OBJEKTIVITÄT: TRADITIONELLE UND FEMINISTISCHE PERSPEKTIVEN

Zur Aktualität der Objektivitätsdebatte (Stand März 2022):
In Zeiten in denen Kriege mit Desinformation geführt und immer mehr Verschwörungstheorien über das Internet verbreitet werden, wird der Ruf an die Wissenschaft laut, Fake News zu entlarven, objektive und wahre Fakten zu produzieren und im öffentlichen Diskurs damit Stellung zu beziehen.1) 2)
Doch was heißt Objektivität eigentlich? Woher kommt diese Idee und warum entstand sie? Warum ist Objektivität gerade heute so wichtig?
Ist das Ideal der Objektivität erreichbar und welche Auswirkungen hat dieses Ideal in der Wissenschaft? Und was an dem Konzept wird von wem und warum kritisiert?
Mit diesen Fragen wird sich das folgende Wiki beschäftigen.
Zunächst soll der Begriff der Objektivität erklärt und definiert werden, um dann sein Entstehen historisch zu analysieren und einzuordnen.
Im Anschluss möchte ich mit verschiedenen feministischen Denker*innen zeigen, warum Objektivität strukturell mit Geschlechterhierarchien verwoben ist und dann mit Hartmut Rosa erläutern, warum das Streben nach Objektivität symptomatisch für die Entwicklungen in der modernen Wissenschaft verstanden werden kann.
Zum Schluss werde ich dann einige feministische Gegenkonzepte, deren Vorteile, aber auch Kritik an ihnen vorstellen, und dann mein Wiki mit einer Liste möglicher Alternativkonzepte zur Objektivität beenden.

(Klassische) Objektivität - was ist das eigentlich?

Der Begriff der Objektivität lässt sich in zwei verschiedenen Kontexten betrachten und verwenden.
Das wird deutlich, wenn man die im Duden verwendete Definition des Adjektivs „objektiv“ betrachtet. Dort heißt es, dass ‚objektiv‘ zum einen „unabhängig von einem Subjekt und seinem Bewusstsein existierend; tatsächlich“ ( Duden.de , 11.03.22) und zum anderen „nicht von Gefühlen, Vorurteilen bestimmt; sachlich, unvoreingenommen, unparteiisch“ ( Duden.de , 11.03.22) bedeutet.

Erstere Definition lässt sich der ontologischen Auffassung von Objektivität zuordnen, die vor allem in der Philosophie eine große Rolle spielt. Dort wird unter dem Konzept der Objektivität die ontologische Suche nach der ultimativen Struktur von Wirklichkeit verstanden.
Hier lassen sich grob zwei Betrachtungsweisen differenzieren.
Zum einen die des Realismus beziehungsweise des Objektivismus, die von einer real existierenden, objektiven Welt ausgeht. Und zum anderen die Betrachtungsweise des Relativismus, Anti-Objektivismus oder Konstruktivismus, die davon ausgeht, dass die Wirklichkeit nur eine Konstruktion in unserer Wahrnehmung ist und es gar keine objektive Welt gibt.
Ob eine objektive Welt existiert und ob wir diese subjektiv erkennen können ist Gegenstand philosophischer Debatten, der für die soziologische Debatte und dieses Wiki wichtige Objektivitätsbegriff ist ein anderer.

Dieser zweite Kontext lässt sich mit der zweiten Duden-Definition verknüpfen. Hier wird ‚objektiv‘ als gefühlsfrei, nicht von Vorurteilen geleitet, sachlich und unvoreingenommen erklärt. So wird Objektivität heute in der Wissenschaft- und Erkenntnistheorie als Zielsetzung und Maß für die Verbindlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlichen Arbeitens verstanden.
Dieses Verständnis von Objektivität entwickelte sich aber erst mit der Zeit. Der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston unterscheidet zwischen einem aperspektivischen Objektivitätsbegriff, der im Duden beschriebene und heute vorherrschende, und einem mechanistischen Objektivitätsbegriff, der Urteile und Interpretationen von Ergebnissen in der Forschung verbietet (vgl. Ernst 1999: 98f.).

Der in der Wissenschaft heute vorherrschende aperspektivische Objektivitätsbegriff ist auch Teil der drei grundlegenden Gütekriterien empirischer (Sozial-)Forschung: Objektivität, Reliabilität und Validität.

Objektivität in historischer Perspektive

Um zu verstehen warum Objektivität seit der Entstehung des Konzeptes strukturell mit Androzentrismus und Geschlechterhierarchien verwoben ist, muss man sich zunächst anschauen, wie das Ideal der Objektivität in den Wissenschaften entstand und wie es sich über die Zeit entwickelte.

Das Entstehen des aperspektivischen Konzeptes von Objektivität als Ziel (empirischer) Wissenschaft lässt sich historisch und psychokulturell auf zwei Weisen erklären.
Während es im 17. und 18. Jahrhundert noch als Beweis für die Glaubwürdigkeit von Wissenschaftler*innen galt, emphatisch in der ersten Person Singular zu schreiben veränderte sich das im 19. Jahrhundert (vgl. Ernst 1999: 99). Grund für diese Veränderung war das Entstehen wissenschaftlicher Kollegien. Während zuvor wissenschaftliche Erkenntnis meist nur in einem kleinen Kreis geteilt wurde, vergrößerten sich im Zuge der Aufklärung wissenschaftliche Netzwerke auch über nationale und sprachliche Grenzen hinaus (vgl. ebd.: 99f.). Damit wurde die leichte Kommunizierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis zentral. So entwickelte sich „aus der Notwendigkeit eine Tugend“ (ebd.: 100) und die aperspektivische und somit leicht übertragbare Form von Wissen wurde zum Ideal.

Die zweite Erklärung für das Entstehen des Objektivitätsideals war die Verbreitung des cartesianischen Erkenntnismodells.
Dem auf René Descartes zurückzuführenden Erkenntnismodell liegt ein ontologischer Dualismus zwischen Geist und Körper zugrunde. Der Körper beziehungsweise der Leib wird mit allem perspektivischen, allem Bösen und allem Irrtum assoziiert. Ihm gegenüber wird der geläuterte und vom Körper befreiten Geist gestellt, der es schafft wahres, neutrales und aperspektivisches Wissen zu generieren.
Man könnte nun annehmen, dass diese Entwicklung ohne die Konstitution von Macht und Hierarchien von statten ging. Schaut man sich aber an, mit was Körper und Leib beziehungsweise Geist und Seele meist assoziiert sind, wird klar, dass das Ideal der Objektivität in den Wissenschaften seit seiner Entstehung eine systematische Entwertung weiblicher Erkenntnis konstituiert (vgl. ebd.: 111ff.).
Der Geist, die Seele, das Wahre und Reine wurden nämlich meist mit einem männlichen Schöpfergott assoziiert und der Körper, also das Leibliche, das Perspektivische, das Böse und der Irrtum wurden mit einer weiblichen Mutter Erde zusammen gedacht.
So lässt sich die Verbreitung des cartesianischen Erkenntnismodelles als einer der Bausteine in der strukturellen und offensiven Verfolgung und Zerstörung weiblicher Lebens- und Arbeitsbereiche im 16. und 17. Jahrhundert verstehen. Frauen wurden aus Wissen schaffenden, also damals wissenschaftlichen Berufen wie den Heilkünsten oder der Hebammentätigkeit verdrängt und ihr oft über viele Generationen erworbenes Wissen und ihre Erkenntnis als unwissenschaftlich und böse diskreditiert oder zerstört (vgl. Grosfoguel 2013: 85ff.).

Spannend ist, dass beispielsweise René Descatres Lebenszeit (31.03.1596 bis 11.02.1650) mit dem Höhepunkt der Hexenprozesse und -verbrennungen in Europa zusammen fällt. (vgl. Ernst 1999. 112)

Feministische Kritik an Objektivität

Allgemeine Ansätze

Der „klassische“, traditionelle Objektivitätsbegriff, mit seinen impliziten Wahrheits- und Universalismusansprüchen, führt feministischer Wissenschaftskritik zu Folge zu einer Legitimation androzentrischen Wissens, das als „wissenschaftliche Norm als Ausschluss- und Herrschaftsinstrument von Männern gegen Frauen“ (Ernst 1999: 110) verwendet wird und wurde, und damit zu einer (Re-)Produktion vielschichtiger und vielfältiger Diskriminierung von Frauen beiträgt (vgl. ebd.: 104).
Deshalb war und ist der Objektivitätsbegriff und das damit verbundene Konzept ein zentraler Bestandteil feministischer Wissenschaftskritik. Sie verfolgt dabei hauptsächlich zwei Strategien.

Zum einen beteiligen sich feministische Wissenschaftler*innen aktiv an Diskussion über und Kritik an aktueller Forschung in ihrer jeweiligen Disziplin. Dabei wird vor allem Forschung kritisiert, in der Objektivität nicht gegeben ist, da eine „Nichtbeachtung oder Verfälschung des Lebens von Frauen“ (ebd.: 105) stattfindet. Beispiele dafür sind Ruth Hubbard (vgl. Hubbard 1989) und Donna Haraways Auseinandersetzungen mit der Evolutionsbiologie oder Susan Moller Okins (vgl. Okin 1989) Kritik an Michael Walzers Theorie der Gerechtigkeit innerhalb der politischen Philosophie.
Diese Strategie feministischer Kritik führt zu einer Überarbeitung androzentrischer Theorien „innerhalb eines erkenntnistheoretischen Rahmens von Empirismus“ (Ernst 1999: 105) oder zu einer (erneuten) Durchführung feministischer Untersuchungen zu bereits vorhandenen Fragestellungen.

Die zweite Strategie ist die historische Auseinandersetzung mit der Entstehung und Wirkung „des erkenntnistheoretischen Modells objektiven Wissens in den modernen wissenschaftlichen Disziplinen“ (ebd.: 106). Dabei wird untersucht und analysiert wie das heute vorherrschende Objektivitätsverständnis entstand, wie es sich entwickelte und wie es strukturell mit der Unterdrückung von Frauen zusammenhängt. Wichtige (Wissenschafts-) Historikerinnen sind hier Susan Bordo, Lorraine Daston und Nagl-Docekal.

Aus dieser Kritik heraus entwickelten feministische Wissenschaftler*innen erweiterte oder überarbeitete Konzepte der Objektivität. Einige Beispiele feministischer Konzeptionen von Objektivität sind weiter unten zu finden.

Das Objektivitätsideal als Strukturmerkmal der Moderne

Nicht nur „klassisch“ feministische Wissenschaftler*innen kritisieren das Konzept der Objektivität. Auch Soziologen wie Hartmut Rosa betrachten die Arbeitsweisen, methodologischen Grundsätze und Maßstäbe modernen Wissenschaft kritisch.
Hartmut Rosa beschränkt seine Kritik am Objektivitätskonzept der modernen Wissenschaften jedoch nicht nur auf die ideologische Komponente des aperspektivischen Objektivitätsideals, sondern er kritisiert die Objektivitätsbestrebungen als Symptom eines auf Verfügbar- und Beherrschbarmachung ausgerichteten Wissenschaftsbetriebes (vgl. Rosa 2020: 110-114).
Das Bestreben dieser Verfügbarmachung, als kulturelles Korrelat zum strukturellen Formationsmerkmal der dynamischen Stabilisierung (vgl. Reckwitz, Rosa 2021: 185), ist es, den jeweiligen Weltausschnitt und alles in ihm Enthaltene sichtbar und erreichbar zu machen, um ihn dann beherrschen und nutzen zu können (die 4 Momente der Verfügbarkeit (vgl. Rosa 2020: 37)).
Hartmut Rosas Analysen zu Folge spielt die moderne Wissenschaft hier eine entscheidende Rolle. Die Wissenschaft mit ihrem Anspruch an Objektivität versucht die Welt und alles in ihr zu quantifizieren - alles zu sehen und erreichbar zu machen und leistet damit die Vorarbeit, die notwendig ist, um Weltausschnitte später zu beherrschen und zu nutzen.
Unser modernes, aperspektivisches wissenschaftlich-rationalistisches Weltverständnis führt zu „stummen Weltbeziehungen“ (Rosa 2019: 290), in denen wir die Welt als Aggressionspunkt wahrnehmen (vgl. Rosa 2020: 11ff.).
Wenn wir alles quantifizieren, also verfügbar- und beherrschbar machen wollen, dann entfremden wir uns von der Welt und es entstehen von Kälte und Distanz geprägte Macht- und Unterdrückungsstrukturen.
Auch Ramón Grosfoguel beschäftigt sich mit diesem Phänomen, jedoch in historischer Perspektive. Er beschreibt eine systematische Verschiebung der cartesianischen Prämisse „Ich denke, also bin ich“ hin zu „Ich erobere, also bin ich“ (Idee des Kolonialismus), was dann schließlich zu einem „Ich zerstöre, also bin ich“ (Genozide des 16. Jahrhunderts) führte (vgl. Grosfoguel 2013: 77 ).

Resonanz als Ideal in der Wissenschaft

Hartmut Rosas Gegenentwurf zum aperspektivischen wissenschaftlich-rationalistischen Weltverständnis, das das Gegenüber als einen distanzierten, kalten Aggressionspunkt sieht, ist die Idee resonanter Weltbeziehungen (vgl. Rosa 2019). Für wissenschaftliches Arbeiten und wissenschaftliche Erkenntnis, bedeutet das ein Begegnen von Forschenden und Beforschten auf Augenhöhe. Es bedeutet ein sich einlassen, ein offen sein dafür den oder die Andere*n zu affizieren und selbst affiziert zu werden. Im besten Falle führt der Austausch und der Forschungsprozess dann zu einer beide Seiten transformierenden Erkenntnis (vgl. Reckwitz, Rosa 2021: 245). Dieser Prozess lässt sich jedoch nicht erzwingen und nicht sicherstellen. Ihm wohnt immer ein Moment der strukturellen Unverfügbarkeit inne (vgl. ebd.: 245f.).
Um Wissenschaft also post-hierarchisch, ohne Verfügbar- und Beherrschbarmachungsbestrebungen zu denken, braucht es also, auch Hartmut Rosa zu Folge, neue Ziele und Maßstäbe für die Verbindlichkeit der Forschung und des Wissens, außerhalb eines aperspektivischen Objektivitätskonzeptes mit impliziten, universellen Wahrheits- und damit Machtansprüchen (vgl. Rosa 2020: 113f.).

Feministische Objektivitätskonzepte

Beispiele für alternative Objektivitätskonzepte und die ihnen entgegengebrachte Kritik

* Evelyn Fox Kellers „Dynamische Objektivität“

Evelyn Fox Keller entwirft das Konzept der dynamischen Objektivität. Es steht dem Konzept der klassischen, starren Objektivität gegenüber, das Distanziertheit und Herrschafts- und Hierarchieansprüche und -verhältnisse gegenüber dem Forschungsobjekt belohnt (vgl. Keller 1986: 131).
Fox Keller plädiert mit ihrem Konzept der dynamischen Objektivität hingegen für einen Forschungsprozess und eine Form des Wissens, die ermöglichen soll, dass die „unabhängige Integrität“ (Ernst 1999: 119) der zu untersuchenden Gegenstände garantiert wird (vgl. Keller 1986: 122 ff.)
Die Beziehung der oder des Forschenden zu dem oder der Beforschten soll dabei Analog zum Modell der Empathie verstanden werden, bei dem auf die „Gemeinsamkeit von Empfindungen und Erfahrungen“ (Ernst 1999: 119) abgezielt wird (vgl. Keller 1986: 123).
Fox Kellers Konzept der Objektivität ist damit zwar vom strukturellen Androzentrismus des traditionellen Konzeptes befreit, jedoch liegt ihrem Begriff ein objektivierender Anthropozentrismus zu Grunde, der die in der Forschung betrachtete Natur in ihrer „Aktivität oder Dynamik auf sich selbst beschränkt“ (Ernst 1999: 120).

* Helen Longinos Konzept des „Kontextuellen Empirismus“

➞ sie auch dieses Wiki
Helen Longinos Konzept der Objektivität kennzeichnet sich durch Austausch (inter)subjektiver Kritik in einer wissenschaftlichen Community, durch den die „Unabhängigkeit von subjektiven Neigungen, […] als Ziel der Praxis einer Gruppe“ (Ernst 1999: 122) hergestellt werden soll (vgl. Lognino 1990: 76ff.).
Longino hält dabei am Begriff der Objektivität fest, sieht diese jedoch als graduellen Prozess, also als Ideal, dem man sich erst im transformativen Diskurs annähern kann.
Eine Gefahr bei Longinos Konzept, das sie selbst kontextuellen Empirismus nennt, ist die oft vorhandene Homogenität forschender Communities, die dann im Forschungsprozess, trotz konstruktiver Diskurse, dazu beiträgt unsichtbare Grundannahmen unhinterfragt anzunehmen und damit gegebenenfalls Machtstrukturen zu reproduzieren (vgl. Ernst 1999: 125).

* Sandra Hardings „Strong Objectivity“

➞ sie auch dieses Wiki
Die US-amerikanische Philosophin und feministische Wissenschaftskritikerin Sandra Harding entwickelte das Konzept der Starken Objektivität (Strong Objectivity), das das traditionelle Konzept der Objektivität, das schwache Konzept, ersetzten soll. Stark objektive Erkenntnisse erreicht man durch die Einbeziehung und Reflektion des soziokulturellen und historischen Entstehungskontextes, sowie des Forschungsinteresses eben jenes Wissens.
Hardings Konzept der starken Objektivität ist mit einem Konzept der starken Reflexivität (Strong Reflexivity) verknüpft, das den Forschungsprozess als einen selbstkritischen konzeptualisiert. An der Forschung Beteiligte sollten demnach ihr eigene Situiertheit hinterfragen und reflektieren (vgl. Harding 1993: 71). Die starke Reflexivität entsteht vor allem, wenn Beforschte auf die Forschenden „zurückblicken“ (Ernst 1999: 134) und so eine Gegenperspektive zur dominanten Definitionsmacht der Forschenden ermöglichen (vgl. Ernst 1999: 134).
Harding erschafft mit ihrem starken Objektivitätskonzept ein starkes Gegenkonzept zum aperspektivischen, androzentrischen, klassischen Konzept. Ihre Analyse der Machtstrukturen, auf der sie ihr Konzept gründet, ist jedoch in einigen Aspekten sehr reduktionistisch und monokausal gedacht. Deshalb werfen ihr Kritiker*innen eine vereinfachte Darstellung von Marginalisierungsprozessen und hierarchischen Strukturen vor. Harding baut mit ihrem Modell konstitutiv auf die hierarchischen Unterdrückungsstrukturen, die sie versucht abzuschaffen und reproduziert sie damit, durch den wirklichkeitskonstruierenden Charakter der Wissenschaft (vgl. ebd.: 136f.)

* Donna Haraways „Embodied Objectivity“

➞ siehe auch die Wikis zu Donna Haraways Person, ihrer Theorie des situierten Wissens und ein Vergleich ihrer Theorie mit der klassischen Wissenschaftstheorie

Donna Haraways Gegenentwurf zum aperspektivischen Objektivitätsideal ist das eines verkörperten Objektivitätsideales (Embodied Objectivity). Dieses zeichnet sich durch „soziohistorische Gebundenheit wissenschaftlichen Wissens“ (Ernst 1999: 138) aus, das durch die Anerkennung der eigenen Situiertetheit und Konstruiertheit erreicht werden kann. Haraway bringt dabei den Aspekt der sozio-materiellen Situiertheit, also Körperlichkeit, mit in den Diskurs der feministischen Wissenschaftskritik (vgl. ebd.: 140).
Außerdem konzeptualisiert sie den Diskurs wissenschaftlicher Erkenntnis auch über die „Scientific Community“ hinaus und argumentiert damit für „engagierten epistemologischen Partikularismus“ (ebd.: 141).
Wie auch bei Hardings Konzept des starken Objektivismus wird Haraway von Kritiker*innen vorgeworfen sie vernachlässige Hierarchiestrukturen innerhalb der Gruppe der Frauen und baue mit ihrer Theorie konstitutiv auf Unterdrückungsmodelle und Geschlechterhierachien, die sie eigentlich versucht zu überwinden (vgl. ebd.: 142ff.).

* Nagl-Docekals gerechtigkeitsorientiert-argumentative Objektivität (in den Geschichtswissenschaften)

Herta Nagl-Docekals These lautet: Erfassen von Empirie schließt Erfassen von Sinn mit ein und bedeutet nicht nur das Erfassen des sinnlich Wahrnehmbaren.
Für Objektivität im Forschungsprozess bedeutet das laut Nagel-Docekal, dass diese in einem an Gerechtigkeit orientierten Argumentationsprozess entsteht (vgl. Nagl-Docekal 1982: 227ff.). Objektivität entsteht folglich durch Auseinandersetzung des Erkenntnissubjektes mit dem Erkenntnisobjekt, nicht durch Isolierung.
Nagl-Docekals Konzept der Objektivität bezieht sich vor allem auf die Geschichtswissenschaften, in denen es den historischen Erkenntnisprozess als Auseinandersetzung mit Aspekten der Vergangenheit in der Gegenwart versteht (vgl. Ernst 1999: 102ff.). Aber nicht nur für die Geschichtswissenschaften hat ihre Ojektivitätskonzeption einen Mehrwert. Die Auseinandersetzung mit Aspekten der Vergangenheit in der Gegenwart hat Waltraud Ernst zu Folge in allen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften eine große Wichtigkeit (vgl. ebd.: 104).
Nagl-Docekals Konzept umfasst dabei zwar ein emanzipatorisch-idealistisches Moment, sie übersieht damit aber die Relevanz von Geschlechterhierarchien in der Wissenschaft heute und zeichnet ein zu optimistisches Bild (vgl. ebd.: 104).

* Waltraud Ernsts Objektivitätskonzept

Waltraud Ernst verwirft das Ideal der Objektivität mit all seinen impliziten Herrschafts- und Universalismusansprüchen und plädiert für eine epistemologische Orientierung hin zu einem flexiblen Begriff von Wissen, in dem emanzipatorische Prozesse „aus epistemischen und sozialen Geschlechterhierarchien“ (Ernst 1999:149) heraus unterstütz werden sollen.
Für sie ist vor allem die Pluralität bei eben jenen Emanzipationsmodellen und Veränderungsprozessen wichtig. Es soll nicht nur eine Gruppe epistemologisch privilegiert werden, denn das würde Geschlechterhierarchien und Unterdrückungsstrukturen reproduzieren, vielmehr soll „epistemologische Verbindlichkeit“ (ebd.: 149) durch „soziale Realitätswirksamkeit [der] Modelle und Inhalte“ (ebd.: 149) geprüft werden und nicht als abstrakte philosophische Norm angelegt werden.
Eine Veränderung in der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie konzeptionalisiert Ernst deshalb langsam und multilateral und nicht als revolutionären Paradigmenwechsel.

Welche anderen Gütekriterien sind möglich?

Außer den feministischen Objektivitätskonzepten gibt es noch eine Reihe anderer Gütekriterien, die neben oder anstatt der aperspektivischen Objektivität als Maßstab und Ziel für die Verbindlichkeit wissenschaftlichen Arbeitens und wissenschaftlicher Erkenntnis dienen könnten. Hier eine (unvollständige) Liste möglicher Alternativen:
Iterativität, Intersubjektivität, Offenheit, Zweifel, Adäquatheit, Kohärenz, Triangulation, Interdisziplinarität, Reflexion, Situiertheit/ Standpunkttheorien, emanzpipatorischer Anspruch, Dynamik/ flexibles Wissen, resonante Forschungsbeziehungen, niederschwellige Zugänglichkeit,…
Welche dieser Gütekriterien sich eignen, müssen Diskurse innerhalb wissenschaftlicher Communities zeigen. Diese sind genau so wichtig wie Aufklärung und Diskussion, über epistemische Privilegien und andro- und eurozentrisches Wissen, in der breiten Öffentlichkeit. Eine kritische Auseinandersetzung mit und Diskussionen über Objektivität als Gütemaßstab der Wissenschaft können dann zeigen, ob das Konzept bestand hat und wie es verändert und angepasst werden kann und soll.

Quellen

Duden 2022. Definition objektiv, letzter Zugriff: 15.03.22. https://www.duden.de/rechtschreibung/objektiv
Ernst, Waltraud 1999. Diskurspiratinnen. Wie feministische Erkenntnisprozesse die Wirklichkeit verändern, Wien.
Grosfoguel, Ramón 2013. The Structure of Knowledge in Westernized Universities. Epistemic Racism/Sexism and the Four Genocides/Epistemicides of the Long 16th Century. In: Human Architecture: 73–90
Harding, Sandra 1993. Rethinking Standpoint Epistemology: ,,What Is Strong Oijectiviry?„ In: Alcoff, Linda; Elizabeth Potter (Hrsg.): Feminist Epistemologies, New York/London: 49-82.
Hubbard, Ruth 1989 (Original 1979). Hat die Evolution die Frauen übersehen? In: List, Elisabeth, Herlinde Studer (Hrsg.): Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Frankfurt/M. 301- 333
Keller, Evelyn Fox 1986 (Original 1985). Liebe, Macht und Erkenntnis. Männliche oder weibliche Wissenschaft?, München/Wien.
Longino, Helen 1990. Science as Social Knowledge. Values and Objectivity in Scientijic Inquiry, New Jersey.
Nagl-Docekal, Herta 1982. Die Objektivität der Geschichtswissenschaft, Wien.
Okin, Susan Moller 1989. Justice, Gender and the Family, New York.
Reckwitz, Andreas; Hartmut Rosa 2021. Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?, Berlin.
Rosa, Hartmut 2019. Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin.
Rosa, Hartmut 2020. Unverfügbarkeit, Wien - Salzburg.

Verlinkungsverzeichnis

Im WIKI verwendete weiterführende Verlinkungen - in der Reihenfolge, in der sie im Wiki vorkommen:
Informationen der Bundesregierung zu Putins Desinformationskampangen im Ukrainekrieg: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/umgang-mit-desinformation/desinformation-interview-ead-2010706
Festvortrag von Armin Nassehi zur Aufgabe der Wissenschaft und ihrer Rolle und Wahrnehmung im öffentlichen Diskurs: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-09-Tagungsdokumentationen/Nassehi_JV_2017.pdf
Zeitungsartikel zur Wahrnehumg der Wissenschaft und des Objektivitätsideals in der Corona Pandemie: https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/wie-objektiv-ist-die-wissenschaft-100.html
Begriffserklärung „Objektiv“: https://www.duden.de/rechtschreibung/objektiv
Begriffserklärung „Androzentrismus“: https://www.dwds.de/wb/Androzentrismus
Biographische Informationen zu Susan Bordo: https://gws.as.uky.edu/users/bordo
Biographische Informationen zu Lorraine Daston: https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/users/ldaston
Biographische Informationen zu Herta Nagl-Docekal: https://homepage.univie.ac.at/herta.nagl/
Biographische Informationen zu Hartmut Rosa: https://www.soziologie.uni-jena.de/arbeitsbereiche/allgemeine-und-theoretische-soziologie/personen/prof-dr-hartmut-rosa
Link zum Text von Ramón Grosfoguel (2013): https://www.okcir.com/product/journal-article-the-structure-of-knowledge-in-westernized-universities-epistemic-racism-sexism-and-the-four-genocides-epistemicides-of-the-long-16th-century-by-ramon-grosfoguel/?cn-reloaded=1&doing_wp_cron=1647010186.7972400188446044921875
Biographische Informationen zu Evelyn Fox Keller: https://sts-program.mit.edu/people/emeriti-faculty/evelyn-fox-keller/
Biographische Informationen zu Helen Lognino: https://profiles.stanford.edu/helen-longino
Biographische Informationen zu Sandra Harding: https://seis.ucla.edu/faculty-and-research/faculty-directory/sandra-harding
Wiki zur Black Feminist Epistemology und der Notwendigkeit neuer Erkenntnistheorien: https://institut.soziologie.uni-freiburg.de/dokuwiki/doku.php?id=die_notwendigkeit_neuer_erkenntnistheorien_-_ein_beispiel_-_die_black_feminist_epistemology
Biographische Informationen zu Donna Haraway: https://egs.edu/biography/donna-haraway/
Wiki zu Donna Harawy: https://institut.soziologie.uni-freiburg.de/dokuwiki/doku.php?id=lv-wikis-oeffentlich:post17:sitzung_7_haraway_donna
Wiki zu situiertem Wissen: https://institut.soziologie.uni-freiburg.de/dokuwiki/doku.php?id=lv-wikis-oeffentlich:post17:situiertes_wissen
Wiki zu situiertem Wissen und der klassischen Wissenschaft: https://institut.soziologie.uni-freiburg.de/dokuwiki/doku.php?id=situiertes_wissen_-_klassische_wissenschaft_und_feministische_wissenschaftskritik_-_2_perspektiven
Biographische Informationen zu Waltraud Ernst: https://www.jku.at/institut-fuer-frauen-und-geschlechterforschung/ueber-uns/team/ernst/

1)
Interessant zur Wahrnehmung der Rolle der Wissenschaft in der Öffentlichkeit auch: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-09-Tagungsdokumentationen/Nassehi_JV_2017.pdf
2)
Zur Rolle wissenschaftlicher Berichterstattung in Bezug auf Objektivität in der Corona Pandemie: https://www.mdr.de/wissen/mensch-alltag/wie-objektiv-ist-die-wissenschaft-100.html
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