Adele E. Clarke und die Situationsanalyse

Seit 1989 Professorin für Soziologie und Geschichte der Gesundheitswissenschaft an der University of California in San Francisco, Nachfolgerin von Anselm Strauss, mittlerweile emeritiert. Ihre Hauptarbeitsgebiete waren u.a. Geschichte und Soziologie der Biomedikalisierung, Entwicklung qualitativer Methodologie und Methoden der Sozialforschung und Frauengesundheitsforschung (vgl. Clarke 2012: 12)

„Situationsanalyse – Grounded Theory nach dem Postmodern Turn“ erschien erstmals 2005 im englischen Sprachraum und wurde 2012 ins Deutsche übersetzt.

Die Situationsanalyse ist ein “weitreichende[r] Ansatz zur Entgrenzung der ursprünglichen Grounded-Theory-Methodologie (GTM) hin zu einer umfassend ansetzenden ‚Analyse von Situationen‘“ (Clarke 2012: 11). Sie soll die Blickwinkel der qualitativen SF, insbesondere der GTM, über die Mikroebene hinausführen und Möglichkeiten bieten, die Meso- und Makroebene einzubeziehen. Dies geschieht durch die Erweiterung der GTM um diskurstheoretische und diskursanalytische Perspektiven, hin zu einer „grounded theory nach dem ‚postmodern turn‘“ (vgl. Clarke 2012: 12).

Postmodern Turn

Laut Clarke ist das Wesen der vielfältigen, disziplinenübergreifenden postmodernen Perspektiven das, dass Wissen grundsätzlich und immer „sozial und kulturell produziert“ (Clarke 2012: 26) ist. Postmoderne Perspektiven setzen dem Universalitätsdenken der Moderne, auch und besonders in Bezug auf das Wesen des Wissens, das Bild einer von Komplexitäten durchzogenen Welt entgegen. Zu den Schlüsselfragen des postmodern turns zählt Clarke „jene der Wissenssoziologie über die Beziehungen des Wissens zu seinen Produktionsstätten und Konsumpraktiken“ (Clarke 2012: 26f.). Unter diesen Gesichtspunkten ist Wissen immer aufgrund der „Komplexität und Heterogenität unserer individuellen und kollektiven Situationen und Diskurse“ (Clarke 2012: 27) situiert.

Postmoderne Perspektiven, die Clarke erwähnt sind u.a. feministische, postkolionale, diasporische und queere Theorien. Der postmodern turn erfordert neue Methoden, die die „Situiertheit, Abweichung, Ungleichheiten aller Art, Positionalität und Relationalität in all ihrer Komplexität und mit ihren Multiplizitäten, Instabilitäten und Widersprüchen“ (Clarke 2012: 30) ernst nehmen.

Situationsanalyse

Grounded Theory: Die GTM wurde in den 1960er Jahren von Glaser und Strauss unter dem Einfluss der Soziologie der Chicago School, dem Symbolischen Interaktionismus und dem philosophischen Pragmatismus als empirischer Ansatz zur qualitativen Sozialforschung mittels spezifischer Konzepte der Datenanalyse entwickelt (vgl. Clarke 2012: 23).

Die Situationsanalyse ermöglicht es, hochkomplexe Forschungszusammenhänge zu analysieren, in dem die Untersuchung von Diskursen und Handlungsfähigkeiten, Handlung und Struktur, Bildern, Texten und Kontexten aus der Vergangenheit und der Zukunft miteinander verknüpft werden (vgl. Clarke 2012: 24). Die SA ist eine Ergänzung der traditionellen GTM, die „Handlungen, den basic social process, in den Mittelpunkt stellen“ (Clarke 2012: 24; Hervorhebung i.O.), in der SA „[wird] die Situation an sich […] zum ultimativen Forschungsgegenstand und das Verständnis ihrer Elemente und ihrer Beziehungen zum primären Ziel der Untersuchungen“ (ebd.).

Ziel der SA ist es, nicht wie in der klassischen GTM einzelne soziale Handlungen (im Sinne eines basic social process) in den Fokus zu nehmen, sondern soziale Welten, Arenen, Aushandlungen und Diskurse zu erforschen. Dazu wird eine kartographische Situationsanalyse durchgeführt, das Mapping (vgl. Clarke 2012: 35) und die erforschte Situation ist die Analyseeinheit der Untersuchung (vgl. ebd.: 37).

Es werden drei Arten von Maps erstellt, die durch empirische und analytische Arbeit entstehen und durch Memos begleitet bzw. ergänzt werden (vgl. Clarke 2012: 38):

  1. Situations-Maps: menschliche und nichtmenschliche, diskursive, historische, symbolische, kulturelle, politische und andere Elemente der Forschungssituation, werden verdeutlicht und ihre Beziehungen untereinander werden abgebildet, keine Simplifizierung, sondern Darstellung der chaotischen Komplexität der Situation
  2. Maps von Sozialen Welten/Arenen: kollektive Akteure, wichtige nichtmenschliche Element und Arenen ihres Wirkens und ihre jeweiligen Einbindungen in Aushandlungen und Diskurse →Einbindung der Mesoebene
  3. Positions-Maps: Verdeutlichung von Schlüsselpositionen, die in Bezug auf Variationen und Verschiedenheiten, Fokussierungen und Kontroversen eingenommen und nicht eingenommen werden →Versuch, das gesamte Spektrum diskursiver Positionen bestimmter Fragen abzubilden.

Die drei Maps werden nacheinander erstellt und sollen explizit nichtmenschliche Akteure/Aktanten/Elemente mit einbeziehen.

Wichtig ist: „Die Bedingungen der Situation sind in der Situation enthalten. So etwas wie ‚Kontext‘ gibt es nicht. Die bedingten Elemente der Situation müssen in der Analyse der Situation selbst spezifiziert werden, da sie für diese konstitutiv sind“ (Clarke 2012: 112).

Visueller Diskurs

Im sechsten Kapitel des Buches widmet sich Clarke explizit dem Themenfeld des visuellen Diskurses unter dem Blickwinkel der Situationsanalyse. Dabei stellt sie heraus, dass die Postmoderne in sich durch das Visuelle bestimmt ist, was auch für jegliche Form der sozialwissenschaftlichen Forschung gilt: „a method that seeks to engage the postmodern must engage the visual“ (Clarke 2005: 205). Sie bezieht sich dabei auf alle möglichen Formen des Visuellen: (Stand-)Bilder, Filme, Videos, Fernsehen und Multimedia, exemplifiziert die Situationsanalyse im Buch aber an Fotographien, Lehrbuchbildern und andere Darstellungen über die Anatomie männlicher und weiblicher Geschlechtsmerkmale.

Historische und konzeptuelle Einordnung des Visuellen Diskurses

Neben einer kurzen geschichtlichen Einordnung von visueller Repräsentation seit der Erfindung von Technologien wie der Lithographie und Fotographie im frühen 18. Jahrhundert, bietet die Autorin vor allem einen kurzen Einblick in die wissenschaftliche Literatur und stellt beispielhaft einige wichtige Theoriekonzepte und Forschungsthemen vor.

  • Georg Simmel als einer der ersten Soziolog*innen, der die Relevanz des Visuellen ansprach
  • Psychonalytische Konzept der Schaulust (Scopopholia), als die (erotische) Lust beim Anschauen von Bildern (Freud)
  • Die Macht des Blickes; „the gaze“ – nach Foucaults Konzept des Etablierens von Macht und Machtbeziehungen durch den Blick auf Andere
  • Laura Mulveys Konzept des „male gaze“
  • Ervin Goffmans Studien über die Machtverhältnisse visueller Materialien
  • Edward Saids Konzept des Orientalismus als Form des „imperial gaze“/“colonial gaze“
  • Donna Haraways Arbeiten zum Prozess des „otherings“ in Bezug auf nichtmenschliche Aktanten, besonders Tiere und Pflanzen

Clarke arbeitet außerdem noch einige Punkte heraus, u.a. die Relevanz sozialer und historischer Einflüsse auf die Entstehung bzw. Herstellung des visuellen Materials, als auch des Vorgangs der Betrachtung und des Konsums dieses. Dabei ist wichtig, dass die Situationen wieder komplex sind, es sind mehrere Möglichkeiten des „gaze“ (aktiv) und „gazee“(passiv) möglich. „In engaging in the analyses of visual materials, one realizes in a particulary vivid way that there is no space outside of power and discourse“ (Clarke 2005: 218).

Durchführung der Situationsanalyse visueller Diskurse (Clarke 2005: 222-255)

Zunächst erfolgen vier grundlegende Schritte:

  1. Entscheidung: Woher nehme ich mein Material? Welches Material eignet sich am besten für meine Forschung, meine relevante Situation?
  2. Lokalisierung
  3. Sammeln
  4. Tracking: Organisation des Materials und der Rechtesituation (Copyright!)

Danach folgen grundlegende erste Analyse begleitet von Memos in drei Formen → analog zum „offenen“ Codieren in der GTM

  • Locating Memo; situiert das spezielle Bild im großen Ganzen
  • Big picture Memo; was passiert innerhalb des Bildes; in 3 Schritten (first impression, The big picture, The little picture)
  • Specification Memo; Ziel: „to break the frame“, das Bild mit neuen Augen und außerhalb dessen zu sehen, wie es intendiert war

Im Anschluss an das Codieren werden die drei Arten der Maps (Situations Maps, Maps Sozialer Welten/Arenen, Positionsmaps) angefertigt.

Literatur

Clarke, Adele E. 2005. Situational Analysis. Grounded Theory after the Postmodern Turn.

Clarke, Adele E. 2012. Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn.

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