Inhaltsverzeichnis
Das infrastrukturelle Regime der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft
1. Einführung
Der vorliegende Wiki-Eintrag beschäftigt sich mit dem „infrastrukturellem Regime der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft“, dem fünften Kapitel in Eva Barlösius Werk Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste (Barlösius, Eva: 2019, S. 67- 89).
Für eine nähere Erarbeitung soll zunächst das Kapitel im Kontext des Gesamtwerkes eingeordnet werden.
Darauf aufbauend wird im zweiten Teil des Wikis das Kapitel umrissen.
Auf Grundlage der kurzen Zusammenfassung wird das Konstrukt der wohlfahrtsstaatlichen
Industriegesellschaft in seinem geschichtlichen wie zeitlichen Hintergrund eingeordnet und seine Entwicklung aufgezeigt.
Im Fokus des nächsten Abschnittes stehen dann die Charakteristika der wohlfahrtsstaatlichen
Industriegesellschaft, wofür ein Exkurs zu den verschiedenen Typen von Wohlfahrtsstaaten für ein besseres Verständnis helfen soll.
Nach dieser erarbeiteten Basis, der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft, wird dann Eva Barlösius entworfene soziologische Konzeption von Infrastruktur und infrastrukturellem Regime an ebenjener Basis erprobt. Für diesen Schritt werden zunächst die für die Zeit der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft kennzeichnenden drei Typen von Infrastrukturen dargelegt. Anschließend werden Barlösius vier Charakteristika von Infrastruktur auf die Zeit der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft erläutert, vertieft und exemplarisch angewendet.
1.1 Einordnung in den Werkkontext
Eva Barlösius erprobt in diesem Kapitel erstmals ihre zuvor entworfene soziologische Konzeption von Infrastruktur und infrastrukturellem Regime. Gegenstand dieser Probe ist die wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaft.
Ihre soziologische Konzeption konzentriert sich auf vier Charakteristika der lexikon|Infrastrukturellen Strukturierung: erstens Vorleistungen, zweitens Sozialität, drittens Regelwerk und viertens Verräumlichungen.
Die Wahl der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft begründet sie damit, dass in jener Gesellschaft „ein massiver staatlicher Auf- und Ausbau von Infrastruktur stattgefunden hat“ (Barlösius, S. 67). Die wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaft bietet sich daher für eine Charakterisierung ihrer Infrastruktur an.
Die Ergebnisse dieses Abschnittes und der Probe legen die Grundlage für eine mögliche Konstatierung einer neuen Gesellschaftscharakteristik - festgemacht an Veränderungen ausgehend von der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft: der Wissensgesellschaft.
1.2 Kapitelzusammenfassung
Das Kapitel beginnt mit einer Skizzierung des Forschungsgegenstandes: der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft (vgl. ebd.: S. 67). Eva Barlösius führt aus, dass sie keine umfassende Gesellschafts-Charakterisierung anstrebt. Vielmehr diene das Konstrukt der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft dazu, zwei essenzielle Entwicklungslinien aufzuzeigen: zum einen der Übergang des primären Wirtschaftssektors - dem Agrarsektor (Forst-und Landwirtschaft, Bodenschätze etc.) - zu dem sekundären Wirtschaftssektor - der Industrie; zum anderen die Entwicklung und Forcierung des Wohlfahrtsstaates. Beide Entwicklungslinien werden im Folgenden noch in ihrer historischen Achse nachgezeichnet und die wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaft ihrer Charakteristika zugewiesen.
Barlösius geht dann dazu über ihre soziologische Konzeption von Infrastruktur (und dem infrastrukturellen Regime) zu wiederholen. Darauf aufbauend geht sie auf die reziproke Beziehung zwischen Infrastruktur und Staatlichkeit ein; betont das enge Wechselspiel in Zeiten der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft und die Stärkung des Einen durch den Anderen, sowie den Rückgang des Einen durch einen Rückgang des Anderen (vgl. ebd.: S.71).
Zentraler Korpus des Kapitels ist die dann folgende Anwendung ihrer vier Charakteristika der infrastrukturellen Strukturierung auf das Konstrukt der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft – auf diese wird später noch genauer eingegangen.
Ein Resümee und Ausblick auf die nachstehenden Abschnitte bilden den Abschluss des Kapitels „infrastrukturellem Regime der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft“ von Eva Barlösius.
2. Wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaft
Die Existenz und Entwicklungsdynamik des Wohlfahrtsstaates - mit seiner Entstehung im späten 19. Jahrhundert, seinem Durchbruch nach dem Zweiten Weltkrieg sowie der nachfolgenden Expansion - hat einen permanenten, teils gewollten, teils ungewollten Gestaltwandel der Gesellschaft der westlichen Welt bewirkt. Der Wohlfahrtsstaat ist zum Garanten individueller Existenzsicherung und kollektiver Handlungsfähigkeit, sozialer Teilhabe und gesellschaftlicher Integration, der Angleichung von Lebenslagen und der Stabilität von Lebensläufen geworden. Zugleich ist er aber auch ein Produzent neuer Ungleichheiten und neuartiger Verunsicherungen.
2.1 Entstehung des Begriffes Wohlfahrtsstaat
2.2 Charakteristika
Aufgaben und Leistungen von Wohlfahrtsstaaten variieren stark je nach Typ des Wohlfahrtsstaats. Sie können der Grundsicherung dienen und einen minimalen Lebensstandard gewährleisten oder sie sichern bestimmte Fälle ab und kompensieren gewisse Bedürfnisse. Verschiedene Bereiche, wie beispielsweise Alterssicherung, Zuschüsse bei Erwerbsunfähigkeit, Gesundheitssicherung, Leistungen für Familien oder Arbeitslose können die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen abdecken (vgl. Adema und Whiteford 2012: 124). Diese Unterstützungsleistungen lassen sich auch anhand von Bedarfsgruppen, also soziale Leistungen für Haushalt oder Individuen oder in öffentliche und private Leistungen unterscheiden (vgl. Adema und Whiteford 2012: 124). Die staatliche Verantwortung spielt somit im Rahmen des Wohlfahrtsstaates eine wichtige Rolle, um die grundlegenden Menschenrechte – auch als soziale Grundrechte bezeichnet – sicherzustellen.
In diesem Sinne bezeichnet Wohlfahrtstaat eine Vergesellschaftungsform der privatkapitalistischen Produktionsweise, in der der Staat
- die allgemeinen Lebensrisiken bzw. die Risiken der Lohnarbeit absichert und soziale Sicherheit garantiert,
- Maßnahmen zur Steigerung des Wohlergehens seiner Bürger unternimmt,
- soziale (Chancen-)Gerechtigkeit anstrebt,
- den freien Markt durch einen sozialpolitischen Ordnungsrahmens einhegt
2.3 Entstehung der Wohlfahrtssysteme
Die Entstehung der Wohlfahrtssysteme wird auf das Ende des 19. Jahrhunderts datiert und Deutschland dabei mit dem Bismarck-Modell eine Vorreiterrolle zugeschrieben. Allerdings lassen sich in Europa schon viel früher Formen der kollektiven Daseinsvorsorge finden. Die modernen Sozialsysteme bauen auf genossenschaftlicher Hilfe, die im Mittelalter von den Gilden und Zünften praktiziert wurde, Schutzverpflichtungen von Arbeitgebern aus der Feudalzeit und staatlicher Armenfürsorge, die seit dem 16. Jahrhundert angeboten wird, auf (vgl. Alber 1982: 24). Am Ende des 19. Jahrhunderts entstehen neue Sozialversicherungssysteme, die vor allem dazu dienten Armut und soziale Benachteiligung zu lindern und ein neuartiges Instrument gesellschaftlicher Strukturierung und Gestaltung darstellten (vgl. Kuhnle und Sander 2012: 61).
Die Anfänge des Wohlfahrtsstaats werden mit tiefgreifenden sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen in Verbindung gebracht; zu diesen zählen die Industrialisierung, die Entstehung kapitalistischer Wirtschaftssysteme, die Verstädterung und ein starker Bevölkerungsanstieg. Die Auswirkungen der Veränderungen des Arbeitsmarktes wurden als soziale Frage thematisiert. Diese neuen Deutungsmöglichkeiten wurden als Folgen der gesellschaftlichen und geistigen Neuorientierung, bedingt durch Säkularisierung, Rationalisierung, Individualisierung und Polarisierung, gesehen (vgl. Alber 1982: 32). Dabei wurden soziale Probleme als Missstände, die zu bekämpfen waren, wahrgenommen. Das Bewusstsein für die soziale Frage war mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft eng verknüpft. Die Trennung in ein privates und ein öffentliches Leben machte die „Behandlung sozialer Probleme als öffentliche Aufgabe“ erst notwendig (Geisen 2001: 25). Als Ursachen dieser sozialen Missstände können in ganz Europa die Industrialisierung und die damit zusammenhängende Verstädterung gesehen werden (vgl. ebd.: 25).
Damit war Europa im 19. Jahrhundert umfassenden Transformationsprozessen ausgesetzt, die gekennzeichnet durch industriell-urbane, kapitalistische, demokratische und bürokratische Veränderungen, in allen Ländern ähnliche Probleme der sozialen Integration aufwarfen und Ausgleichsmechanismen erforderten, die in den einzelnen europäischen Staaten unterschiedlich gestaltet wurden (vgl. Alber 1982: 40).
Im Laufe der Zeit entwickelten sich in unterschiedlichen Ausprägungen in den meisten europäischen Staaten soziale Netzwerke, die in den Bereichen der Gesundheitsversorgung, Rente, Arbeitslosigkeit und Armut helfend eingriffen (vgl. Kuhnle und Sander 2012: 68). In der Zwischenkriegszeit kamen spezielle Leistungen für Familien hinzu, wobei besonders Frankreich, Belgien und Neuseeland federführend waren. Auch die Stärke der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien spielte in dieser Zeit eine wichtige Rolle für die Ausbreitung sozialer Reformen (vgl. Kuhnle und Sander 2012: 76). Grundsätzlich kam es in der Zwischenkriegszeit zu einer ersten Expansionswelle, in der die Systeme erweitert und ausgedehnt wurden. Eine Vorreiterrolle kam in dieser Zeit dem Deutschen Reich zu (vgl. Kuhnle und Sander 2012: 64). Dieses führte „eine Versicherungspflicht gegen industrielle Unfälle, Krankheiten und Invalidität für Arbeiter und minderbemittelte Angestellte“ ein, die gemeinsam von den Versicherten und dem Staat finanziert wurden. In den folgenden Jahren reagierten die anderen Nationen auf das deutsche Beispiel und entwickelten eigene Sozialgesetzgebungen.
Die Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in zwei Perioden einteilen. Zum einen wird vom golden age of the welfare state in den 1950er und 1960er Jahren gesprochen und zum anderen von einem Abbau der Sozialleistungen in den 1970er und 1980er Jahren (vgl. Nullmeier und Kaufmann 2012: 81). Siehe auch Lynch 2006.

2.4 Transformation der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft
Wenn von der Transformation der Industriegesellschaft gesprochen wird, so ist damit nicht die Industriegesellschaft des späten 19. und frühen des 20. Jahrhunderts gemeint, sondern jene wohlfahrtsstaatlich regulierte Industriegesellschaft, die in Deutschland ab den 1930er Jahren und vor allem im Nachkriegsboom der 1950er und 1960er Jahre entstanden ist.
Von zentraler Bedeutung ist nach wie vor die Unterscheidung von Kapital und Arbeit entlang der Logik kapitalistischer Produktion; beide Pole haben sich jedoch erheblich ausdifferenziert. Es kommt auf der Kapitalseite zu einer Ausdifferenzierung von produktivem Kapital und Finanzkapital; in den Unternehmen kommt es zu einer Teilung der unternehmerischen Tätigkeit. Auch innerhalb der abhängigen Arbeit stellen sich vielerlei formelle und informelle Differenzierungen ein: nach der Stellung in der Hierarchie, nach Leistung beziehungsweise Qualifikation, nach manueller und nicht manueller Arbeit, nach Sozialversicherungsstatus, nach dem Geschlecht, nach Migrationshintergrund.
Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts setzte ein allmählicher Transformationsprozess dieser klassischen wohlfahrtsstaatlich regulierten Industriegesellschaft (Modus 2.0) ein; mittelbar veränderten sich so auch die damit verbundenen Ungleichheitsstrukturen.
2.5 Klassifizierung von Wohlfahrtsstaaten
Esping-Andersens theoriegeleitetem Entwurf einer Klassifizierung von Wohlfahrtsstaaten ist der Ausgangspunkt bei der Wohlfahrtsproduktion, die Aufgabenteilung zwischen Staat, Markt und Familie.
Man unterscheidet drei Institutionen der Wohlfahrtsproduktion:
Familie Familien erbringen grundlegende und letztlich unentbehrliche personenprägende und gesellschaftsbildende Leistungen. Sowohl Staat und Gesellschaft als auch die Marktwirtschaft sind prinzipiell darauf angewiesen. Die Familie (re-)produziert das Humanvermögen einer Gesellschaft als eine Voraussetzung für den Fortbestand der Gesellschaft wie ebenso als Voraussetzung für wirtschaftliche Wohlfahrt.
Markt Der Markt hat Wirtschafts-, Gewerbe und Vertragsfreiheit zur Grundlage, er basiert auf der Regulation durch Konkurrenz, Angebot und Nachfrage. Die privatkapitalistische Produktionsweise ist gewinnorientiert, nicht wohlfahrtsorientiert. Wohlfahrtseffekte des Marktes bestehen gleichwohl in der wettbewerbsgünstigen Herstellung von Gütern und Dienstleistungen und in der Schaffung entgeltlicher sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung als Voraussetzung der Erzielung von Einkommen und individueller Wohlfahrt.
Staat Staatliche Sozialpolitik im engeren Sinn bezieht sich auf die Bereiche der Sozialen Sicherung, Sozialen Fürsorge, Sozialen Förderung und Garantie von Arbeitnehmerschutzrechte mittels der klassischen staatlichen Steuerungsinstrumente Recht (Gesetzgebung) und Geld (Investitionen, Transferleistungen).
Mit vielen anderen Wohlfahrtsstaatsforschern teilt Esping-Andersen die Ansicht, dass das Leistungsniveau als einziger Indikator für Wohlfahrtsstaatlichkeit unzureichend ist. Esping-Andersen versucht somit die Auswirkungen der Wohlfahrtsregime auf die Bürger durch eine theoretisch-empirische Analyse zu veranschaulichen. Zu diesem Zweck charakterisiert er drei Wohlfahrtsstaatstypen: das liberale, sozialdemokratische und konservative Modell.
Quelle: Haas, Heide und Lindner, Jörg (2008). Typen von Wohlfahrtsstaaten. In: Lernmaterial, Universität Köln. [http://eswf.uni-koeln.de/lehre/08/1wohlfahrt/20080429.pdf - aufgerufen am 19.09.201]
3. Infrastruktur der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft
Im Folgenden soll es nicht um Eva Barlösius Konzeption von Infrastruktur gehen, sondern nur darum, wie sie auf die wohlfahrtstaatliche Industriegesellschaft angewendet wird. Die theoretische Komponente wird daher nur hinreichend skizziert, um eine Anwendung zu ermöglichen. Für einen genaueren Blick auf Barlösius vier Charakteristika wird auf den Wiki-Eintrag soziologische Konzeption verwiesen.
Barlösisus teilt die Infrastrukturen der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft in technische, soziale und kulturelle Infrastrukturen ein (vgl. Barlösius, S.69-70).
- Technische Infrastrukturen: Wassser-, Gas- und Stromversorgung. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich über Flächen erstrecken und ermöglichen weite Distanzen zu überwinden. Zunächst wurde sie von privaten Unternehmen entwickelt, aber nach und nach wurde sie von staatlichen Ebenen übernommen und ausgebaut. Der Grund für die Verstaatlichung nennt Barlöisius die einheitliche Standardisierung und als Ziel die gleichförmige Ausstattung mit Infrastrukturen auf dem gesamten staatlichen Territorium.
- Soziale Infrastrukturen: Einrichtung der ärztlichen Versorgung, Sozial-, Jugend- und Altenpflege sowie schulische Bildung. Sie zählen zu Infrastrukturen, die individuelle Lebensrisiken absichern und soziale Integration fördern.
- Kulturelle Infrastrukturen: Werte und Symbol- und Überzeugungssysteme; Theater, Opernhäuser, Museen.
3.1 Infrastrukturelle Vorleistungen in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft
Unter infrastrukturellen Vorleistungen versteht Eva Barlösius die Bereitstellung von Objekten, die benötigt werden, damit Individuen und Gruppen jeglicher Art handeln können. Ihnen wird es so ermöglicht an der Gesellschaft und Wirtschaft zu partizipieren. Sowohl die Formen der Partizipation als auch die Partizipationssubjekte divergieren, sodass sich auch die bereitgestellten Objekte der Infrastruktur unterscheiden.
Bezogen auf die wohlfahrtstaatliche Industriegesellschaft listet Barlösius als Partizipationsobjekte primär Objekte auf, die gleichzeitig Vorleistungen für Teilhabe an der Gesellschaft UND Wirtschaft bilden (vgl. ebd.: S. 72).
Barlösius begründet diese Gleichzeitigkeit von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Teilhabe mit der Ausrichtung von infrastrukturellen Vorleistungen auf Quantitäten, die wiederum auf ein für die wohlfahrtstaatliche Industriegesellschaft typisches Motiv zurückzuführen ist: die Maxime alles und jede*n gleich zu beteiligen und gleiche Zugangschancen zu gewährleisten – sowohl für Gesellschaft als auch für die Wirtschaft (vgl. ebd.: S.74). Die infrastrukturellen Vorleistungsobjekte sollten, da sie für alle und jeden gleich bereitgestellt werden und gleich zugänglich sind, als „spezifische Form von sozialer Integration“ (ebd.) dienen.
Aus der zuvor angeführten Orientierung auf Quantitäten ergibt sich, dass die infrastrukturellen Vorleistungen in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft eine Massenproduktion und Massenabfertigung förderten und dadurch verstärkten (vgl. ebd.: S.75). Barlösius schließt aus dieser Gegebenheit der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft, dass es für ebenjene und ihre infrastrukturellen Vorleistungsobjekte offensichtlich dann problematisch wird, wenn die Massen abnehmen und/oder bzw. nicht mehr wachsen – die Verheißung von andauerndem Wachstum der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft also nicht eingehalten werden kann (vgl. ebd.: S.75).
Die Vorstellung, dass Gesellschaft im demografischen Sinne und Wirtschaft als solche sukzessiv wachsen, ist ein allgegenwärtiges Apriori und wird gegenwärtig besonders im Zuge der Klimakrise kritisiert (Göpel, Maja: 2020, S. 12).
Gegenmodelle zum sukzessiven Wachstum stellen Konzepte wie „Degrowth“ und „Postwachstumstheorien“ dar, wenngleich diese zuvorderst den Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und CO2-Ausstoß betonen (Kliemann 2015). Dass diese Problematik der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft der 1950er Jahre gegenwärtig und andauernd von Relevanz ist – bzw. neu entdeckt wird, ist ein interessantes Faktum und zeigt umso mehr, dass die Gesellschaft und ihr infrastrukturelles Regime sich in einer Übergang- und Umbruchsphase befinden.
Bildquelle: https://pixabay.com/de/photos/degrowth-nachhaltigkeit-wachstum-594870/, letzter Zugriff: 19.09.2021
3.2 Infrastrukturelle Sozialität in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft
Mit infrastruktureller Sozialität zeichnet Eva Barlösius die Auffassung von Sozialität nach, die der jeweiligen Infrastruktur bzw. dem jeweiligen infrastrukturellen Regime zugrunde liegt. Die jeweilige Auffassung der Sozialität beeinflusst und produziert Infrastrukturen, die wiederum Sozialität schaffen und beeinflussen sollen (vgl. Barlösius, Eva: 2019, S. 53).
Das erste Merkmal der infrastrukturellen Sozialität der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft entwickelt Barlösius aus dem Begriff der „Daseinsvorsorge“ und seiner (häufigen) Verwendung im deutschen Sprachraum (vgl. ebd.: S.76f.). Der Begriff der Daseinsvorsorge ist nach Barlösius ohne Staatlichkeit nicht zu denken. Das erste Merkmal ist daher, dass Infrastruktur als Daseinsvorsorge und somit als Staatsaufgabe verstanden wird – die Sozialität ist in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft durch den Staat geprägt. Die Daseinsvorsorge wird durch den Staat nach den Maximen der Gleichheit und Einheitlichkeit geschaffen (vgl. ebd.: S.79).
Das zweite Merkmal der infrastrukturellen Sozialität in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft lässt sich durch Margaret Thatchers berühmte Zitat aus der Zeit auf den Punkt bringen:
Bildquelle: http://thequotes.in/there-is-no-such-thing-as-society-there-are-individual-men-and-women-and-there-are-families-margaret-thatcher/, letzter Zugriff: 19.09.2021
Die infrastrukturelle Sozialität in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft betrachtet Menschen nicht als Teil einer Gruppe, Schicht oder Klasse, sondern ausschließlich als Individuen (vgl. Barlösius, Eva: 2019, S. 87).
Als drittes und letztes Merkmal der infrastrukturellen Sozialität in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft nennt Barlösius die Orientierung auf gesellschaftlichen Zugang/Partizipation via materiellen Zugang (vgl. ebd.: S. 87).
3.3 Infrastrukturelles Regelwerk in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft
Als infrastrukturelles Regelwerk benennt Eva Barlösius die Regeln, die festlegen, wie das infrastrukturelle Regime formell und informell konstituiert wird (vgl. Barlösius, Eva: 2019, S. 56).
Die Bereitstellung von Infrastruktur in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft ist wie zuvor dargelegt eine staatliche Aufgabe. Resultat daraus ist, dass auch das infrastrukturelle Regelwerk in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft primär durch den Staat konstituiert und geregelt wird, wobei den Bürger*innen kein Mitspracherecht zukommt (vgl. Barlösius, Eva: 2019, S. 81f.).
Die Zielsetzung wird durch gewählte und somit legitimierte politische Akteure getroffen. Auch die Umsetzung wird staatlich absolviert. Die Umsetzung soll weiterhin legitimiert bleiben und wird dadurch durch Expert*innen vollzogen. Barlösius nennt hierfür den Begriff der Infrastrukteure (vgl. ebd.: S. 83). Diese Professionalisierung zeigt sich ferner auch in dem Merkmal der großen Rechtverbindlichkeit und Rechtsquantität.
Als weiteres Merkmal des infrastrukturellen Regelwerkes in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft ist die Trennung von Erbringer*innen der infrastrukturellen Vorleistungen und den Nutzer*innen von ebenjener anzuführen (vgl. ebd.: S. 87.). Als Rechtfertigung dieser Trennung wird auf die Professionalisierung verwiesen, die wiederum so weiter begründet wird.
3.4 Infrastrukturelle Verräumlichungen in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft
Als viertes Charakteristikum von Infrastruktur bzw. des infrastrukturellen Regimes entwickelt Eva Barlösius die infrastrukturellen Verräumlichungen. Sie betont durch dieses Charakteristikum die räumliche Dimension von Infrastruktur: Infrastrukturen produzieren Räume, überqueren Räume und trennen räume voneinander.
In der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft fungieren Infrastrukturen im Wesentlichen als raumüberquerendes Element und dadurch indirekt auch raumbildend (vgl. Barlösius, Eva: 2019, S. 84f.). Als typische Infrastrukturen der Zeit, die raumüberquerend wirken, sind Telefonleitungen zu nennen. Sie überziehen den gesamten Raum – überqueren ihn so, während sie an den territorialen Staatsgrenzen enden und damit raumbildend wirken. Zum einen haben die Infrastrukturen in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft also eine räumliche Integrationsfunktion, indem sie alle im Raum/Territorium verbinden, während sie zugleich alles außerhalb des Raumes/Territoriums ausgrenzen (vgl. ebd.: S.85f.).
Infrastruktur dient hier also auch als Herrschaftsinstrument – sowohl gegen die eigenen Bürger*innen als auch gegen andere Staaten durch Markierung des Territoriums.
Hervorzuheben ist, dass Infrastruktur nur dann als Mittel für Territorialstaaten fungiert, wenn die Infrastruktur zuvorderst staatlich konstituiert wird – wie es in der wohlfahrtstaatlichen Industriegesellschaft der Fall ist. Bei privaten Trägern der Infrastruktur ist dies nicht der Fall (vgl. ebd.: S.86).
Quellen
Adema, Willem und Peter Whiteford (2012). „Public and Private Social Welfare“. In: The Oxford Handbook of the Welfare State. Hrsg. von Francis G. Castles u. a. Oxford: Oxford University Press, S. 121–138.
Alber, Jens (1982). Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat: Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa. Frankfurt am Main und New York: Campus Verlag
Barlösius, Eva. (2019): Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste. Ein Beitrag zur Gesellschaftsanalyse. Frankfurt/New York: Campus Verlag.
Geisen, Thomas (2001). „Sozialstaat in der Moderne: Zur Entstehung sozialer Sicherungssysteme in Europa“. In: Sozialstaat in Europa. Hrsg. von Katrin Kraus und Thomas Geisen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 21–42.
Göppel, Maja. (2020): Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Berlin: Ullstein Verlag.
Kuhnle, Stein und Anne Sander (2012). „The Emergence of the Western Welfare State“. In: The Oxford Handbook of the Welfare State. Hrsg. von Francis G. Castles u. a. Oxford: Oxford University Press, S. 61–80.
Lynch, Julia (2006). Age in the Welfare State. The Origins of Social Spending on Pensioners, Workers, and Children. Cambridge.
Nullmeier, Frank (2012). „Normativer Vorrang der Demokratie vor dem Sozialstaat?“ In: Der Sozialstaat. Hrsg. von Michael Spieker. Baden-Baden: Nomos, S. 65–86.
Kliemann, Christiane (2015). Zukunftsinstitut. „Degrowth – eine realistische Vision?“. In: Zukunftsinstitut. Online verfügbar unter: https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/degrowth-eine-realistische-vision/, letzter Zugriff am 19.09.2021.