Einführung: Geschlecht soziologisch

Wer sich mit Identitätspolitik beschäftigt, stößt natürlich auf eine Frage, die gestellt werden sollte: Welche Identität(en) eigentlich? Was ist das, wofür (oder wogegen?) Politik gemacht wird? Welche Basis haben die Debatten? Hier wollen wir Identitäten in Bezug auf die Identitätskategorie „Geschlecht“ genauer betrachten und dabei den Blick vor allem auf zwei sich in der feministischen Debatte entgegenstehenden Ausrichtungen rund um die Frage um „Geschlechtsidentität“ richten, nämlich radikalfeministische (und ähnlich materialistische) und poststrukturalistische Ansätze.

Weitere Informationen über die Entwicklung, bzw. weitere Positionen zum Thema „Geschlecht“, können auch im Eintrag Frauenbewegungen gefunden werden.

Eine soziologische Betrachtung von Geschlecht bedeutet, diese Kategorie nicht als Gegebene festzuschreiben, sondern zu analysieren wie die Kategorie gesellschaftlich wirkmächtig wird.

Was bedeutet „Geschlecht“ soziologisch? Ein Eintrag aus der Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences:

„Geschlecht wirkt auf mindestens drei Ebenen von menschlicher Erfahrung: als Persönlichkeitsstruktur, als Set interaktiver Praxen, und als ein Aspekt sozialer Organisation. (…) Feministische Soziolog*innen haben herausgefunden, dass Geschlecht unsere Selbstwahrnehmung beeinflusst, die Erwartungen in unseren täglichen Interaktionen strukturiert und als soziale Organisationsform Chancen und Einschränkungen bedeutet. All dies ist Teil vom gleichen Prozess. Das individuelle Selbst ist somit ein Ergebnis von Beziehungen und Erfahrungen, die wiederum geformt sind von einer durch Geschlecht, Rasse und Klasse strukturierten sozialen Ordnung. (…) Geschlecht organisiert uns in mehr als nur zwei Kategorien.“ (Sprague 2001: 5942–5948)

Materialistischer Feminismus: Ausblendung von Identität

Materialistischer Begriff von Geschlecht als Strukturkategorie

Der materialistische Feminismus befasst sich weniger mit einer Geneologie des Geschlechts oder der Geschlechtsidentität. Stattdessen fungiert „Geschlecht“ als relevante Strukturkategorie in ökonomischen Verhältnissen, die in Anschluss an Marx zentral das menschliche Leben bestimmen. Insbesondere in der zweiten Frauenbewegung war dieser Materialismus eine etablierte Strömung. Materialistische Feminist*innen richten ihren Blick auf den Zusammenhang zwischen Geschlecht und der Produktions- sowie Reproduktionssphäre, sowie die dadurch entstehende Arbeitsteilung. Es ist das Zusammenspiel von Kapitalismus und Patriarchat, das zu der binären, heteronormativen Geschlechterordnung führt (vgl. www.radikale-linke.at 2018).

„Frauen sind für reproduktive, d.h. gebärende, versorgende, sorgende und emotionale Arbeiten zuständig und Männer für produktive. Dies spiegelt sich nicht nur in der Zuständigkeit der Frauen für Haus- und Sorgearbeit und der Männer für bezahlte Arbeit, sondern auch innerhalb der Lohnarbeit: So sind für erwerbstätige Frauen diejenigen Tätigkeiten vorgesehen, die reproduktiv sind: Krankenschwester, Lehrerin, Kindergärtnerin etc. Die Individuen sind dem Lohnarbeitsverhältnis damit immer als Frauen oder Männer unterworfen, nie nur als ‚geschlechtsneutrale’ Lohnabhängige“ (Carstensen/Groß 2006: 13f).

In diese Arbeitsteilung geht auch eine Hierarchisierung der Geschlechter mit ein. Gestützt wird dieses von (oft polaren) Eigenschaften, die den Geschlechtern als deren scheinbare „Natur“ zugewiesen werden, wie bspw. „öffentlich-privat“, „Kultur-Natur“. Dazu passende psychologische Merkmale werden in der Sozialisation an die Individuen herangetragen und von ihnen verinnerlicht. Doch der Fokus der Betrachtungen der materialistischen Feminist*innen liegt nicht bei den Individuen, sondern auf der Makro-Ebene; sie betrachten gesellschaftliche Strukturen und „Frauen“ bzw. „Geschlecht“ als eine Kategorie darin (vgl. ebd. 13-15). Das Subjekt „Frau“ ist eine notwendige Analysekategorie, mit dem Ziel, Herrschaftsverhältnisse aufzudecken und schließlich auch bekämpfen zu können (vgl. www.radikale-linke.at 2018).

Politische Schwerpunkte: Reproduktionsarbeit

Zentral geht es im materialistischen Feminismus um Herrschaftsverhältnisse: Wie diese auf Basis der Ökonomie organisiert sind, zum Ausdruck kommen und möglicherweise auch durchbrochen werden können. Eines der Ziele der materialistischen Feminist*innen ist es, auch Frauen mit in die Begriffe von Reproduktion und Produktion einzuschließen (vgl. Carstensen/Groß 2006: 3). Somit geht es hier hauptsächlich um (oft unbezahlte) Haus- und Sorgearbeit sowie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auch in der Lohnarbeit (vgl. Prokla-Redaktion 2014: 2-4).

Kritik an einem universell gedachten Subjekt "Frau"

Eine Kritik an strikt materialistischen Ansätzen, insbesondere aus der zweiten Frauenbewegung, ist, dass sie sich zu wenig mit dem Ausdruck der Geschlechterungleichheit auf individueller Ebene auseinandersetzen. Denn die ökonomische und invididuell/psychologische Seite spielen sich gegenseitig in die Hände und sind untrennbar miteinander verbunden.

Eine weitergehende Kritik ist diejenige, dass materialistische Feminist*innen, wenn sie von der Kategorie bzw. dem Subjekt „Frau“ ausgehen und dies als Ausgangspunkt ihrer Analysen setzen, eigentlich einen weißen, bürgerlichen bias haben. Damit werden die Realitäten von Frauen in anderen Lebenssituationen ausgeblendet; der Anspruch, eine allgemeine Analyse zu machen, kann nicht eingelöst werden. Ein Beispiel hierfür ist die Kritik der Rolle der bürgerlichen Kleinfamilie. Schwarze Aktivistinnen betonten, dass die Kleinfamilie in rassistischen Gesellschaftsordnungen für sie nicht mehr Unterdrückung, sondern eher Freiheit bedeutet (vgl. Prokla-Redaktion 2014: 4,7). In Reaktion darauf etablierten sich Ansätze der Intersektionalität und des Poststrukturalismus.

Radikalfeminismus: die Ergründung des Patriarchats

Radikalfeministisches Verständnis von Geschlecht als gesellschaftliches Verhältnis

Eine weitere Strömung ist die des Radikalfeminismus. Die Bezeichnung „radikal“ kommt daher, dass das Patriarchat bei der Wurzel (lat. radix) gepackt werden soll, also an den Ursprüngen der Unterdrückung nach Geschlecht angesetzt werden soll. Den Ursprung wird im biologischen Geschlecht und der Kontrolle der Männer über weibliche Körper gesehen. Alles, was über das biologische Geschlecht und die Gebärfähigkeit an unterscheidenden Merkmalen hinausgeht, ist das Produkt einer geschlechtlichen Stereotypisierung, die dazu dient, Männern eben diese Kontrolle zu gewähren und erhalten. Der Radikalfeminismus verwehrt sich damit gegenüber einem Essentialismus von Geschlechtsidentitäten und hat zum Ziel, die Geschlechterverhältnisse abzuschaffen (vgl. Sanyal 2019; Pintul 2018).

Ebenso wie die materialistischen Feminist*innen identifizieren sie binäre Geschlechternormen, die beinhalten, dass Frauen passiv, schwach, emotional,… seien, während Männer stark und dominant seien. Auch die damit einhergehende Hierarchisierung stellen sie fest, ebenso wie die Auswirkungen auf die Einteilung im Produktionsprozess. Der Unterschied ist allerdings, dass die materialistischen Feminist*innen primär den Produktionsprozess betrachten, und dann die patriarchalen Verwicklungen damit, währen die Radikalfeminist*innen die Unterscheidung zwischen gebärfähigen Frauen und Männern als den Ausgangspunkt für die gesellschaftliche, patriarchal organisierte Struktur sehen, in der Männer versuchen, diese Fähigkeit der Frauen zu kontrollieren.

Vertiefung

Das radikalfeministische Verständnis von „Geschlecht“ in der Auseinandersetzung mit dem queerfeministischen Geschlechtsverständnis

Wenn es um „Geschlecht“ im Radikalfeminismus geht, ist es kaum möglich, die radikalfeministische Auseinandersetzung mit den queerfeministischen Ansätzen außen vor zu lassen. Denn zumindest heute und insbesondere im aktivistischen Bereich ist diese Auseinandersetzung nahezu konstitutiv für radikalfeministische Politiken (vgl. Störenfriedas/Hoheide 2016: Gründung der Gruppe 2014 auf Grund der Auseinandersetzung mit „Unbehagen“ im feministischen Mainstream). Als Kern des Problems mit dem Queerfeminismus wird insbesondere das Konzept „Gender“ identifiziert. Ursprünglich, so wie bspw. Simone de Beauvoir noch soziales und biologisches Geschlecht unterschied, schien das Konzept hilfreich zu sein, um die Unterscheidung zwischen biologischen und sozialisierten, sozial konstruierten, und damit nicht feststehenden Geschlechtsmerkmalen deutlich zu machen. Radikalfeminist*innen beziehen sich, wenn sie von 'gender' sprechen, höchstens auf „the externally imposed set of norms that prescribe and proscribe desirable behaviour to individuals in accordance with morally arbitrary characteristics“ (Reilly-Cooper 2016).

Gender, bzw. die damit einhergehenden sozialen Rollen und Charakteristika, existieren demnach eigentlich nur zum Zweck der männlichen Herrschaft. Problematisch wird es für die Radikalfeminist*innen in dem Moment, in dem nach Judith Butler auch das biologische Geschlecht ebenso wie das soziale dekonstruiert wird. Die Folge davon ist aus radikalfeministischer Sicht, dass die Basis für die Frauenunterdrückung aus dem Blick gerät und Frauenunterdrückung nicht mehr strukturell gedacht werden kann. Der Blick verschiebe sich auf Personen, die sich mit den Konstrukten 'männlich' und 'weiblich' nicht identifizieren können. Dies setzt allerdings voraus, dass im Queerfeminismus davon ausgegangen wird, dass manche Menschen mit den Gender-Rollen „Mann“ und „Frau“ kompatibel seien, während andere es nicht seien. Dies wiederum deutet an, dass „Gender“ nicht nur sozial konstruiert ist, sondern etwas, das den Menschen wesenhaft inhärent ist. Das Ziel der Queerfeminist*innen sei nicht die Abschaffung von „Gender“, sondern ihre Pluralisierung, die das „eigentliche“ Spektrum der Geschlechter abbilde. Im Radikalfeminismus ist „Geschlecht“ also ein Begriff, der eine Sozialisationsstruktur beschreibt, während er im Queerfeminismus eine Identitätsdimension darstellt (vgl. Reilley-Cooper 2016; Störenfriedas/Einige Störenfriedas 2016). Frausein bedeute im Gesamtstrukturzusammenhang, unterdrückt zu sein und nicht privilegiert (vgl. Pintul 2018; Störenfriedas/Gerlich 2017). Insbesondere die scheinbare Freiweilligkeit, mit der die Geschlechtszugehörigkeit gewählt werden kann, wird kritisiert. Das Problem, das der Queerfeminismus (zumindest in seiner aktuellen politischen Praxis, nicht unbedingt in den theoretischen Ansätzen von Butler) hat, ist, dass „Gender“ mit 'individueller, vielschichtiger Persönlichkeit', eben mit 'Identität', verwechselt wird und damit affirmativ besetzt wird. Der gewaltvolle und herrschaftsdurchrungene Prozess der geschlechtlichen Zurichtung wird ausgeblendet (vgl. Sanolas 2018: 191-194). Wenn man hingegen davon ausgeht, dass „Gender“ nichts als ein Produkt der Sozialisation ist, die man sich nicht völlig selbst aussucht, und außerdem eine Kategorie, der man zugeordnet und entsprechend unterdrückt wird, macht es natürlich wenig Sinn, die für sich passende Geschlechtskategorie selbst benennen zu können; dem fehlt die materielle Grundlage (vgl. Pintul 2018: 253). Der Queerfeminismus übersehe mit seiner Fokussierung auf innerpsychische Angelegenheiten die gesellschaftliche Wirkmacht der Geschlechterkategorien, die anhand von Körpermerkmalen verläuft. Bei Transidentitäten zeige sich, dass es unterschiedlich leicht oder schwer falle, mit den Gendernormen zu konformieren. Letztendlich funktioniere die Geschlechterbinarität aber für eigentlich für niemanden richtig (vgl. Sanolas 2018: 191-196).

*Triggerwarnung: Darstellung transfeindlicher Inhalte*

Einige Radikalfeminist*innen gehen noch weiter und stellen die tatsächliche Existenz von Transidentitäten in Frage (Inter werden darüber hinaus ausgeblendet bzw. auch in das Schema 'gebärfähig oder nicht' mit eingeschlossen). Hier dargestellt sind Argumentationen vom Blog „Störenfriedas“, die aber mit dem Hinweis versehen sind, dass sie nicht unbedingt die Meinung der Gruppe widerspiegeln, sondern impulsgebend für die Debatte sein sollen (den Kommentarspalten darunter ist größtenteils Zustimmung zu den Haltungen zu entnehmen). Trans*menschen haben in ihren Augen psychische Störungen (in Folge der patriarchalen Herrschaft) oder gehen strategisch vor, um entweder, wie im Fall von Transmännern, den weiblichen Zuschreibungen zu entkommen, oder, im Fall von Transfrauen, in Frauenräume einzudringen und die Frauenunterdrückung und -kontrolle noch weiter zu führen. Transfrauen wird u.a. vorgeworfen, dass sie mit ihren Wünschen nach künstlicher, technisch ermöglichter Schwangerschaft an Diskurse aus dem dem 19. Jh. anknüpfen wollten, in dem Männer Frauen komplett verdrängen wollten, indem sie 'Gebärmaschinen' bauen wollten. Oder sie würden mit dem Sprechen und Vorwürfen der Transfeindlichkeit Frauen (gezielt) feministische Politik nehmen, oder in Frauenräumem eindringen , um Gewalt gegen Frauen ausüben zu können, weil sie aus ihrer männlichen Sozialisation nicht ausbrechen könnten (vgl. Störenfriedas/Maunz 2017; Störenfriedas/Gerlich 2017).

Radikalfeministische Politische Schwerpunkte: Körperpolitiken

Anknüpfend daran, dass die männliche Kontrolle über die weibliche Gebärfähigkeit als das Urproblem gesehen wird, bezieht sich ein Großteil der Politik des Radikalfeminismus auf Körper (im weitesten Sinne): Abtreibungspolitik, Tötung und Gewalt gegen Frauen, Pornographie, Prostitution und Menschenhandel sind immer wiederkehrende Themen. Es geht um deren strukturelle Verankerung in Gesetzen und gesellschaftlichen Institutionen, in denen sich das männliche Anspruchsdenken widerspiegelt (vgl. ebd).

Poststrukturalistischer Feminismus: gibt es eine Grundlage von Geschlecht?

Poststrukturalisitscher Begriff von Geschlecht

Im poststrukturalistischen Feminismus ist die Fragerichtung umgedreht: so wird nicht länger gefragt, wie das Geschlecht in das Soziale eingeschrieben ist und wie gesellschaftliche Verhältnisse wie Frauenunterdrückung und Patriarchat entstehen. Es geht weniger um soziale Organisation und Interaktion. Stattdessen kommt die Frage auf, wo der Ursprung der gesellschaftlichen Kategorie Geschlecht (sex und gender) liegt. Judith Butler antwortet auf diese Frage, indem sie aufzeigt, dass beides, sex und gender, schon vergesellschaftet ist, da es keinen prädiskursiven Blick auf diese Kategorien geben kann.

Vertiefung

„Gender“ als regulierendes Ideal

In anderen poststrukturalistischen Ansätzen, wie den Queer Studies, geht es darum, aufzuzeigen, wie sehr vergeschlechtlichte Kategorien eine Binarität eröffnen, die später auch zur Bestätigung von Geschlecht durch die Wissenschaft, explizit die Sexualwissenschaften, führt und geführt hat (Barker & Scheele 2016). Zudem zeigen die Queer Studies, wie eine binäre Geschlechterordnung und ein Regime der Heterosexualität sich gegenseitig hervorbringen und stabilisieren (Degele 2008). Die Queertheorie übt Kritik an essenzialisierenden Identitätskategorien, die Individuen aufgrund von angeblich wesenhaften Eigenschaften festschreiben. Außerdem fordern die Queerstudies eine epistemologische Auseinandersetzung mit Begriffen und Kategorien, die durch moderne, weiße, meist männliche Wissenschaftler*innen gesetzt wurden. In der poststrukturalistischen Theorie gibt es kein sex und auch kein Gender, sondern Normen und das regulierende Ideal „Gender“, was dazu führt, dass Körper sich auf eine bestimmte Art materialisieren. Damit ist die Ebene der Subjektwerdung, also das Sich-erkennen des Individuums durch die Interaktion mit der Gesellschaft/Umwelt angesprochen, und weniger die Sozialisation. Im weitesten Sinne zielen diese Fragestellungen auf eine Machtanalyse ab: wie bei Foucault ist diese ubiquitär, also überall verortet und diskursiv gestützt. Macht entsteht durch ihre Zirkulation und Wiederholung, sie ist abhängig davon, dass diejenigen ohne Macht sie anerkennen. Deshalb fragen poststrukturalistische Feminist*innen nicht nach dem Ursprung der Frauenunterdrückung als Herrschaftsverhältnis, sondern ob es ein Geschlecht hinter der gesellschaftlichen Kategorie gibt – nach dem Ursprung der Macht des Geschlechts.

Judith Butler

Judith Butlers „Gender Trouble“ und “Körper von Gewicht“ sind Standardwerke und Gründungsdokumente der Queer Theorie. Früh schon musste Butler sich gegen den Vorwurf der totalen Dekonstruktion realer Erfahrungen und tatsächlicher Strukturkategorien wehren:

Historische Einordnung Das Buch 'Körper von Gewicht' erschien 1994, gegen Ende der zweiten Welle des Feminismus, in der einerseits die Trennung von sozialem und biologischem Geschlecht (sex) und die Annahme einer Konstruktion des sozialen Geschlechts (gender) gängig war. Davon grenzt Butler sich ab. Zuvor hatte Butler 'Gender Trouble' veröffentlicht, woraufhin sie viele kritische Reaktionen erhalten hat. 'Körper von Gewicht' reagiert auf die kritischen Einwände und präzisiert einiges (vgl. Butler 1994: 14).

Ausgangspunkt der Überlegungen:

Das biologische Geschlecht (sex) wird oft an der Materialität der Körper festgemacht, auf die die Kritiker*innen Butlers immer wieder verweisen. Diese Materialität lässt sich aber nach Butlers Ansicht nicht richtig fixieren und bedeutet auch keine wesenhafte Konstante.

Grundlegende These

Auch die Kategorie ‚sex‘ ist grundlegend normativ, sie ist, mit Foucault gesprochen, ein ‚regulierendes Ideal‘. → „Sex“ ist demnach nicht einfach nur eine Norm, sondern eine Praxis, die produktiv wirkt, und zwar produziert sie Körper, indem sie diese abgrenzt, differenziert und „zirkulieren lässt“.

→ Somit erzwingt dieses Ideal eine Materialisierung.

„Anders gesagt, das ‚biologische Geschlecht‘ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird„ (Butler 1994: 21); und zwar durch ständige Wiederholung. Die Materialisierung ist aber nie vollständig abgeschlossen, was man daran sieht, dass eine ständige Wiederholung überhaupt nötig ist.

„1. Die Materie der Körper wird neu gefaßt als die Wirkung einer Machtdynamik, so daß die Materie der Körper nicht zu trennen sein wird von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen, und von der Signifikation dieser materiellen Wirkungen. 2. Performativität wird nicht als der Akt verstanden, durch den ein Subjekt dem Existenz verschafft, was sie/er benennt, sondern vielmehr als jene ständig wiederholende Macht der des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert. 3. Das ‚biologische Geschlecht‘ wird nicht mehr als ein körperlich gegegebenes ausgelegt, dem das Konstrukt des sozialen Geschlechts künstlich auferlegt wird, sondern als eine kulturelle Norm, die die Materialisierung von Körpern regiert. 4. Der Prozeß, in dem eine körperliche Norm angenommen, angeeignet oder aufgenommen wird, wird neue gedacht als etwas, was im strengen Sinne nicht von einem Subjekt durchgemacht wird, sondern als etwas, durch das das Subjekt, das sprechende ‚Ich‘, gebildet wird, nämlich dadurch, daß ein solcher Prozeß der Annahme eines Geschlechts durchlaufen worden ist. 5. Dieser Prozeß der ‚Annahme‘ eines Geschlechts wird mit der Frage nach der Identifizierung und den diskursiven Mitteln verbunden, durch die der heterosexuelle Imperativ bestimmte sexuierte Identifizierungen ermöglicht und andere Identifizierungen verwirft und/oder leugnet“ (Buter 1994: 21).

Zentrale Begriffe

Hier gibt es eine Sammlung zentraler Begriffe.

Kritik: Rückbezug zur Queerpolitik

Die Theorie von Judith Butler ist sehr breit aufgegriffen worden, insbesondere im Queerfeminismus. Dabei sind allerdings einige Aspekte verloren gegangen. Queerfeministische Politiken blenden den Prozess der Subjektivierung und damit auch der Umstände, unter denen sich Identitäten bilden, häufig aus. Beispielhaft kann hier die Broschüre 'Mädchen? Junge? Pony? Oder alles was du willst' (Transgeniale Fantifa: 2014) angesehen werden. Diese Ausprägung in der politischen Praxis ist es letztendlich auch, auf der der Großteil der Kritik, v.a. von Seiten der Radikalfeminist*innen, beruht.

Zentrale Unterschiede und die Möglichkeit der konstruktiven Debatte zwischen den Ansätzen

Materialistische/Radikalfem. Ansätze Poststrukturalistische Ansätz
Fokus der Analyse Strukturkategorie Geschlecht, Subjekt Frau als notwendig für Politik Subjektivierung, Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht
biologische Grundlage für die Einteilung in Geschlechter ja nein
Wirken des Sozialisationsprozesses wirkt strukturell auf das Individuum ein, Patriarchat kein abgeschlossener Prozess, sondern ständige Subjektwerden, Möglichkeit für Widerstand
Verständnis von 'Identität' Lehnen die 'Geschlechtsidentität' ab, wollen Abschaffung aller Geschlechterrollen Annahme der normativen Anrufungen,veränderbar, Verwerfen nicht-kohärenter Impulse (heterosexuelle Matrix)
politisches Ziel Abschaffung/Überkommen der Kategorien – Gesellschaft, in der Geschlecht nicht mehr auf die gleiche Weise relevant ist Abschaffung/Überkommen der Kategorien – Gesellschaft, in der Geschlecht nicht mehr auf die gleiche Weise relevant ist

Aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen theoretischen Basis erscheinen die Ansätze, insbesondere in der Form der Übertragung in die politische Praxis als unüberwindbar einander gegenübergestellte Bewegungen, Queerfeminismus gegen Radikalfeminismus. Doch diese Ansicht resultiert vielleicht hauptsächlich aus der Selbstbetrachtung dieser Strömungen. Von einem außenstehenden Standpunkt scheint es nicht unmöglich, die Ansätze zusammenzudenken. Denn die faktische Existenz von Trans*identitäten sollte anerkannt werden, und die Theorie von Judith Butler bietet einen einen Erklärungsansatz dafür, im Gegensatz zu der radikalfeministischen Betrachtungsweise, die diesen Aspekt ausblendet bis verleugnet. Gleichzeitig könnten in der Queertheory und im Queerfeminismus Fragen der geschlechtsstereotypen Sozialisation und deren Einfluss auf die Subjektbildung gestellt werden. Und nicht zuletzt ist nicht zu vergessen, dass auch der materialistische Feminismus und dessen Ansatz einbezogen werden können. So gibt es mittlerweile schon einige Studien, die in die Analysen der Verwicklungen von Patriarchat und Kapitalismus auch die Stellung von Trans*personen integrieren und ihre spezifische Form der Unterdrückung hervorheben (bspw. Franzen/Sauer 2010, Becker 2018). Ebenso kann eine materialistische feministische Analyse nur von der Einbindung der Queer Theory profitieren: Die gesellschaftliche Konstruktion von Sexualität ist konstitutiv für die Unterdrückungsmechanismen nach Klasse, Rasse und Geschlecht, wie eine Analyse der historisch spezifischen Akkumulation von Kapital zeigt (Noyé 2014). Floyd (2013 zitiert nach Noyé 2014) untersucht dies anhand von Marktveränderungen und der Kapitalakkumulation im Fordismus und Postfordismus: Queere Räume werden privatisiert und gentrifiziert, die Dienstleistungsberufe auf dem queeren Markt sind wiederum von extrem prekären Gehältern gezeichnet. Damit wird Queere Theorie zu einem Analyseinstrument für die Untersuchung von Klasse, Geschlecht und Sexualität in Bezug auf die Entstehung von Subjektivitäten. Insbesondere deren Kommodifikation im Neoliberalismus trägt zu spezifischen Formen der Kapitalakkumulation bei, was auch nur durch eine Verbindung queerer und materialistischer Ansätze analysiert werden kann. Queere Theorie lenkt also den Blick auf die Produktionsverhältnisse wie auch Systeme von Macht und Wissen. Eine queer-marxistische Analyse bietet eine feministische Perspektive auf die neoliberale Globalisierung durch die Linse der sexuellen Subjektivierung innerhalb des kapitalistischen Systems - eine Relektüre, die Kontingenz im Kapitalismus sichtbar macht (nach Noyé 2014).

Literatur

Barker, M. J. & Scheele, J. (2016): Queer: A graphic history. London: Icon Books.

Becker, Lia 2018: New Queens on the block. Transfeminismus und neue Klassenpolitik. In: Luxemburg, Heft 02/2018 [September], Neue Klassenpolitik. https://www.zeitschrift-luxemburg.de/new-queens-on-the-block/

Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht: die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin.

Carstensen, Tanja/Groß, Melanie (2006): Feminismen: Strömungen, Widersprüche und Herausforderungen. In: FAU-MAT (Hrsg): Gender und Arbeit. Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus. S. 11-32. online abrufbar: https://www.fh-kiel.de/fileadmin/data/sug/pdf-Dokument/Melanie_Gross/carstensen_gross_feminismen.pdf. Zuletzt geprüft: 23.3.2020.

Degele, Nina (2008): Gender/Queer Studies. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag.

Franzen, Jannik/Sauer, Arn (2010): Benachteiligung von Trans*personen, insbesondere im Arbeitsleben. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Auftraggeber). Online abrufbar: http://www.transinterqueer.org/download/Publikationen/benachteiligung_von_trans_personen_insbesondere_im_arbeitsleben.pdf. Zuletzt geprüft: 30.3.2020.

Noyé Sophie (2014). Pour un féminisme matérialiste et queer. Contretemps Revue de Critique Communiste. https://www.contretemps.eu/pour-un-feminisme-materialiste-et-queer/. Zuletzt geprüft: 02.04.2020.

Pintul, Naida (2018): Regressive Lifestyles bewerben. Queerfeminismus – das aktivistische Verfallsprodukt des Gender-Paradigmas. In: Vukadinovic, Vojin Sasa. Freiheit ist keine Metapher. Berlin: 235–255.

Prokla-Redaktion (2014): Editorial: Materialistischer Feminismus. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 44 (174). S. 2-10. Online abrufbar: https://doi.org/10.32387/prokla.v44i174.188. Zuletzt geprüft: 23.3.2020.

Reilly-Cooper, Rebecca (2016): Gender is not a spectrum. In: Aeon; veröffentlicht: 28.6.2016. Online abrufbar: https://aeon.co/essays/the-idea-that-gender-is-a-spectrum-is-a-new-gender-prison. Zuletzt geprüft: 30.3.2020.

Sanolas, Elvira (2018): Geschlecht als Wille und Design. Zur Kritik an der queeren Multiplikation der Geschlechtsidentitäten. In: Linkerhand, Koschka (Hrsg.) 2018: Feministisch streiten: Texte zu Vernunft und Leidenschaft unter Frauen. Berlin: 188–200.

Sanyal, Mithu (2019): Hä, was heißt Radikalfeminismus? In: Missy Magazine, 6. Online abrufbar: https://missy-magazine.de/blog/2020/01/13/hae-was-heisst-radikalfeminismus/. Zuletzt geprüft: 23.3.2020.

Sprague, J. (2001). Gender and Feminist Studies in Sociology. In International Encyclopedia of the Social & Behavioral Sciences (S. 5942–5948). Elsevier. https://doi.org/10.1016/B0-08-043076-7/03960-7

Störenfriedas: Blog www.stoerenfriedas.de

www.radikale-linke.at (2018): https://radikale-linke.at/de/2018/11/12/tagung-zu-materialistischem-feminismus-30-11-01-12-in-wien/. Zuletzt geprüft: 23.3.2020

Transgeniale Fantifa (2014): Mädchen? Junge? Pony? Oder alles was du willst. Eigenverlag. Online abrufbar: http://transgenialefantifa.blogsport.de/images/MaedchenJungePony_DritteAuflage.pdf. Zuletzt geprüft: 30.3.2020.

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