Pipelines, Blasen, Radikalisierung

Problemstellung

Eine wiederkehrendes Motiv bei Relevanzbegründungen von Forschungsarbeiten zur extremen Rechten ist die Furcht vor einer Radikalisierung von mehr und mehr Elementen der Gesellschaft, und ihrer Rekrutierung in die Reihen antidemokratischer Kräfte. Das Internet scheint zu ermöglichen, dass Einzelne sich online „ohne Anbindung an rechtsextremistische Organisationsstrukturen“, gewissermaßen isoliert, radikalisieren und zu „Fanaltätern“ (Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg 2019: 178f.) werden können. Dies motiviert die Leitfragen, ob tatsächlich eine signifikante gesellschaftliche Polarisierung oder Radikalisierung stattfindet, und wie sich Radikalisierung vollzieht.

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Der bekannteste Begriff für den Radikalisierungsmoment, der in der Alt Right selbst gebräuchlich ist, ist der der ‚Redpill‛ (vgl. Ebner / Köhler 2018: 24ff.), der ursprünglich aus der Philosophie der Neoreaktion stammt. Die Redpill einzunehmen visualisiert, in Anlehnung an den ersten Matrix-Film, eine plötzliche Erweckungserfahrung. Luke Munn (2019) stellt heraus, dass die Narrative, die Alt Right-Akteure von ihrer Radikalisierung zeichnen, sich selten durch einen derartig exzeptionellen Umbruchsmoment auszeichnen. Stattdessen sprächen diese selbst davon, im Verlauf längerer Perioden viele ‚kleine‛ Redpills, oder unterschiedliche Redpills zu unterschiedlichen Themenbereichen geschluckt zu haben. Im Prozess der Radikalisierung blendeten die Akteure laut Munn oft die momentane Radikalität der eigenen Haltung aus, die als inhaltlich selbstevident wahrgenommen werde. Er unterscheidet drei Phasen der Radikalisierung zur Alt-Right: „normalization“ von Rassismus und ähnlichem Gedankengut, oftmals durch Humor; „acclimation“, eine wiederkehrende Phase, in der die Radikalisierung selbst pausiert, damit sich Akteure an ihr neues Habitat gewöhnen können; und Dehumanisierung der jeweiligen Feindbilder (vgl. Munn 2019).

Robert Evans analyisierte 2018 die Redpill-Narrative von 75 Nutzern und Nutzerinnen eines rechtsextremen Discord-Chats. 39 der Akteure gaben das Internet als Radikalisierungsquelle an, davon verwiesen zehn auf Imageboards, sechs auf den Verschwörungstheoretiker Alex Jones, 15 rechneten YouTube eine besondere Rolle in ihrem Narrativ zu. Desweiteren zitierten vier Akteure den Propagandafilm Adolf Hitler – The Greatest Story Never Told!, fünf rechnen ihrer Familie den Verdienst der Radikalisierung zu, und ganze vier Akteure machten ihre Redpill-Erfahrung unter Einfluss von LSD. Es ist festzuhalten, dass in mehreren Narrativen erkennbar wird, dass die Akteure bereits rassistische oder antisemitische Tendenzen hatten, bevor sie selbst den Bruchmoment der Redpill einsetzen lassen. Die rechtsextremen Nutzer und Nutzerinnen scheinen rechtspopulistische Medien und Influencer der Alt Light zu verachten, denen mangelnde Radikalität und jüdische Kontrolle vorgeworfen wird, wobei gleichzeitig gewisse Anerkennung für die Alt Light als Rekrutierungsplattform, sowie für die Notwendigkeit der Kodifizierung und Selbstzensur bei der Rekrutierung, besteht (vgl. Evans 2018).

Auch das Southern Poverty Law Center (SPLC) untersuchten 2014 die Radikalisierungsnarrative von Nutzerinnen im Alt Right Forum The Right Stuff. Viele Nutzer gaben hierbei an, zunächst in rein humoristischer Weise über die Chan-Subkultur mit den Themen der Alt-Right Umgang gefunden zu haben. Andere beschrieben, dass sie über den Libertarismus oder den Neoreaktionismus als politische Ideologien Andockungspunkte zur Alt Right fanden, verwiesen auf Influencer aus dem Alt Light-Umfeld, oder auf YouTuber, denen sie zunächst aus humoristischen Gründen oder zur therapeutischen Selbsthilfe folgten (vgl. SPLC 2014). Auch nach Aaron Winter (vgl. 2019: 12f.) geben Nutzerinnen rechtsradikaler Foren öfters an, dass Chan-Kultur oder die Alt Light katalysierend für ihre Radikalisierung gewirkt hätten.

Pipelines

Ein anderes wiederkehrendes Bild für Radikalisierungsprozesse ist das der ‚Pipeline‛ zur Alt Right. Die Pipeline visualisiert einen spezifischen Konvertierungsweg von einer bestimmten politischen oder apolitischen Position hin zur Alt Right. Kat S. überlegt in einem Beitrag in Richard Spencers Radix-Journal etwa, wie sich eine solche Pipeline vom Radikalfeminismus aus zur Alt Right (oder in ihrem Begriff: zur „Dissident Right“) verlegen ließe (vgl. S. 2020).

Der Plattform YouTube wurde vorgeworfen, ausgezeichnet als Pipeline zu fungieren: Nutzerinnen würden Inhalte vorgeschlagen, die sich an den bereits konsumierten Inhalten (im Falle YouTubes also: Videos) orientierten, gleichzeitig jedoch etwas neues beinhalten müssten, was in der Praxis darauf hinauslaufe, dass Konsumentinnen von beispielsweise rechtspopulistischen Inhalten sukzessive radikalere Inhalte angeboten bekommen (vgl. Munn 2019).

Weitere Überlegungen zur Netzradikalisierung

Allgemein wird dem Design von sozialen Medien vorgeworfen, Echokammern oder Blasen zu erzeugen, in denen Individuen von divergierenden Ansichten isoliert würden (vgl. Kaderbhai / Meleagrou-Hitchens 2017). Christian Montag (vgl. 2018: 33f.) zitiert hingegen mehrere Studien, die den negativen Effekt von Echokammern auf die politische Haltung von Personen relativieren.

Laut Linda Schlegel (vgl. 2018: 1) ist das Internet ein wichtiger Faktor bei der Radikalisierung, wobei sowohl Propaganda als auch Diskussionen zwischen Nutzerinnen Katalysatoren seien. Für eine Radikalisierung begünstigend befindet sie die Möglichkeit der Eigeninvestition im Internet, also die Teilnahme und scheinbare Gestaltungsmöglichkeit an der eigenen Bewegung, die Akteure online verspüren können (vgl. ebd.: 4). Aber das Netz sei „nicht das einzige Element, welches zu einer Radikalisierung beiträgt.“ (ebd.: 1). Dies wird laut Nick Kaderbhai und Alexander Meleagrou-Hitchens (vgl. 2017) von der weiteren Forschung bestätigt. Munn bemängelt, dass bisherige Arbeiten zu Radikalisierungsprozessen die Rolle von Netzwerk-Umgebungen als Antriebskraft in diesen Prozessen nicht ausführlich genug berücksichtigten (vgl. Munn 2019).

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Zum Literaturverzeichnis

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