Inhaltsverzeichnis
„Strategie“
Strategien gegen zerstörerische Identitätspolitik: Einführung
Der folgende Wikieintrag enthält abschließend einige Strategien, um den immer wieder aufkommenden Konflikten und Vorwürfen rund um die Thematik der Identitätspolitik und feministischen Positionen zu begegnen. Einleitend werden zunächst einige grundsätzliche Debatten und Problematiken von Identitätspolitik chronologisch zum Seminarverlauf kurz erläutert. Als Einführung in den Kurs wurde das Buch „Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken" von Lea Susemichel und Jens Kastner gelesen. Thematisiert werden in diesem Werk u.a. die Geschichte von linker Identitätspolitik beginnend mit der Prägung des Begriffs durch das Combahee River Collective. Im weiteren Verlauf wird Identitätspolitik anhand von diversen Beispielen charakterisiert. Man kann Identitätspolitik als eine Politik des Kampfes um Anerkennung mit Betroffenheit als Basis, definieren. Zu immer wiederkehrende Debatten und Diskussionen bezüglich Identitätspolitik innerhalb linker Bewegungen gehört die Frage nach der Vereinbarkeit von linker Identitätspolitik und Klassenkampf. Ein weiterer Vorwurf an linker Identitätspolitik ist, dass es dabei um Partikularinteressen gehen würde und somit kein universalistischer Anspruch mehr bestünde. Das Buch thematisiert außerdem Identitätspolitik anhand der Black Liberation Bewegung, Postkolonialismus und feministischen Bewegungen. Des weiteren wurde im 4.Seminar besprochen welche Erfolge die verschiedenen Wellen des Feminismus erziehlt haben und welche antifeministischen Bewegungen es gab.
Der zweite Seminarblock diskutierte anschließend feministischen Bewegungen und ihre Positionen. Hier benennt Koschka Linkerhand, als signifikanteste Problematik in feministischen Bewegungen, das Spannungsfeld zwischen Gleichheit und Differenzen und inwieweit diese eine Rolle spielen müssen und sollten, um Differenzen produktiv hervorzuheben und Gleichheit nicht zu untergraben. Im weiteren, unterscheidet Christina Thürmer-Rohr generell drei Grundpositionen: liberaler Feminismus, gynozentrischer Feminismus, dekonstruktivistischer/postmoderner Feminismus.
Durch eine anschließend soziologische Betrachtung von Geschlecht werden die drei unterschiedlichen Ansätze Materialistischem Feminismus, Radikalfeminismus und poststrukturalistischer Feminismus diskutiert. Im Bezug auf den poststrukturalistischen Feminismus trägt insbesondere Judith Butler mit ihren Überlegungen einer heterosexuellen Matrix und des Geschlechts als soziales bzw. ideales Konstrukt zur Debatte bei. Die Frage nach Geschlechtsidentität steht in allen Ansätzen im Fokus.
Als nächstes Seminarthema wurde der Queerfeminismus, der die dritte Welle der Frauenbewegung bildet und in den 80er/90er Jahren in den U.S.A. entstand, thematisiert. In der Debatte um den Queerfeminismus geht es wiederholt um den Vorwurf, dass darin der strukturelle feministische Kampf vergessen wird, da sich die queerfeministischen Debatten mehrheitlich mit der eigenen (sexuellen) Identität beschäftigen würden. Zudem gehe es vielen um die eigene Opferrolle die das Anprangern von Anderen, denen es augenscheinlich besser gehe, legitimiere. Ein weiterer Vorwurf an Vertreter*innen des Queerfeminismus ist das die Sprache und (Selbst-)Bezeichung im Mittelpunkt queerfeministischer Diskussionen stünde.
Als nächster Themenblock wurde das Spannungsfeld von Partikularismus und Universalismus im Bezug auf Identitätspolitik analysiert. Texte von Frank Furedi, Mark Lilla, Sylke van Dyk und Volker Weiß beleuchten verschiedene Seiten und Aspekt der Debatte. Es wird kritisiert, dass Partikularismus zwar Rechte für marginalisierte Menschen erkämpfen kann und verschiedene Perspektiven mit einbezieht, dennoch zu Fragmentierung führen kann. Der Universalismus betrachtet das Gesamte und fordert gleiche Rechte und Normen für alle. Hier stellt sich die Frage, ob Universalismus teilweise nicht nur eine Widerspiegelung der Interessen der stärksten Gruppe ist.
Im darauf folgenden Block des Seminars, beschäftigten wir uns mit Gründen für die zunehmenden Schwächung der Linken und der internationalen Erstarkung der Rechten. Hier wird kritisiert, dass Linke Politik, Klassenpolitik oder ganz allgemein die Thematik der Klasse und des Klassismus vernachlässigt und sich auf Identitätspolitik fokussiert. Texte, unter anderem, von bell hooks und Nancy Fraser werden berücksichtigt. Zudem wird der autoritäre Charakter der linken Identitätspolitik als Begründung des Aufstiegs der Rechten unter Betrachtung einer Studie von Adorno diskutiert. Die Analyse fasst das Fazit, dass nicht der potentiell autoritäre Charakter der Linken, sondern eine Abneigung gegen die Sozialdemokratie ausschlaggebend für die gegebene Erstarkung der Rechten sei.
Die anschließenden zwei Sitzungen untersuchten die Verbindungen zwischen Postkolonialismus und Identitätspolitik und die damit wichtige Frage wie sich Subalterne Gehör verschaffen können. Dazu wurden unter anderem Texte von Seyla Benhabib, Fatima El-Tayeb und Gayatri Chakravorty Spivak, Hito Steyerl, Massimo Perinelli und Grada Kilomba diskutiert. Machtasymmetrien und verschiedenste Formen von Rassismus treten dabei als wiederkehrende Problematiken auf. Unter anderem wird auch das Weißsein als Norm in vielen Kontexten kritisch untersucht (Critical Whiteness).
Zusätzlich erfolgt eine Einführung und Analyse der lesbischen Identitätspolitik. Konkret beinhaltet besagter Eintrag vier Teile die thematisch aufeinander aufbauen. Im ersten Teil werden die Begriffe Lesbe und Identitätspolitik grundlegend definiert. Im zweiten Teil werden weitere mögliche Identitätsaspekte von Lesben, u.a. Frau sein, Butches & Femmes, Lesben und trans* sowie Klasse und ‘race’ (beispielhaft) erläutert. Dies zeigt das intersektionale Wechselspiel von verschiedenen Aspekten einer u.a. lesbischen Identität auf. Anschließend wird die Frage nach Konflikten und Bündnissen zwischen lesbischer Identitätspolitik und anderen Akteur*innen diskutiert. Hierbei wird zunächst die Rolle von Lesben in der Frauenbewegung erläutert und daran anknüpfend die Beziehung zu anderen Gruppen wie Queers, Schwulen und Bisexuellen. Diese Beziehungen sind oftmals geprägt von dem ständigen Konflikt zwischen Abgrenzung und Verbundenheit. Es folgt als Fazit, dass lesbische Identitätspolitik eine schwierige Stellung in der heutigen Gesellschaft einnimmt und lesbische Menschen immer noch um ihrer Sichtbarkeit und Anerkennung kämpfen.
Im letzten Block ging es um mögliche ‘Strategien’ für den konkreten Umgang mit den eben benannten und immer wiederkehrenden Problematiken der Identitätspolitik. Deshalb werden im folgenden, vier Strategien im Zusammenhang mit einigen der Problemen aus den vorigen Blöcken diskutiert. Imke Leichts’ Studie „Wer findet Gehör? Kritische Reformulierungen des menschenrechtlichen Universalismus” bildet die erste Strategie. Diese beschreibt den Umgang mit Partikularismus und Universalismus konkretisiert an den Menschenrechten als konkretes Mittel gegen ungleiche Machtasymmetrien und fehlende Autonomie. Machtasymmetrien entstehen durch beispielsweise Postkolonialismus, der es Subalternen erschwert, sich Gehör zu verschaffen. Das Ergebnis der Studie ist, dass das kritische Reformulierungen, durch das Konzept der demokratische Iteration (nach Benhabib) gelingen können. Die zweite und die dritte herangeführte Strategien befassen sich insbesondere mit der Kritik, welcher der Queerfeminismus und auch teilweise Linke Politik erfahren. In diesen Kontexten wird negativ hervorgehoben, dass die Beschäftigung mit der eigenen Identität und Betroffenheiten, die Solidarität untereinander schwächt, da Differenzen in den Fokus gesetzt werden. In Strategie 2 nennt Charlotte Busch den mimetischen Moment, also das Finden von Solidarität in und über das gemeinsame Leiden, als Ausweg aus dem Verlorengehen in seiner Einzigartigkeit in der Betroffenheit. Ein 10-Punkte Plan zum richtigen Umgang mit Betroffenheiten, Identitäten und Allianzen als möglicher Lösungsweg wird in der 3. Strategie benannt. Hier gibt es Tipps für den persönlichen Umgang mit Identitätspolitik und Emotionen, zum Beispiel wird erwähnt, dass Menschen erst nachdenken sollen und sich fragen sollen wem sie gegenüber stehen, bevor sie für Subalterne sprechen. Damit begenen sie sich auf Augenhöhe. Die letzte Strategie kann auf viele Bereiche bezogen werden, da sie den Umgang mit anders Denkenden beschreibt. Charlotte Busch plädiert für ein empathisches Handeln und eine Rückbesinnung auf Gemeinsamkeiten, auch mit Menschen mit rechter politischer Einstellung. Im folgenden werden alle Strategien im Detail besprochen. Diese Strategien sind natürlich nicht ausreichend und vollständig, bilden aber erste Lösungsvorschläge für die vielen Problematiken der Identitätspolitik und der feministischen Bewegungen.
Bild: Lili Elbe from N. Hoyer, ed., Man into Woman. An Authentic Record of a Change of Sex. The true story of the miraculous transformation of the Danish painter Einar Wegener (Andreas Sparre). London: Jarrolds, 1933. Photograph: Lili, Paris, 1926, opp. p. 40.
Strategie 1: Einführung in kritische Reformulierungen des menschenrechtlichen Universalismus (Teil 1)
Imke Leicht
zur Autorin:
- Leiterin des Büros für Gender und Diversity der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg (FAU) Erlangen-Nürnberg seit 2016
- Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Human Rights Erlangen-Nürnberg (CHREN)
- Koordinatorin des Masterstudiengangs Human Rights an der Universität Erlangen-Nürnberg
Inhalt der Studie
Imke Leicht hat eine Studie 1) zum menschenrechtlichen Universalismus erstellt. Sie leitet ihre Studie ein, indem sie erklärt, dass Menschenrechte (MR) ein „inhärentes emanzipatorisches Potenzial” beinhalten, da sie den Anspruch besitzen universal gültig zu sein. Weil jedoch manche Gruppen von der Interpretation der Menschenrechte ausgeschlossen werden, und deshalb das emanzipatorische Potenzial nicht greifen kann, untersucht Imke Leicht mit den feministischen, machtkritischen Theorien von Butler, Benhabib und Spivak Ausschlussgründe u. a. das zugrundeliegende Subjekt der Menschenrechte und globale Machtasymmetrien. Am einleitenden Beispiel der mit knapper Mehrheit verabschiedeten Resolution 17/19 über Geschlechteridentität, sexuelle Orientierung und Menschenrechte im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen wird deutlich, dass Uneinigkeit bei Menschenrechten existiert und diese einem stetigen Prozess der Weiterentwicklung, Ausdifferenzierung unterliegen (11). MR besitzen Schutzfunktion und inhärentes emanzipatorisches Potenzial, werden ausdifferenziert und national, regional etabliert und u.a. als Druckmittel für linke, sozial Kämpfe von marginalisierten Gruppen verwendet
Problemstellung und Fragestellung der Studie
- MR problematisch weil, immer wieder Menschen von Menschenrechten ausgeschlossen werden
- MR sind unveräußerlich und universal
Menschenrechtlicher Universalismus (MR U.):
“die Gleichberechtigte Anerkennung der Menschen und ihrer auf individuelle Autonomie und gesellschaftliche Teilhabe gerichteten Rechte.” (Leicht, 2016: 13)
Historischer Hintergrund und Problematiken der MR:
MR sind Reaktion auf Unrechtserfahrungen die weltweit immer wieder stattfinden/fanden und öffentlich gemacht werden/wurden. Daher unterliegt der MR U. und die MR ständiger Weiterentwicklung und globalen Lernprozessen und sind somit niemals abgeschlossen. Das inhärente emanzipatorische Potenzial der MR wurde jedoch nicht immer erfüllt, da das Subjekt der Menschenrechte nur auf bestimmt Lebensrealitäten weiß, männlich, heterosexuell, bürgerlich - zugeschnitten war oder ist. Zudem fanden marginalisierte Gruppen und deren Unrechtserfahrung kein Gehör weshalb die MR für dieses Menschen keine Emanzipatorische Wirkung hatte. Gründe dafür sind, auf nationaler Ebene, dass Staaten Schutz-, Achtungs-, Gewährleistungspflicht nicht nachkamen. Andere Gründe finden sich in der gesellschaftlichen Dimension wieder, da es keine soziale Anerkennung aller Individuen und somit kein Gehör eben dieser gibt. Doch wenn MR nur auf privilegierte, nur auf bestimmte Lebensrealitäten zugeschnitten sind laufen sie Gefahr die oben erwähnten Ausschlüsse zu reproduzieren.
Durch diese Überlegungen ergibt sich für Imke Leicht folgende Forschungsfrage:
Dies ist kein konkretes Absagen an die Menschenrechte, denn der normativen Anspruch des menschenrechtlichen Universalismus wird festgehalten um gesellschaftliche Emanzipationsprozess anzutreiben. In der Studie gibt es zwei wichtige Punkte, die für die Reformierung des Menschenrechtlichen Universalismus wichtig sind:
- Soziale Konstruktion und Position des Subjekts
- Wechselverhältnis zwischen sozialer Anerkennung und Individueller Autonomie → Machtanalytische Berücksichtigung
Feministische Theorien als Rahmen der Studie
Feministische Theorien dienen als Rahmen dieser Studie, da sie stark dazu beitragen Ausschlüsse und MR Interpretation sichtbar zu machen. Sie zeigen wo, wann, wie und welche Frauen aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft ausgeschlossen werden und somit Subjekt- und Autonomie Vorstellungen auf westliche, weiße, bürgerliche, heterosexuelle Männer zugeschnitten sind und deswegen auch die Auslegung der MR inhaltlich und strukturell einer “male bias” und eurozentristischen Sicht unterliegen. Feministische Erfolge im MR gab es bereits 1993 mit der Verabschiedung der Frauenrechtskonvention und der Anerkennung von geschlechtsbezogener Gewalt (UN-Deklaration). Feministische Theorien beschreiben unter anderem das Problem, welches die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre beinhaltet. Diese Trennung richtet sich gegen Frauen, da diese die private Sphäre mehr dominieren, wo sie häufig weniger Rechte erfahren und welche außerdem eine besondere Bedeutung von Postkolonialismus und dessen Machtstrukturen hat.
Fem. Theorie und MR Theorie im Spannungsfeld: Neben feministischer Kritik kommt Kritik bezüglich der MR auch von Feldern wie Antirassismus, Marxismus, Postkolonialismus, Disability Studies. Doch feministische Kämpfe sind besonders, da sie viele Punkte vereinen und kritisch die komplexen und intersektionalen Machtverhältnisse aufzeigen. Als gemeinsames Ziel gibt es die gesamtgesellschaftliche Emanzipation (19).
Die Reform vom normativen Anspruch des MR U.hat drei, zum Teil grundlegend verschiedene, feministisch-kritische Theorieansätze als Diskussionsausgangspunkte:
- Seyla Benhabibs' Universalistische Moraltheorie (Interview mit S. Benhabib über dieses Thema im 'der Freitag')
- Judith Butlers' post-strukturalistische Theorie
- Gayatri C. Spivaks' postkoloniale Theorie
Praktische Relevanz kritischer Reformulierungen des menschenrechtlichen Universalismus (Teil 2)
Quelle für Teil 2: 2)
Die Begründbarkeit universaler Normansprüche
Grundannahme: Menschen als gleichberechtigte Verantwortungs- und Rechtssubjekte, begründet im Menschsein. Dafür braucht es normative Grundsätze die Menschen anerkennt und deren Rechte gewährleistet (Leicht: 166).
Der universelle Anspruch kommt dann zum Tragen, wenn der im Kontext von unterschiedlichen Lebensrealitäten und Kontextualisierung und sozialen Bedingungen gesehen wird. Benhabibs kontextsensibele diskursethische Verfahren der Universalisierung hilft bei der Orientierung.
Besonderheit der Menschenrechte: sie sind allgemein gehalten und jeweils im Kontext zu konkretisieren. Sie sind für die unterschiedlichen Lebenslagen anzuwenden, Beispiel: LGBTI* sind besonders von Menschenrechtsverletzung betroffen, deshalb ist das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung besonders auf diese Gruppe anzuwenden.
Universelle Normensansprüche sind nicht immer auch die Realität → falls Ausschlüsse vorhanden sind, können sie mit universellen Normansprüchen als Grundlage verändert werden (167)
Subjekt und Autonomie
Subjekt
- Als Begriff im Zentrum menschenrechtlicher Ansprüche → erst in der sozialer Welt bildet das Subjekt Subjektivität, Identität und Fähigkeiten aus
- Subjekt ist körperhaft und sozial eingebettet und entwickelt nur in der sozialen Welt ein Verhältnis zu sich selbst und anderen Subjekten. Subjekt ist keine abgeschlosse, vorbestimmbare Einheit, sondern veränderbar (168).
- Butler beschreibt, dass das Subjekt sich durch die soziale Anerkennung entwickelt und im Rahmen gesellschaftlicher Normen → erst durch soziale Anerkennung kann sich Autonomie, selbstbestimmte Entfaltung, Persönlichkeit und Lebensführung entwickeln.
Daraus ergibt sich die folgende Frage: Werden gleichberechtigte Anerkennung und Autonomie der Subjekte durch gesellschaftliche Machtverhältnisse und soziale Normensgefüge die in dem menschenrechtlichen Universalismus verankert sind verhindert oder eingeschränkt (168)?
Autonomie
- als Kernelement des Subjekts verstanden
- in der Autonomie sind Bedürfnisse, individuelle Identität etc. ausgedrückt
- befähigt zum selbst reflexiven Urteilen und zur Verantwortung, Voraussetzung für Kritik und Handlungsfähigkeit
- Anerkennung der individuellen Autonomie → zentraler Stellenwert in MR U., um als Rechts- und Verantwortungssubjekt gesehen werden zu können (Benhabib)
- nur im sozialen Kontext zu sehen, nicht nur auf das sozial losgelöstes Subjekt abzielt
- geht von primären Sozialität des Subjekts aus, beinhaltet laut Butler Verletzlichkeit und Abhängigkeit der Menschen
Kriterien für Autonomie nicht universell festlegbar → da diese wieder zu Ausschlüssen und Marginalisierung führen können
Feministische Kritik am Autonomie Begriff (vgl. Butler):
- die dem Menschen zugesprochene universelle und inhärente Autonomie beruht auf einem weißem, männlichen, bürgerlichen Subjekt
- männliche Sicht: begründet auf Rationalität und Vernunft und je autonomer desto sozial unabhängiger, dadurch werden emotionale und kollektive Lebensführung abgewertet
Individuelle Autonomie und soziale Abhängigkeit verbinden sich in der Verantwortung des Subjekts für sich und andere.
Beispiel Behindertenrechtskonvention ( BRK )
Die amtliche Übersetzung der BRK wurde ohne Mitwirkung von Behinderten durchgeführt, was zu fehlerhafter Wortwahl führte. Daraufhin verfasste NETZWERK ARTIKEL 3 e.V. 2009 eine Schattenübersetzung, um das emanzipatorisches und gesamtgesellschaftliches Potenzial der BRK nicht zu gefährden. Sie änderten einzelne Wörter, wodurch die BRK konkretisiert wurde und wodurch das allgemeine Menschenrechtsverständnis weiterentwickelt wurde(171). Die BRK ist eine Reaktion auf die weltweite Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Die Missachtung und Diskriminierung kann die Ausbildung der individuelle Autonomie hindern, sodass die Fähigkeit auf Selbstbestimmung verloren geht. Die BRK ist deshalb so wichtig, da es die Autonomie in den Mittelpunkt stellt (172). Das Recht auf Selbstbestimmung und die Autonomie des Subjekts liegen nicht immer im Konflikt. Beispielsweise fördert technische Assistenz das Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (Sigrid Graumann: Konzept „assistierter Freiheit") Die BRK zeigt, dass die Bedingung zur Selbstbestimmung und Autonomie nicht automatisch gegebenn ist. Sie ist als Entwicklung zu begreifen und Abhängig von sozialer Anerkennung durch sich selbst und andere. Weitere Aufgaben und Ziele sind es gesellschaftliche Barrieren abzubauen, um Anerkennung der individuellen Autonomie und das Recht auf Selbstbestimmung zu ermöglichen. Der Abbau muss politisch-rechtlich verankert werden und um dahin zu kommen müssen Mechanismen, Auswirkungen und Ausschlüsse der Machtasymmetrien hinterfragt und analysiert werden (173).
Machtkritik (angelehnt an Judith Butler)
Definition von Macht: „die Ermächtigung zur individuellen und zur kollektiven Autonomie und Handlungsfähigkeit“ (174)
Für den Zugang zu sozioökonomischen Ressourcen und zu einer selbstbestimmten Lebensart brauchen Menschen Macht. Wenn Menschen wenig Macht haben, entspricht ihr gesellschaftliches Subjekt häufig nicht den anerkannten sozialen Normen. Zudem ist Macht asymmetrisch, dh. sie ist ungleich verteilt. Butler ist für eine Machtkritik, welche bereits am normativen Ordnungssystem anknüpft (174), und nicht lediglich an bereits vorhandenen Normen. Dies bedeutet, dass beispielsweise bereits das Ordungssystem Geschlecht existenzielle Kritik erfahren sollte (174/5). Butler unterscheidet zwischen impliziten und expliziten Ausschlüssen von Personen aus der Gesellschaft, wenn ein asymmetrisches Machtverhältnis zugegen ist. Implizite Ausschlüsse sind hier, beispielsweise, die Leugnung oder Nicht-Erwähnung von Lebensrealitäten (470). Explizite Ausschlüsse umfassen häufig direkte Diskriminierung (siehe AGG §3(1) ) oder Stigmatisierung.
Implizite und explizite Ausschlüsse auf Grund von Abweichungen der heteronormativen Geschlechterordung am Beispiel von Inter* und Trans* Personen
Inter*:
- Inter* bedeutet, dass das biologische Geschlecht weder eindeutig dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden kann
- wird teilweise als Störung der sexuellen Entwicklung aufgeführt (471), nicht sehr sichtbar in der Gesellschaft
- es finden operative Eingriffe nach der Geburt statt, um Inter* Personen in ein eindeutig männliches oder weibliches Geschlecht umzuwandeln (471), nicht alle Eingriffe sind notwendig (471) → es findet also eine fremdbestimmte Geschlechtszuweisung statt
- Inter* Personen werden sichtbarer, dies zeigt der Schattenbericht zum 6. Staatenbericht der BRD zur Frauenrechtskonvention von XY-Frauen
- Wahre Anerkennung ist nicht nur schlichte Wahrnehmung von Inter*Personen. Um dies zu erreichen bedarf es, nach Butler, einer „Revision der heteronormativen Geschlechterordnung“ (476).
Trans:
- Trans*Personen identifizieren sich nicht mit dem Geschlecht, dem sie bei Geburt zugeordnet wurden
- Geschlechtsangleichende Operationen und Namensänderungen dürfen nur nach Gutachten von Ärzt*innen vorgenommen werden. Hier sieht man die Pathologisierung von Trans* Personen und, dass das Vorgehen fremdbestimmt und nicht selbstbestimmt ist
- In der Gesellschaft selbst erleiden Trans*Personen Diskriminierungen, da sie häufig „außerhalb der binären heterosexuellen Geschlechtermatrix verortet“ werden (179)
Asymmetrische Subjektpositionen und Repräsentationsmöglichkeiten in einer postkolonialen Welt (angelehnt an Spivak)
Repräsentation ist eine Voraussetzung für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und um als Subjekt in den Menschenrechten vertreten zu sein. Um so mehr die Präsentationsmöglichkeiten und Subjektpositionen asymmetrisch verteilt sind, desto weniger finden marginalisierte Gruppen in der Gesellschaft Gehör. Diese Gruppen können (laut Spivak) nicht für sich sprechen und die Gefahr, dass ihre Anliegen durch machtpolitische Interessen instrumentalisiert wird, besteht. Spivaks postkoloniale Analyse zeigt, dass diese Asymmetrien besonders bei den Unterschieden in Wissensbeständen und Machtverhältnisse zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden liegen (180). Ihr Konzept der Subalternen soll keine Subjektpositionen festigen, sondern die strukturellen, konzeptionellen und sozialen Gründe für Subjektpositionen identifizieren. Es besteht die Gefahr von Instrumentalisierung/Viktimisierung für entrechteten Menschenrechtssubjekten. Die bestehenden Machtasymmetrien verhindern „ein gleichberechtigtes Verhältnis der Menschen”. Privilegierte Subjektpositionen sprechen für Diskriminierte und deren Menschenrechte, dass setzt bei Privilegierten Selbstreflexion und sensibles Zuhören lernen voraus (181). Dennoch haben Privilegierte die besondere Verantwortung für die MR von Marginalisierte solange einzutreten, bis sich die Machtasymmetrien auflösen, denn erst dann können gleichberechtigte und repräsentative Räume entstehen.
Beispiel Menschenrecht für LGBTI und deren sexuelle Orientierung im globalen Süden
Dieses Thema ist in internationale Menschenrechts- und Entwicklungspolitik integriert als SOGI (sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität). Die Entwicklung im globalen Süden ist von den kolonialen und postkolonialen Einflüssen geprägt und damit verbunden. Zum Bespiel wurden Diskriminierung von Homosexuellen durch Gesetze der Kolonialmächte mit in die ehemaligen Kolonien gebracht (182). Noch immer nehmen Menschen aus dem globalen Norden Einfluss auf Gesetzesänderungen und verschärfen so die Diskriminierung in den ehemaligen Kolonien. Ein Bespiel ist Scott Lively, der an den homophoben Gesetzen in Uganda mitgewirkt hat (ein Video über Scott Lively). Deshalb ist insbesondere eine postkolonial kritische Perspektive wichtig, um die Einflussnahme aus dem globalen Norden auf die Diskriminierung von Homosexuellen im globalen Süden zu identifizieren. Ein Strategivorschlag, welcher zum Stoppen der Einflussnahme von Menschen aus dem globalen Norden auf Gesetzesgebungen führen kann, beinhaltet einen machtkritischen und sensiblen Dialog, sowie eine enge Zusammenarbeit mit LGBTI Aktivist*innen vor Ort (da diese Expert*innen für den Kontext sind). Dies soll neben menschenrechtlichen Empowerment auch Perspektiven von LGBTI in die Menschenrechts Praxis einbeziehen, wobei alle gleichermaßen Gehör finden sollen.
Kritische Reformulierungen
Bei den genannten Beispielen handelt es sich um „unabgeschlossene Aushandlungs- und Lernprozesse“. (185)
Wie können unterschiedlichen Reformulierungen und Ansätze konzeptualisiert und theoretisiert werden?
Butler und Benhabib gehen davon aus, dass soziale Normen einen performativen Charakter besitzen, welcher auch für die politische Praxis genutzt werden könnte (186). Die Aushandlungs- und Lernprozesse zwischen verschiedenen Akteur*innen, wie beispielsweise soziale Bewegungen, Zivilgesellschaft, Politik und den gesetzlichen Rahmenbedingungen können mithilfe Benhabibs Konzept demokratischer Iteration beschrieben werden (186). In diesen Aushandlungs- und Lernprozessen, die den Grundsätzen des menschenrechtlichen Universalismus unterliegen, werden Normen und Rechte neu formuliert und konkretisiert. Das Konzept setzt voraus, dass alle Menschen gleichermaßen anerkannt werden. Um gesellschaftliche Teilnahme zu erreichen, ist das Menschenrecht auf politische Mitgliedschaft eine Voraussetzung für Repräsentation, Partizipation, Artikulation und Protest (186). Das Konzept der demokratischen Iteration bietet besonders für Marginalisierte eine Möglichkeit gegen Menschenrechtsverstöße vorzugehen. Dazu passt Butlers Strategie zur Intervention, wobei Marginalisierte die Ausschlüsse in den Menschenrechten öffentlich machen und artikulieren und mithilfe ihren Erfahrungen reformulieren. Nicht alle Versuche sind erfolgreich:
Zwei Beispiele für Iteration im Menschenrechtsdiskurs:
Dies ist zum einen die bereits erwähnte Schattenübersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention des NETZWERK ARTIKEL 3 e. V. Diese ist zwar öffentlich sichtbar und somit erfolgreich, jedoch bis jetzt nicht in die amtliche Fassung übernommen, was zeigt, dass Menschen mit Behinderung diskriminiert werden und noch immer nicht genug Mitspracherecht und Selbstvertretung besitzen. Zum anderen zeigt sich Iteration im Menschenrechtsdiskurses auch im Schattenbericht zu CEDAW von Intersexuelle Menschen e.V./XY-Frauen. In diesem Schattenbericht wurde dem binären Geschlechterverständnis die Kategorie Inter* hinzugefügt. Dadurch hat CEDAW die BRD dazu angestoßen in einen Diskus mit Inter*Personen hinsichtlich ihrer Diskriminierungserfahrungen und Menschenrechtsverletzungen zu gehen. Auch der Deutsche Ethikrat beschäftigte sich daraufhin mit dem Thema Inter*. Dennoch hat sich „die Erweiterung der Kategorie Geschlecht auf Geschlechter jenseits der Zweigeschlechtlichkeit gesellschaftlich wie politisch und rechtlich noch lange nicht durchgesetzt“ (493). Dieses Scheitern liegt an vorliegenden asymmetrischen Machtstrukturen und eines immer noch sehr präsenten heteronormativen Verständnisses von Geschlecht.
Wie kann demokratische Iteration gelingen?
Butler:
- soziale Kategorien sollten nicht abschließend definiert werden, sondern offen bleiben, da noch nicht alle Subjekte gleichermaßen mit eingebunden werden können
- normative Menschenrechte bilden die Grundlage, um Lernprozesse (demokratische Interation) und Offenheit zu gewährleisten
Spivak:
- Abbau postkolonialer Machtstrukturen durch Stärkung des Prinzips „der Verantwortung als solidarischen Prinzip“ (188) im MR
- Verantwortung beschreibt das Wahrnehmen von Menschen in ihrer Einzigartigkeit, ohne sie dabei auszustoßen oder abzugrenzen
- Lernprozesse mit gegenseitigem und gleichberechtigtem Respekt sind dafür von Nöten
Grenzen der Reformulierung des menschenrechtlichen Universalismus
Eine Reformulierung des menschenrechtlichen Universalismus sollte nur dahingehend stattfinden, als dass ihr intrinsisch emanzipatorisches Potential genutzt wird. Partikulare Wertvorstellungen und Lebensentwürfe sollten alle einen Raum finden, in welchem sie gleichermaßen gehört werden, sie sollten jedoch nicht asymmetrisch und überstülpend wirken (189/190). Traditionelle Werte können somit nicht als Ausrede genutzt werden, um Menschenrechte einzudämmen, da Menschenrechte universell und unabhängig von eben solchen Werten sind (191/2). Zudem darf der Geltungsanspruch der Menschenrechte nicht vom individuellen Verhalten abhängen. Er ist einzig an das „Menschsein“ gekoppelt (192).
Strategie 2: Die Umwandlung von Betroffenheiten in einen mimetischen Moment
Charlotte Busch
- promoviert zu politischer Sozialisation an der Goethe Universität Frankfurt
- Vorstandsmitglied der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie
- Mitherausgeberin der Zeitschrift „Psychologie und Gesellschaftskritik“
- sie arbeitet in der Mädchenzuflucht (FEM e.V.)
Mimosen, Mimesis und Mimimi
In ihrem Artikel „Mimosen, Mimesis und Mimimi“3) beschreibt Charlotte Busch, die Bedeutung von übertriebener Betroffenheit und die Lösung der Probleme: Mimesis. Sie erklärt, dass Reflexion eigener Betroffenheiten wichtig sind und die Erkennung des Politischen im Privaten auch, dennoch sollte das aktivistische und das politische nicht untergehen. Dies geschieht teilweise, da Menschen erkennen, wie fehlerhaft die Gesellschaft ist und sich ihrer Einzigartigkeit bewusstwerden und sich dadurch in einer Art Trauer verlieren, in einem Leiden, wobei sie sich nur noch um sich selbst drehen und dieses Beharren auf Differenz als Kritik an der Gesellschaft verstehen. Freud beschrieb dies als den Narzissmus der kleinen Differenzen, „die Angst vor Selbstaufgabe, die zu einer Fetischisierung von Differenz führt“ (35). Es wird kritisiert, dass dadurch lediglich bestehende Herrschaftsstrukturen unterstützt werden. Um einen Ausweg aus diesem 'Mimosenartigen' Verhalten, aus dem ständigen „mimimi“ zu finden, wird Adornos Idee der Mimesis herangeführt.
Mimesis:
- Es gibt eine innere Natur, die Triebe umfasst, und eine zweite von der Gesellschaft geformte Natur
- Diese können nicht voneinander getrennt werden, da auch die innere Natur bereits gesellschaftlich und politisch beeinflusst ist
- Die innere Natur ist durch die Gesellschaft und das Politische geschädigt, dies führt zu großem Leiden (in linken Kreisen)
- Dies bedeutet im Rückschluss, dass Menschen einen mimetischen Moment über diese Betroffenheit finden können. Mimesis bedeutet nichts anderes als anschmiegen.
- Durch Mimesis könnten Menschen aus dem eigenen Selbstaufwerten durch Leiden herauskommen und im Leiden etwas Solidarisches finden.
- Diese Solidarität kann dann politischen Aktivismus wieder möglich machen
Strategie 3: „Zehn-Punkte-Plan"
Autor*innen
Eva Berendsen(Zur Person)
- ist Politikwissenschaftlerin
- leitet nach einem Redaktionsvolontariat bei der FAZ den Bereich Kommunikation der Bildungsstätte Anne Frank
Saba-Nur Cheema (Zur Person)
- geboren 1987
- ist Pädagogische Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main
- sie studierte Politikwissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ist als
- und als Dozentin an der Frankfurt University of Applied Sciences tätig
- Sie entwickelt Angebote zum Umgang mit rechten Ideologien, Diskriminierung und Rassismus, sowie den Themenbereichen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit – auch und insbesondere an Schulen
Dr. Meron Mendel (Zur Person)
- geboren 1976
- ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main
- Er absolvierte ein Bachelorstudium in Geschichte und Erziehungswissenschaften an der Universität Haifa und erwarb den Master im Fach Jüdische Geschichte
- Mendel promovierte im Fach Erziehungswissenschaften zu dem Thema „Lebenswelten von jüdischen Jugendlichen in Deutschland“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
- Er ist Mitbegründer des Anne-Frank-Tages in Frankfurt
Die Strategie
ZEHN PUNKTE FÜR DEN ULTIMATIV RICHTIGEN UMGANG MIT BETROFFENHEITEN, IDENTITÄTEN UND ALLIANZEN 4)
Letzter Abschnitt im Sammelband „TRIGGERWARNUNG - Identitätspolitik zwischen Abwehr, Abschottung und Allianzen“
Zentrale Inhalte der zehn Thesen:
Die zehn Thesen beschreiben, dass die Linke nicht in innerlichen Diskussion noch in eigenen Betroffenheiten versinken soll, sondern wieder größere gesellschaftliche Zusammenhänge in den Mittelpunkt rücken muss. Dafür müssen Linke raus auf die Straße, Debatten führen und wieder attraktive Politik für den Mainstream machen. Betroffenen soll mehr zugehört werden, Aktivist*innen sollten sich gut überlegen ob und wann sie für Betroffene sprechen wollen. Jede Erfahrung ist subjektiv, deshalb stehen Betroffenheitsperspektiven im Plural, aber auch Betroffene können kritisiert werden.
- Vertreter*innen der exzessiven Identitätspolitik würden “sich im Kampf um Sprache und Symbole verausgaben”, und sich deshalb nicht wirklich gegen strukturelle und institutionelle Ungleichheit einsetzten (188). Die Linke trägt Mitschuld am Erstarken der Rechten, da sie sich vorrangig mit Identitätspolitik und Diskriminierungsfreier Sprache, Triggerwarnungen und akademische Kritik am Universalismus beschäftigt und Rechte einfach agieren lässt.
- Diskriminierungserfahrungen können nur von Betroffenen geschildert werden, dabei können ähnlich Betroffene unterschiedliche Perspektiven/Empfindungen und Diskriminierungserfahrungen haben, deshalb müssen Betroffenheitsperspektiven im Plural verwendet werden. Betroffenen muss mehr zugehört werden, ihr Wissen und ihre Belange müssen stärker in die Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft (188).
- Erst nachdenken und sich fragen wem man gegenüber steht, bevor man für Subalterne spricht und dann auf Augenhöhe anderen begegnen (189).
- Marginalisierte Gruppen haben nicht immer Recht und schon gar nicht weil sie marginalisiert sind. Somit sind Betroffenheitsperspektiven nicht die einzige Wahrheit und die Ansichten der Mehrheit können somit auch wichtig sein (189).
- Die Linke sollte inhaltlich nicht ökonomische und soziale Fragen gegen die Kritik an Rassismus, Sexismus und Antisemitismus ausspielen. Im Kampf gegen den neoliberalen Kapitalismus sollte es wieder mehr um die soziale Frage gehen, statt um die symbolische Anerkennung von Minderheiten, wobei manche Marginalisierten auf radikalen Individualismus setzten und so den Neoliberalismus reproduzieren statt strukturelle Diskriminierung zu hinterfragen (189-190).
- Damit Linke glaubhaft vermitteln können das Linke Politik nicht nur für Akademiker*innen sei, müssen Linke es aushalten wenn Diskurs Fremde (bsp. Arbeiter*innen) dieses Themen anders besprechen und dabei vielleicht die Schmerzesgrenzen der diskursinternen Akademiker*innen übertreten (190-191).
- Es geht nicht darum das Leid von verschiedenen Marginalisierten zu bewerten oder zu vergleichen. Identitätspolitik bedeute nicht das Eintreten für Partikularinteressen sondern vielmehr den Kampf um (Individualität im) Pluralismus (191-192).
- Die Linke solle das Internet noch mehr als Öffentlichkeit anerkennen und sich diese zurückholen und nicht kategorisch ablehnen. Derzeit sei die neue Rechte präsenter und besser aufgestellt mit Trollfabriken und Hackeravantgarden. Das bedeutet jedoch nicht dass Aktivismus ausschließlich auf Internetaktivitäten wie Retweets und Likes verlagert werden soll (192).
- Die Rechte bedient sich an linken Konzepten der “Provokation, Subversion und Spassguerilla”. Linke soll sich diese zurückholen und nicht den Rechten überlassen (193).
- Linke sollten feststellen dass von Seiten der Konservativen und Rechten versucht wird die “natürliche” Ordnung zu erhalten, wie bespielsweise die Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter und die traditionelle Familie. Linke sollten sich nicht verstecken, sondern politische Etappensiege für Marginalisierte anerkennen und weiter erkämpfen, auch wenn man sich dabei auch mal auf die Welteinteilung in die Kategorien “gut und böse” einlassen muss (193).
Strategie 4: Rückbesinnung auf Gemeinsamkeiten
Arlie Russell Hochschild
- geboren 1940
- Professorin für Soziologie an der University of California in Berkeley, USA (Emeritus Status)
- Autorin, schrieb unter anderem das Buch „Fremd in ihrem Land“ (2016) (Leseprobe)
- Befasst sich mit Emotionsarbeit (emotional labor)
Fremd in ihrem Land
In ihrem Buch beschreibt und untersucht Hochschild Perspektiven und Beweggründe von Trump Wähler*innen und Tea-Party Anhänger*innen.
Warum hat Arlie Hochschild das Buch geschrieben? 5)
Sie wollte aus ihrer linken politischen Blase ausbrechen, in den Dialog mit Menschen gehen, die eine andere, rechte politische Meinung haben. Ihr Argument ist, dass man niemanden abschreiben soll, sondern empathisch handeln muss, um andere Lebensweisen zu verstehen und Probleme lösen zu können. Für Arlie Hochschild ist Identitätspolitik kontraproduktiv, weil dadurch in den Hintergrund gerückt wird, was uns (die Menschen) miteinander verbindet. Sie kritisiert zudem die linke Rhetorik, da sie abschreckend wirkt. Ihre Hauptaussage ist, dass Menschen sich auf ihre Gemeinsamkeiten rückbesinnen sollen, Empathie zeigen sollen und allen Perspektiven Raum geben sollen, anstatt sich voneinander abzugrenzen. Denn auch mit Trump Wähler*innen konnte sie Gemeinsamkeiten feststellen.
Hier findet ihr ein Interview (auf Englisch) mit A. Hochschild über ihr Buch „Fremd in Ihrem Land“ (Democracy Now).
kursiv: inhaltliche Ergänzungen der Wiki Ersteller*innen (z.B. wenn sich die Gesetzeslage geändert hat).
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Weitere Materialien
Aufsatzband „Triggerwarnung“: Über die Verhältnisse reden – nicht nur über Gefühle! (2019) (Interview-Beitrag von Deutschlandfunk Kultur - Moderation: Christian Rabhansl)
Langer Weg zur sexuellen Selbstbestimmung: Der Schutz von LSBTI durch die Vereinten Nationen (2013) (Artikel von Karsten Schubert)
Zwischen den Geschlechtern: Eine Kritik der Gendernormen (2002) (Artikel in APuZ von Judith Butler)
Linke Identitätspolitik: Partikularinteressen versus soziale Verantwortung? (2019) (Artikelim Deutschlandfunk von Lea Susemichel und Jens Kastner)
Soziologie - Theodor Adorno (2015) (Video von 'The School of Life')