[1990] Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften.

Was ist ein Cyborg?

1)

Ein Cyborg ist ein Mischwesen aus zwei Reichen: als Neologismus aus der Kybernetik (vgl. Deutsch, 1970) (cybernetic) und Organismus (organism) bezeichnet der Begriff „Cyborg“ einen Hybride zwischen organischem Leben und der Maschine. Im Cyborg werden verschiedene Dualitäten 2) vereinigt. Die Definition des Cyborgs wird dann mehr oder weniger ausgebreitet.

Die Musterfigur des Cyborgs entsteht aus der Science Fiction: Sei es Darth Vader 3) oder Inspector Gadget 4) – immer wieder taucht die Figur des Cyborgs auf. Darüber hinaus gibt es den Cyborg schon in der Realität: Ein Mensch mit einer Prothese wird als Cyborg bezeichnet. Nun stellt sich die Frage, ob der Maschinenteil des Cyborgs im Körper sein muss oder ob es ausreicht, dass ein Wesen ein Maschinenteil benutzt, um seine Fähigkeiten zu erweitern. Dazu denkt man zum Beispiel an das Exoskelett 5) oder einfach an einen häufig angetroffenen Hybrid des Alltags: Ein Autofahrer oder Radfahrer. Nämlich entstehen diese Figuren (und ihre Benennung, die Wörter) aus einem Mensch und dessen Benutzung einer Maschine – sei es ein Rad, ein Auto oder ein Boot. In der Akteur-Netzwerk Theorie wird der Begriff des hybriden Akteurs aufgestellt (vgl. Kneer, 2010: 229f.). Latour stellte das Beispiel „eines Mannes mit einer Schusswaffe“ dar (Kneer, 2010: 230) und stellte die Frage nach dessen Verantwortung, wenn dieses Mischwesen schießt. Weder der Mensch noch die Waffe (und damit werden ebenfalls die soziale Netze gemeint, die an der Produktion der Waffe beteiligt sind, die an dem Verständnis deren Benutzung beteiligt sind, an der Ursprung der rechtlichen Regeln der Benutzung der Waffe Teil haben, usw.) sind gänzlich verantwortlich oder völlig unverantwortlich. Die initiale Definition eines Cyborgs als Mischung zwischen Leben und Maschine wird dann zu einer Hybridisierung zwischen Natur und Kultur erweitert (vgl. Wajcman, 2004: 90).

Wenn die Definition des Cyborgs weiter gedacht wird, gelten auch genetisch modifizierte Organismen als Cyborg, da sie Hybride von Natur und Kultur sind, deren Existenz mithilfe Maschinen (das heißt Technologie, welche geschichtlich untrennbar von Maschinen ist) ermöglicht wurde. Haraway bringt das Beispiel der OncoMouse® 6)(vgl. Haraway, 1997; Wajcman, 2004: 88).

Hier steht ein Cyborg an der Grenze der Natur und der Kultur: Immer noch als ein lebender Organismus ist er Teil der Natur, trotzdem auch Teil der Kultur, da aus der Technologie des Menschen verwirklicht. Diese Entgegensetzung Natur/Kultur spiegelt auch einige andere Dualitäten und Dichotmien wider: Natur/Mensch, Natur/Technologie usw. Und stellt andere indirekt infrage, sobald man die Logik vertieft.

„Die Dichotomien von Geist und Körper, Tier und Mensch, Organismus und Maschine, öffentlich und privat, Natur und Kultur, Männer und Frauen, primitiv und zivilisiert sind seit langem ideologisch ausgehöhlt.“ (Haraway, 1995: 51).

Funktion des Cyborgs in Haraways Schriften

Haraway unterscheidet die Hybride, die sie gestaltet hat, von Frankensteins Unhold (vgl. Hoquet, 2010: 148f.). Beide entstehen aus einer ursprünglichen Heterogenität: als unreine Wesen sind sie die Vereinigung zweier Reiche mittels einer künstlichen Geburt dank eines Schöpfers. Frankensteins Unhold nimmt diese ursprüngliche Heterogenität jedoch nicht an: Er strebt nach dem „verlorenen Eden“, wozu er nie gehörte werde. Nämlich begehrt er eine Frau und will sich in das Reich des Organismus einschreiben, damit er Zugang zu heterosexueller Fortpflanzung hat (vgl. Hoquet, 2010: 148f.). Die harawayschen Hybride geben es dagegen auf, dieses Eden zu suchen: Sie verzichten auf Reinheit und Homogenität und umarmen die Verschmutzung, die Heterogenität zweier Reiche (vgl. Hoquet, 2010: 152). Mit dem Cyborg will Haraway eine neue Ontologie skizzieren: Eine Ontologie, die als neue emanzipatorisches Narrativ dienen soll. Nämlich ermöglicht die Figur des Cyborgs, sich von den alten ontologischen „Mythen“ (z.B. der Schöpfung) zu befreien und neue zu übernehmen. Die neue Ontologie, die sie skizzieren will, soll nicht auf den Mensch zentriert sein und soll sich von den bereits anwesenden weißen, patriarchalen herrschenden Mythen abgrenzen.

Wie erfüllt der Cyborg seine von Haraway gegebene Funktion?

„Die Cyborg ist ein verdichtetes Bild unserer imaginären und materiellen Realität, den beiden miteinander verbundenen Zentren, die jede Möglichkeiten historischer Transformation bestimmen.“ (Haraway, 1995: 34)

Als Mischwesen erschüttert er diese bereits anwesenden herrschenden Mythen und Ontologien: Der Cyborg steht nämlich an der Grenze aller Dualismen. Diese Dualismen sind aber der Grundbau der bis jetzt hegemonialen vermittelten Ontologien. Der Cyborg erschüttert alle folgenden Dualismen, weil er nicht sauber eingeordnet werden kann: Wissenschaft/Natur, Maschine/Organismus, Mensch/Tier, Geist/Körper, Mann/Frau… Der Cyborg ermittelt einen Bruch mit Essentialismus. Haraway benutzt die Kraft der Fiktion in der Realität, um eine Fiktion mithilfe des Cyborgs zu schreiben, welche in der Realität konkrete Wirkungen haben soll, so wie die ehemaligen ontologischen Mythen fungieren.

Warum Cyborg Feminismus?

Haraway folgt einer Tradition des Feminismus 7), indem sie nach Emanzipation der Frauen und aller Unterdrückten strebt. Für diese Zwecke schlägt sie vor, die Figur des Cyborgs auszunutzen. Die von Haraway und anderen FeministInnen entlarvte patriarchale Herrschaftstradition vermittelt rassistische, kapitalistische und sexistische Ansätze. Diese Ansätze werden die Stellung der Natur prägen: In dieser Tradition ist die Natur als passiv, weiblich, von der Wissenschaft und Kultur zu beherrscht geschildert. Da die Frauen in diesen Erzählungen mit der Natur assoziiert sind, erben sie diese Eigenschaften. Damit die Frauen sich von dieser Domination befreien können, müssen sie sich folglich von diesen Erzählungen abgrenzen.

Der Cyborg steht außerhalb dieser Mythen: Nie war er im Garten Eden, nie war ein rein. Der Cyborg ist verschmutzt, unrein, weil er an der Grenze von Kategorien steht. Wenn Frauen sich die Figur des Cyborgs aneignen würden, könnten sie neue Ontologien erschaffen, die eine Basis für neue soziale Beziehungen und Verhältnisse anbieten würden. Nämlich zielt diese Ontologie darauf ab, die Verhältnisse zwischen den Menschen miteinander und zwischen den Menschen und ihrer Umwelt (sei es die Technologie, die Natur o.ä.) neu zu gestalten.

„Mit Hilfe der Cyborg-Metaphorik können zwei zentrale Thesen dieses Essay formuliert werden: 1. Die Produktion einer universalen, totalisierenden Theorie ist ein bedeutender Fehler, der die meisten Bereiche der Realität verfehlt – vielleicht nicht immer, ganz sicher aber jetzt. 2. Verantwortung für die sozialen Beziehungen, die durch die gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse strukturiert werden, zu übernehmen heißt, eine antiwissenschaftliche Metaphysik, die Dämonisierung der Technologie zurückzuweisen und sich der viele Kenntnisse erfordernden Aufgabe anzunehmen, die Begrenzungen unseres täglichen Lebens in immer partieller Verbindung mit anderen und in Kommunikation mit allen unseren Teilen zu rekonstruieren. Es geht gerade nicht darum, Wissenschaft und Technologie entweder nur als mögliche Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse oder aber nur als Matrix komplexer Herrschaftsverhältnisse zu begreifen. Die Metaphorik der Cyborgs kann uns einen Weg aus dem Labyrinth der Dualismen weisen, in dem wir uns unsere Körper und Werkzeuge erklärt haben. Dies ist kein Traum einer gemeinsamen Sprache, sondern einer mächtigen, ungläubigen Vielzüngigkeit. Es ist eine mögliche Imagination einer Feministin, die in Zungen redet und dabei scharfzüngig genug ist, den Schaltkreisen der Super-Retter der Neuen Rechten Angst einzuflößen. Das bedeutet zugleich den Aufbau wie die Zerstörung von Maschinen, Identitäten, Kategorien, Verhältnissen, Räumen und Geschichten. Wenn auch beide in einem rituellen Tanz verbunden sind, wäre ich lieber eine Cyborg als eine Göttin.“ (Haraway, 1995: 71f.)

Literatur

Deutsch, Karl W. (1970). Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven. Freiburg im Breisgau, Rombach & co.
Garcin-Marrou, F. (2015). Notes sur le cyborg de Donna Haraway. Labo LAPS 2015. [Online] Abgerufen am 26.06.2017. Verfügbar unter: http://labo-laps.com/notes-sur-le-cyborg-de-donna-haraway/
Haraway, D. (1991). A Cyborg Manifesto. Science, technology and socialist-feminism in the late twentieth century. In: Haraway, D. (1991). Simians, Cyborg and Women: The Reinvention of Nature. London, Free Association Books.
Haraway, D. (1995). Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. Übersetzt von Wolf, F. In: Haraway, D. (1995). Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main, Campus. S.33-72.
Hoquet, T. (2010). ‘Insaisissable Haraway'. In: Sociologie et Sociétés, vol. 421, 2010.
Kneer, G. (2010). Der Hybride. In Moebius, S., Schroer M. (Hrsg.). (2010). Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S.219-234.
Wajcman, J. (2004). TechnoFeminism. Cambridge: Polity Press.

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