie Lars Distelhorst erläutert, ist der Diskurs Träger der Norm und Medium der Macht (Distelhorst 2009, S. 39). Die Autorin beschreibt ihn wie folgt:
Auf das Zitat bezogen formiert Performativität die „Dinge“, indem Normen wiederholt und zitiert werden, die Sprache sticht die Grenzen der Erfahrung ab (vgl. Ludewig 2002, S. 168). Binäre Konzepte wie „männlich/weiblich“ werden im Diskurs durch die Performativität vermittelt und aufrechterhalten. Indem immer wieder über das „Natürliche“ als eine unanfechtbare Wirklichkeit gesprochen wird, stellt sie dies auch für viele Individuen dar. Wichtig ist, dass die natürlich erscheinende Norm der Zweigeschlechtlichkeit für ihre Stabilität die wiederholte Zitation braucht, um machtvoll zu bleiben und produktiv, bzw. repressiv zu sein. Der Effekt der Performativität ist die Materialisierung im Körper. Sie wird jedoch nicht „von oben“ aufgezwungen, sondern ist ein Normensystem, das ständig reproduziert wird, indem es von Individuen vollzogen wird (Volbers 2014, S.42). Zum Beispiel werden „weiblich“ geltende Verhaltensweisen eher von Frauen angenommen, wodurch die Norm nicht nur im einzelnen Individuum sichtbar wird, sondern auch gleichzeitig von diesem wiederholt wird und die gesellschaftliche Wirklichkeit mitgestaltet (vgl. Schmidt 2013, Artikel „Performativität“). Dabei verschleiern performative Akte, dass sie die „Natur“ herstellen, welche sie zum Ausdruck bringen wollen (Villa 2003, S.73).
Bestimmte Lebensweisen werden durch Normen legitimiert, andere werden ausgeschlossen und verworfen. Dabei stehen Normen und Handlungen in einer Wechselwirkung. Zum einen spiegeln sich erstere in letzteren wieder, allerdings konstituieren sie auch Verhaltensweisen und Praktiken (Wieder 2019, S.217). In Anlehnung an Foucault und Butler schreibt Anna Wieder:
Im Zitat wird deutlich, dass die Performativität, also die Produktivität des Diskurses bei Butler, essentiell für die Subjektivierung ist. Gleichzeitig wird auf die Lebensweisen aufmerksam gemacht, die nicht von der Norm erfasst werden. Dies stellt kein Widerspruch dar, denn performative Diskurse sind als langwieriger Prozess zu verstehen, sie sind nicht auf eine Situation und eine Biographie reduzierbar. Der Geschlechterdiskurs kann daher widersprüchliche oder vielfältige Effekte hervorbringen, auch wenn diese nicht der Norm entsprechen (Villa 2003, S.158-159).
Butler erklärt diese Destabilisierung anhand der Zitatförmigkeit von Performativität, d.h. der potentiellen Rekontextualisierung je nach zeitlicher und biographischer Dimension (Butler, S. 32 u. 35). Jedes Individuum kann eine Norm, auch die des Geschlechts, umdeuten oder verändern. Dadurch kann das, was nicht von einer Norm erfasst wird, sichtbar werden und mehr Aufmerksamkeit bekommen. Da jede Geschlechtsidentität eine Zitation ist, besteht die Möglichkeit, nur ausgewählte Elemente, bzw. bewusst „anormale“ Merkmale „nachzubilden“. Offensichtlich wird dies beispielsweise anhand von Drag, welches die betonte und offenkundige Verkleidung von Männern als Frauen oder umgekehrt darstellt (vgl. Villa 2003, S. 74-75). Zu betonen ist, dass mit dem Beispiel nicht der Eindruck entstehen soll, allein die Auswahl der Kleider wäre ausschlaggebend für die Konstruktion von, bzw. den Widerstand gegen ein binäres Geschlechtersystem. Der bewusste Bruch mit Konventionen und Verhaltensweisen ist ausschlaggebend. Hierin liegt also die Möglichkeit der Re- oder Neukonzeptualisierung von Normen. Für Butler ist es durch sie möglich, Widerstand gegen die Macht auszuüben, denn die Zitatförmigkeit, mit der Normen wiederholt werden, lässt Spielraum für eine Transformierbarkeit der Äußerungsgehalte (vgl. Wieder S.222). Tatsächlich kann Widerstand nur aus dem zu kritisierenden Machtgefüge heraus entstehen, nicht „von außen“ auf die Macht einwirken. Denn die Subjektivierung erfolgt innerhalb der heteronormativen Matrix, das Subjekt wird also von den Normen befähigt oder hergestellt, denen es sich widersetzen will (Butler, S. 28). Daher ist die dekonstruktivistische Herangehensweise Butlers essentiell für Widerstand. Indem analysiert wird, wie und/oder warum binäre Geschlechtsidentitäten die gesellschaftliche Wirklichkeit darstellen, können machtvolle Unterscheidungspraktiken aufgedeckt werden.
Ausblick
Anhand zweier Beispiele soll im Folgenden Butlers Theorie veranschaulicht werden. Zuerst soll gezeigt werden, inwiefern ihre Aussagen von 1995 auch auf aktuelle Probleme anwendbar sind. Beim zweiten Beispiel soll gezeigt werden, inwiefern es wichtig ist, die Machtstrukturen aufzuzeigen, um Widerstand zu ermöglichen.
erstes Beispiel
Das erste Beispiel ist eine Protestaktion, die auf die unterschiedliche Bewertung von männlichen und weiblichen Brustwarzen aufmerksam machen sollte. In sozialen Medien wie Facebook und Instagram werden Fotos von weiblich Brüsten gelöscht, wenn die Brustwarzen nicht zensiert sind. Nackte männliche Oberkörper müssen nicht zensiert werden. Die US-amerikanische Künstlerin und Professorin Micol Hebron hat 2014 eine Vorlage erstellt, mit der sie die ungleiche Behandlung kritisierte. Als Zensurmotiv wurde nämlich eine männliche Brustwarze gewählt, mit der die weiblichen überdeckt werden können. Ob dies von sozialen Netzwerken akzeptiert wurde, soll hier nicht interessieren. Die Aussage der Aktion ist jedoch klar. Wenn weibliche durch männliche Brustwarzen ersetzt werden, sieht man das wahrscheinlich nicht, denn beide sehen gleich aus. Es ist kein Unterschied feststellbar, jedoch wird einer gemacht. Die weiblichen dürfen nicht unzensiert sein, bei den männlichen ist es egal.
Die unterschiedliche Wahrnehmung von Körpern wird hier offensichtlich. Wenn männliche Brustwarzen weibliche zensieren können, liegt dies nicht an einer natürlichen Gegebenheit, sondern an einer diskursiv hergestellten, unterschiedlichen Beurteilung anhand eines binären Geschlechtermodells.
Mit Butler kann gesagt werden, dass Machtbeziehungen vor Körpern keinen Halt machen. Auch die Materialität des Körpers geht dem Diskurs nicht voraus, sondern wird erst durch ihn hervorgebracht. Auf die Umwelt wird immer über Diskurse zugegriffen, eine „neutrale“ Registrierung findet nicht statt. Die Materialität ist also historisches Produkt, der Körper eines Menschen ist damit materiell und kulturell (Distelhorst 2009, S. 24-26). Würde bei der Zensurvorlage nicht stehen, dass es sich um eine männliche Brustwarze handelt, könnte man es nicht erkennen. Der materielle Unterschied ist diskursiv geprägt (Butler 1995, S. 21). An diesem Beispiel wird das sehr deutlich, da es absurd ist, Brustwarzen mit Brustwarzen zu zensieren. Nichtsdestotrotz sind nackte weibliche Oberkörper etwas, das in der heutigen Gesellschaft kontrolliert und eingeschränkt wird, während männliche Oberkörper, zumindest im Bereich von Fotos in sozialen Medien, nicht von solchen Maßnahmen betroffen sind.
Die Materialität des Körpers, bzw. die Konstruktion, zu betrachten, heißt, die Zwänge und Einschränkungen sowie die Macht, welche geschlechtliche Konstruktion ermöglicht und reguliert, zu analysieren (vgl. Villa 2003, S. 84). Die Materie ist immer auch durch Diskurse der sexuellen Differenz und der Heterosexualität geformt, sie ist hinterfragbar (vgl. ebd., S. 92). Mit dem Beispiel von Micol Hebrons Zensurvorlage sollte gezeigt werden, dass das Aufzeigen eines solchen Unterschiedes, der gemacht ist, aufmerksam auf die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen machen soll. Mit Butlers theoretischen Konzepten ist es sehr gut zu erläutern, die diskursive Prägung von Materie ist bei der Brustwarze offensichtlich.
zweites Beispiel
Im zweiten Beispiel, das zu Butlers Theorie hinzugezogen wird, soll dargestellt werden, inwiefern Geschlecht eine Norm darstellt. Auch die Performativität des Diskurses soll klar gemacht werden. Das Beispiel ist ein Ausschnitt aus der Dokumentation „No more boys and girls: Can our kids go genderfree“. Die Doku wurde von BBC produziert und im August 2017 das erste Mal ausgestrahlt. Im Ausschnitt geht es um Kleinkinder und ihre Spielsachen. Ein*e Erwachsene*r wird beauftragt, auf ein Kind aufzupassen. In dem zur Verfügung gestellten Raum sind viele unterschiedliche Spielzeuge, welche nach stereotypen Geschlechterbildern ausgewählt wurden (z.B. Autos für Jungs und Puppen für Mädchen). Es wird immer auf ein einzelnes Kind aufgepasst, welches Kleidung des „entgegengesetzten“ Geschlechts trägt. Mädchen werden als Jungs verkleidet und umgedreht, Marnie wird mit „Oliver“ angesprochen und Edward mit „Sophie“. Mit dem Experiment soll festgestellt werden, ob die Aufpassenden bereits bei Kleinkindern ein je nach (erwartetem oder unterstelltem) Geschlecht unterschiedliches Verhalten an den Tag legen.
Das Resultat: Kindern, die weiblich aussehen, werden eher Puppen und weiche Spielzeuge gereicht, männlich aussehende bekommen Autos und Puzzles. Die Aufpassenden werden mit der Information konfrontiert, dass die „Jungs“ eigentlich „Mädchen“ sind, bzw. umgekehrt, woraufhin sie überrascht sind. Zumindest die im Nachhinein interviewten Personen geben zu, dass ihr Verhalten dem Kind gegenüber an dessen Geschlecht angepasst war, Mädchen werden anders behandelt als Jungs. Ich habe nicht herausgefunden, wie viele Kinder und Aufpassende an dem Experiment beteiligt waren und in wie vielen Fällen die ungleiche Behandlung mehr oder weniger festzustellen war. Daher soll hier nicht darauf eingegangen werden, wie repräsentativ die Quelle für eine Forschungsarbeit ist. Sie dient dem Veranschaulichen einiger Formulierungen Butlers und als Beispiel eines Bereiches, in dem die heteronormative Matrix auf Menschen einwirkt.
„Schier unendlich und allzu offensichtlich, so unser Alltagswissen, sind die so genannten körperlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Etwas anderes zu behaupten ist so kontrafaktisch, dass es an Spinnerei grenzt – oder es ist, wie Butler vornehmer formuliert, «wohl kaum eine These, die sich von selbst versteht»“ (Villa 2003, S.79). Auch wenn das Zitat eigentlich Bezug auf die diskursive Prägung der Körper nimmt, so ist es dennoch auf das Beispiel anwendbar. „Jungs sind nun mal Jungs“ ist ein Ausdruck, der sicherlich jeder*m bekannt vorkommt. Dabei wird ein geschlechterspezifisches Verhalten gerne als natürlich dargestellt. Jungs spielen gerne mit Autos, Mädchen mit Puppen, was an sich kein Problem ist. Dennoch ist es wichtig, aufzuzeigen, dass dies eben nicht von Natur aus so ist, sondern Handlungen und Diskurse auch auf Kleinkinder eine performative Kraft ausüben. Im oben verlinkten Video wird deutlich, dass die aufpassenden Personen unterschiedliche Spielzeuge aussuchen, je nach Kind und dessen Geschlecht. Für das Mädchen, das gekleidet ist wie ein Junge, spielt es keine Rolle, ob es mit einem „männlichen“ Spielzeug spielt, denn es wird kein Unterschied gemacht. Das Auto kann auch ihm Spaß machen. Da die Idee von unterschiedlichen Interessen bei männlichen und weiblichen Kindern bei den Aufpassenden verinnerlicht ist, wird einem Jungen ein anderes Spielzeug gereicht als einem Mädchen, wird jener anders angesprochen und umsorgt als letztere. Dadurch entwickeln sich andere Fähigkeiten und Vorlieben, die wiederum als natürlich dargestellt und wahrgenommen werden, weil es eine statistische Mehrheit gibt.
Offensichtlich wird in dem Beispiel, wie Performativität sich manifestiert. Konstruierte Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern sind von den Proband*innen verinnerlicht. Einige bezeichnen sich sogar als offen und nicht eingenommen von stereotypen Vorstellungen, wie männliche oder weibliche Kinder sein sollen. Dennoch kristallisiert sich ein ähnliches Verhaltensmuster je nach Geschlecht heraus, wenn auch möglicherweise unbewusst. Es wird ein kulturelles und gesellschaftsspezifisches Bild von Geschlecht wiederholt und bei den Kindern „umgesetzt“. Gleichzeitig lässt das Beispiel erkennen, dass es die Norm „Geschlecht“ schafft, „unentdeckt“ zu bleiben, natürlich zu wirken. Geht man nun davon aus, dass die meisten Menschen bereits als Kind geschlechterspezifisch erzogen wurden, im späteren Leben immer auch ein Bezug zum Geschlecht hergestellt wird und deshalb als Mann „männliche“ und als Frau „weibliche“ Interessen haben, wird klar, wie wichtig es ist, die verantwortlichen Mechanismen zu analysieren und zu kritisieren. Die schier unendlichen und offensichtlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die nicht nur den Körper, sondern auch Verhaltensweisen und Interessen betreffen, verlieren dadurch an Gewicht, bzw. können in ein anderes Licht gerückt werden.
Fazit
Judith Butlers Theorie und Forschung ist auch über 20 Jahre nach ihrem Erscheinen aktuell. Ihre Konzepte von Konstruktion und Diskurs im Hinblick auf die Performativität sind aufschlussreich für viele verschiedene Themenbereiche. Die dekonstruktivistische Methode lässt es zu, Machtstrukturen, die im „Verborgenen“ liegen, zu analysieren und kritisieren. Das „Natürliche“ liegt nicht vor der Konstruktion, sondern ist auch kulturell und historisch geprägt. Das Normensystem, zu dem auch „Geschlecht“ gezählt wird, wird ständig reproduziert, indem Individuen es vollziehen. Daher lassen sich auch aktuelle Themenfelder gut mit Butlers Formulierungen analysieren, denn an der performativen Kraft des Diskurses hat sich nichts geändert. Um jeden Menschen fair zu behandeln, ist es wichtig, die unterdrückenden Strukturen zu benennen und Alternativen, bzw. Lösungsvorschläge, zu formulieren. Wie im ersten Beispiel mit geschlechterspezifischen Vorstellungen von Spielzeug und dem Umgang mit Kindern deutlich wurde, kann jede*r bei sich das Verhalten beobachten und darauf achten, ob man selbst eine am Geschlecht oder der Sexualität oder Sonstigem des Gegenübers andere Art und Weise im Umgang an den Tag legt. Somit könnte die Performativität verändert werden in eine tolerantere Richtung. Die Erziehung der Kinder spielt dabei eine große, aber keine alleinige Rolle.
Literatur
- Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995.
- Distelhorst, Lars: Judith Butler, Paderborn 2009.
- Lorey, Isabelle: Immer Ärger mit dem Subjekt. Theoretische und politische Konsequenzen eines juridischen Machtmodells: Judith Butler, Tübingen 1996.
- Ludewig, Karin: Die Wiederkehr der Lust. Körperpolitik nach Foucault und Butler, Frankfurt/Main 2002.
- Schmidt, Melanie: Artikel „Performativität“, in: Gender Glossar 2013.
- Villa, Paula-Irene: Judith Butler, Frankfurt/Main 2003.
- Volbers, Jörg: Performative Kultur. Eine Einführung, Wiesbaden 2014.
- Wieder, Anna: Das Versprechen der Norm und ihre Drohung. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie. Band 6, Heft 1 2019, S. 215-238.